Berlin

Eine Monatskarte für 32 Euro ist kein Sozialticket


Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz

1. Mär 2005

Ihr Schreiben mit dem oben genannten Bezug vom 8. November 2004

[2.12.2004] Sehr geehrter Herr Steger, Frau Senatorin Dr. Knake-Wemer hat den von Ihnen unterschriebenen Brief des „Berliner Arbeitskreis Sozialticket" (nachzulesen in SIGNAL 6/2004 ) gelesen und mich gebeten, Ihnen zu antworten.

Zum kommenden Jahr werden die Verkehrsbetriebe ein neues Tarifangebot für Bezieher und Bezieherinnen von Arbeitslosengeld II, Sozialhilfe, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und Grundsicherung im Alter einführen - die Monatskarte für 32 Euro. Der Preis liegt bei rund der Hälfte das Preises der normalen Umweltkarte und niedriger als das frühere Tarifangebot der Verkehrsbetriebe für Seniorinnen und Senioren.

Der Preis des neuen Sozialtickets beruht auf der begründeten Prognose, daß dieses Tarifangebot sich selbst tragen kann und ohne zusätzliche Zahlungen aus dem Landeshaushalt möglich sein wird. Im Laufe das Jahres 2005 wird eine begleitende Marktforschung ermitteln, wie sich das Nutzer- und Kundenverhalten mit dem Sozialticket entwickelt. Es wird sich zeigen, ob die Annahme eintrifft, daß der halbierte Preis zu einer vermehrten Nachfrage und somit Kostendeckung führt.

Das neue Sozialticket ist im Übrigen nicht vergleichbar mit dem früheren Tarifangebot für sozialhilfeberechtigte Berliner und Berlinerinnen. Nach dem Bundessozialhilfegesetz besteht derzeit ein Rechtsanspruch auf die notwendigen Kosten der Mobilität. Eine Zeit lang wurde dieser Rechtsanspruch durch einen pauschalen Landeszuschuß befriedigt: Bei einem Eigenanteil von 20,40 Euro (Mobilitätsanteil im Regelsatz) wurde bei einem Kauf des Tickets die Differenz bis zur Kostendeckung durch einen Zuschuß des Landes an die BVG gedeckt. Nach der Abschaffung dieses Landeszuschusses werden derzeit die notwendigen Mobilitätskosten nach dem Bundessozialhilfegesetz bei individuellem Nachweis erstattet. Auf jeden Fall erfüllte das Land hier eine bundesgesetzliche Vorschrift und vermied durch die Umstellung den verfassungsrechtlich und verfassungsgerichtlich relevanten Vorwurf, als Haushaltsnotlage-Land mehr zu zahlen als gesetzlich erwartet wird.

Im Gegensatz zum Bundessozialhilfegesetz hat dar Bundesgesetzgeber für das ALG II keinen vergleichbaren Rechtsanspruch auf Mobilität vorgesehen. Damit wird die Rechtsgrundlage für die bisherige Kostenübernahme für erwerbsfähige Soziahilfeberechtigte durch das Land Berlin entfallen. Ein solcher Rechtsanspruch war von der rotgrünen Bundesregierung bereits im Entwurf des Gesetzes nicht gewollt und wurde auch nachträglich nicht von der Bundesrats-Mehrheit hineinverhandelt. Frau Dr. Knake-Wemer hat sich mehrfach für eine bundesgesetzliche Regelung des Mobilitätsanspruches ausgesprochen.

Das Land Berlin ist, nicht zuletzt angesichts der Haushaltsnotlage, nicht in der Lage, einen vollständigen und „freiwilligen" Ausgleich für die bundesgesetzliche Abschaffung des Mobilitätsanspruches im BSHG zu leisten und so als einziges Bundesland die Absichten von SPD und BÜNDNIS 90/GRÜNEN vollständig zu konterkarieren. Das wäre angesichts der Klage in Karlsruhe auch politisch verantwortungslos. Mit dem in den Verhandlungen mit der BVG erreichten Sozialticket beschreitet Berlin einen Weg, der gleichwohl die Gewähr bietet, die Mobilitätsmöglichkeiten von ALG II- und anderen Sozialleistungsbezieherlnnen deutlich zu erhöhen.

Mit dem Tarifangebot der BVG steht Berlin auch im Vergleich mit anderen Städten nicht schlecht da. München bezuschußt monatlich zehn Tageskarten für Sozialhilfeberechtigte und Einkommensschwache mit 50 Prozent; in Leipzig können Rentnerinnen, Sozialhilfeberechtigte und Asylbewerberinnen ein 10-Uhr-Ticket erwerben. In Stuttgart kostet ein Sozialticket derzeit 33,50 Euro und wird mit 15,50 Euro von der Stadt bezuschußt. In Hamburg und Bremen gibt es keine Zuschüsse von Stadt oder Land.

