Fahrgastverband

Bundesverdienstorden für Gerhard J. Curth

Am 30. März 2016 erhielt Gerhard Curth, 24 Jahre lang Vorsitzender des Berliner Fahrgastverbands IGEB, heute IGEB-Ehrenmitglied und Präsident des Deutschen Bahnkundenverbands DBV, von Berlins Senator Andreas Geisel das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland überreicht.

In seiner Laudatio führte der Senator aus: „Im Jahr 1973 machte sich ein junger Mann mit Namen Gerhard Curth aus Oberbayern auf nach West-Berlin: Damals durch die Mauer geteilt und vom restlichen Bundesgebiet getrennt wie eine Insel. Wollte der junge Bayer diese Stadt einmal hinter sich lassen und zurück in seine Heimat reisen, so musste er dafür die Transit- und Interzonenzüge der Deutschen Reichsbahn nutzen. Die Zahl der Fahrten war begrenzt, die Züge oft überfüllt. Reisezeit, Reisequalität und die Zustände im Bahntransit generell waren so schlecht, dass sie dem Enkel eines Reichsbahners, der schon in jungen Jahren von der Eisenbahn fasziniert war, unhaltbar schienen. Und er beschloss, sie zu ändern.

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Berlins Senator für Stadtentwicklung und Umwelt überreicht dem IGEB-Ehrenmitglied Gerhard J. Curth (links) am 30. März 2016 die Verleihungsurkunde, auf der zu lesen ist: „In Anerkennung der um Volk und Staat erworbenen besonderen Verdienste verleihe ich Herrn Gerhard Curth, Berlin das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. Berlin, den 15. Dezember 2015. Der Bundespräsident J. Gauck“ Foto: Thomas Billik

1980 gründeten Sie, Herr Gerhard Curth, die „Interessensgemeinschaft Eisenbahn, Nahverkehr und Fahrgastbelange Berlin e.V.“, kurz IGEB, Deutschlands ersten Fahrgastverband […]. Umgehend, intensiv und mit hohem diplomatischem Geschick setzten Sie sich für Verbesserungen im Eisenbahntransitverkehr ein. Über inoffizielle Gespräche mit in West-Berlin tätigen leitenden Reichsbahnern gelang es Ihnen, die Kundenbelange an die entscheidenden Stellen der Reichbahnverwaltung in Ost-Berlin zu lancieren. Die Einführung von Speisewagen, ein schrittweiser Ausbau des D-Zugverkehrs sowie die Einrichtung von mehreren Kundenzentren der Deutschen Reichsbahn (Ost) in Berlin (West) sind auch auf Ihr Wirken hin zurückzuführen.

Das Engagement der IGEB unter Leitung von Herrn Curth beschränkte sich jedoch nicht nur auf den Transitverkehr. Die Verkehrsplanung jener Zeit hatte sich dem Leitbild der autogerechten Stadt verschrieben. Der West-Berliner Senat plante tangentiale Ringstraßen, der Ost-Berliner Magistrat radiale Achsen, und beide Stadthälften behandelten den öffentlichen Nahverkehr, vor allem den Schienenverkehr, eher stiefmütterlich. Sie, Gerhard Curth, glaubten den Verheißungen des angeblich modernen Automobilzeitalters nicht, und Sie bewiesen damit bewundernswerte Weitsicht. Vehement setzten Sie sich für Verbesserungen der S-Bahn in Berlin ein, und das mitten im politischen Hexenkessel der Frontstadt des Kalten Krieges.

Die von der Deutschen Reichsbahn der DDR betriebene S-Bahn war ein Fremdkörper in West-Berlin. Spätestens seit dem S-Bahn Boykott 1961 hatten lange Jahre des Niedergangs eingesetzt. Bewusst auch unterstützt durch planerische Maßnahmen, wie den parallelen Ausbau von Bus- und U-Bahn-Strecken, wurden der S-Bahn die Fahrgäste und damit die Fahrgelder abgezogen. Als Konsequenz investierte die Reichsbahn nicht in das West-Netz, setzte Kosteneinsparungen auch beim Personal durch, nahm Strecken außer Betrieb und ließ den Wagenpark veralten und Anlagen verfallen. Die Situation verschärfte sich mit dem Streik der Reichsbahner in West-Berlin im September 1980 und den nachfolgenden verheerenden Kürzungen im West-Berliner S-Bahn-Verkehr.

Für die gerade gegründete IGEB und für Sie, Herr Curth, stellte diese Situation eine große Herausforderung dar. Es war offensichtlich, dass eine generelle Lösung für den Weiterbetrieb der S-Bahn gefunden werden musste. Politisch jedoch war diese Situation hochbelastet, eine Annährung der Verantwortlichen aus Ost und West schien unmöglich, selbst das Nachdenken über die Rolle und Zukunft der Schienenverkehre, die einstmals Struktur und Bild der Stadt geprägt hatten, schien mit einem Tabu belegt: ein Tabu, dass Sie durchbrachen.