Ihrer Behauptung, eine Sozialkarte für 32 Euro sei kein Ticket, welches den Betroffenen helfe, sich zu bewerben, ihre Kinder in die Kitas zu bringen und sich aktiv am sozialen, kulturellen und politischen Leben zu beteiligen, kann nur entschieden widersprochen werden. Eine Monatskarte zum halben Preis stellt eine deutliche Mobilitätshilfe dar. Für den Preis von 16 Einzelfahrscheinen ist für einen ganzen Monat nahezu unbegrenzte Mobilität mit öffentlichen Verkehrsbetrieben in der Stadt möglich.

Es ist richtig, daß 32 Euro gut zehn Euro mehr sind als in dem bis Jahresende geltenden Regelsatz an Mobilitätskosten enthalten sind. Andererseits machen 32 Euro etwa fünf Prozent des Einkommens aus, welches ein statistisch durchschnittlicher alleinstehender ALG Il-Bezieher ab Januar voraussichtlich erhalten wird (Regelsatz plus Wohnkosten, hier mit 650 Euro angenommen). Ein alleinstehender Geringverdiener mit einem Monatseinkommen von rund 900 Euro wendet etwa acht Prozent seines Einkommens laut Einkommensund Verbrauchstichprobe für Mobilität auf, bzw. würde in Berlin für gleiche Mobilitätsmöglichkeiten über ein Jobticket 5,2 Prozent seines Einkommens aufbringen müssen, für eine Umweltkarte 7,1 Prozent. Das Sozialtikket führt damit, und mehr sollen diese Zahlen nicht belegen, zu keiner übermäßigen Belastung ausgerechnet von Arbeitslosen.

Sowohl hinsichtlich der politischen Verantwortung für die Abschaffung des Mobilitätsanspruches aus dem BSHG im neuen ALG II als auch hinsichtlich der tatsächlichen relativen Belastung kann ich weder Ihrer Argumentation noch Ihrem Urteil, es handele sich bei dem Sozialticket für 32 Euro um den „Bankrott einer Sozialpolitik", folgen.

Ob das neue Sozialticket der Anfang einer neuen Tarifpolitik der Verkehrsbetriebe ist, werden die Erfahrungen des kommenden Jahres zeigen. Auf jeden Fall ist das Sozialtikket eine sozial und politisch verantwortliche Reaktion des rot-roten Senats auf die rot-grüne Umgestaltung und oft auch Kürzung der Einkommen von Langzeitarbeitslosen.

Mit freundlichen Grüßen

Dipl.-Soz. Wiss. Matthias W. Birkwald

Persönlicher Referent der Senatorin

[IGEB] Es ist das gute Recht des SPD/PDS-Senats, auf die äußeren Zwänge durch bundesgesetzliche Regelungen und auf schlechtere Bedingungen für Fahrgäste in anderen Städten hinzuweisen und in diesem Zusammenhang das in Berlin Erreichte als Erfolg darzustellen. Mehr konnte die Sozialsenatorin unter diesen Umständen derzeit vielleicht wirklich nicht herausholen.

Eine Schieflage bekommt das Schreiben allerdings bei der Wertung der Belastbarkeit der Betroffenen. Wenn hier mit Prozenten gearbeitet wird, ist das unseriös und unsensibel. Wenn ein 1300 Euro (netto) verdienender Arbeitnehmer 5 Prozent seines Einkommens für die 64 Euro teure Monatskarte ausgibt, schränkt ihn das viel weniger ein, als wenn ein ALG Il-Bezieher 32 Euro monatlich zahlen muß. Deshalb wäre es glaubwürdiger gewesen zu sagen, wir wissen, daß 32 Euro zu viel sind, konnten aber nicht mehr erreichen.

Zusätzlich verliert die Senatssozialverwaltung an Glaubwürdigkeit, seitdem bekannt ist, daß der Preis von 32 Euro bereits zum 1. August 2005 als Folge der allgemeinen VBB-Tariferhöhung auf 33,50 Euro monatlich angehoben wird. Das ist eine Folge der starren Koppelung „Normaltarif" mal 0,5 ist „ Sozialtarif" Daß es eine solche starre Koppelung gibt, wird weder in dem oben abgedruckten Schreiben gesagt noch war es zum Beispiel den Abgeordneten der SPD/PDS-Koalition bekannt.

Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz

aus SIGNAL 1/2005 (Februar/März 2005), Seite 16