Ihr ganzes persönliches Engagement setzten Sie daran, eine Lösung zu finden. Entgegen der Widerstände und Warnungen aus Ost und West suchten Sie den Dialog mit den alliierten Vertretern, übernahmen die Vorklärung mit dem für Berlin zuständigen sowjetischen Attaché und bewirkten die Gründung der S-Bahn-Kommission durch den damaligen Regierenden Bürgermeister West-Berlins, Hans-Jochen Vogel.

Der Rest ist Geschichte. Im Januar 1984 übernahm die BVG den Betrieb der S-Bahn von der Deutschen Reichsbahn, es folgten die schrittweise Reaktivierung und Sanierung von Strecken und S-Bahnhöfen, neue Züge wurden ab 1986 ausgeliefert. Der Niedergang der S-Bahn war gestoppt, und dies wiederum ist die Voraussetzung dafür gewesen, dass die Schiene nach dem Fall der Mauer und der Verknüpfung der Netze erneut zu einem starken Verkehrsträger in Berlin und der Region geworden ist.

Ihr unermüdlicher Einsatz, Ihr offenes Zugehen auf Entscheidungsträger auf beiden Seiten der Mauer machten Sie allerdings in höchstem Maße „verdächtig“. Für die Machthaber auf beiden Seiten war es wohl unglaublich, dass jemand sich ganz praktisch und lösungsorientiert für die Sache der S-Bahn einsetzen konnte, ohne dabei ideologische Zielstellungen zu verfolgen. Der Westen vermutete kommunistische Umtriebe, der Osten hingegen den Versuch, den real existierenden Sozialismus auszuspionieren, und er reagierte seinerseits mit Spionage. Das Ministerium für Staatssicherheit der DDR ließ Sie über Jahre hinweg beobachten. Nach vier Jahren intensiver „Operativer Personenkontrolle“ musste jedoch selbst die Stasi eingestehen, dass es Ihnen nicht darum ging, Untergrundtätigkeiten gegenüber der DDR nachzugehen, sondern dass Sie sich tatsächlich mit hoher Motivation und viel Kraft ausschließlich für die Belange der Fahrgäste in Ihrer Wahlheimat Berlin einsetzten. […]

Ein wesentlicher Schwerpunkt Ihrer Arbeit hat zudem stets darin bestanden, in der Öffentlichkeit für Transparenz und einen Bewusstseinswandel in Sachen Eisenbahn zu werben. Bereits im Oktober 1980 gründeten Sie die Zeitschrift der IGEB, die „Signal“. Die erste Fahrgastzeitschrift Deutschlands, der Sie bis 2012 als Chefredakteur vorstanden, beeinflusst die Meinungsbildung in Fachkreisen bis heute. In der „Signal“ formuliert die IGEB Kritik und eigene Vorschläge, Hinweise und Informationen, Alltagsgeschehen und strategische Konzepte. Und diese, das kann ich Ihnen als langjähriger Adressat und Leser versichern, werden auch heute von den Akteuren des Berliner Verkehrsgeschehens sehr aufmerksam gelesen.

Wegbegleiter beschreiben Sie, Herrn Curth, als einen offenen Menschen, der auf andere zugeht, sich von Titeln und Funktionen nicht beeindrucken lässt, der die von ihm vertretenden Anliegen mit großem rhetorischem Geschick vorbringt, und der in der Zusammenarbeit auf Kooperation setzt.

In diesem Sinne haben Sie auch die IGEB geprägt, die als ehrenamtlicher und gemeinnütziger Verein hoch professionell agiert und sich damit als Bindeglied zwischen Fahrgästen, Verkehrsunternehmen und der Berliner Verwaltung etabliert hat. Dass der Berliner Fahrgastverband IGEB heute in verschiedenen Gremien beim VBB, der BVG und auch in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt als Teilnehmer am Runden Tisch des StEP Verkehr sitzt, legt darüber Zeugnis ab.

Sehr geehrter Herr Gerhard Curth, ich möchte diese Gelegenheit nutzen, Ihnen für Ihre Verdienste um den Berliner Schienenverkehr auch persönlich zu danken.

Für Ihr großes Engagement in politisch schwierigen Zeiten, für Ihren unermüdlichen Einsatz für die Belange der Fahrgäste, und für Ihre bis heute ungebrochene Begeisterung und uneigennützige Arbeit für die Allgemeinheit und für die Zukunft des Schienenverkehrs verleihe ich Ihnen hiermit den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland.“

Berliner Fahrgastverband IGEB

aus SIGNAL 2/2016 (Mai 2016), Seite 29

 

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