Titelthema 150 Jahre Straßenbahn
Eine forcierte Erweiterung des Berliner Straßenbahnnetzes, und zwar auch in den Westteil der Stadt – dafür hat sich Berlins neuer Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel (SPD) wiederholt ausgesprochen. Nach Strecken, die als erstes gebaut werden könnten, braucht er nicht lange zu suchen. Es genügt, die Neubaupläne aus dem seit der Wiedervereinigung vergangenen Vierteljahrhundert zu betrachten, von denen die meisten noch immer auf ihre Realisierung warten. Eine kleine Chronik.
25. Jun 2015
Einer Studie der West-Berliner BVG und ihres Ost-Berliner Pendants BVB zufolge könnten für 30 Millionen DM zunächst drei Straßenbahnlinien in den Westteil der Stadt verlängert werden: Von der Björnsonstraße durch die Bornholmer und die Osloer Straße bis 1993/94, wobei eine spätere Verlängerung zu den U-Bahnhöfen Seestraße und Amrumer Straße wünschenswert wäre. Über die Bernauer und die Invalidenstraße zum Lehrter Stadtbahnhof (heute Standort des Hauptbahnhofs) bis 1994/95, mit möglicher späterer Verlängerung über Alt-Moabit, Turmstraße und Kaiserin-Augusta-Allee zum Mierendorffplatz. 1995/96 dann von der Warschauer Straße über die Oberbaumbrücke, mit Option der Weiterführung zum Hermannplatz.
Eine Arbeitsgruppe aus BVG und BVB stellt eine mittelfristige Straßenbahnplanung fertig. Selbige sieht unter anderem vor: 1994 die Verlängerung der Strecke von
der Björnsonstraße zum U-Bahnhof Osloer Straße, im Folgejahr weiter zum U-Bahnhof Seestraße. 1996 die Eröffnung einer Strecke via Bernauer und Invalidenstraße zum Lehrter Stadtbahnhof sowie von der Revaler Straße über die Oberbaumbrücke zum Schlesischen Tor.
Die AG Straßenbahn, in der sich verschiedene Fahrgastverbände, Verkehrs- und Umweltinitiativen zusammengeschlossen haben, darunter die IGEB, präsentiert das Straßenbahnkonzept „Tra(u)mstadt Berlin“. Neben der notwendigen Sanierung des bestehenden Netzes sieht es dessen zügigen Ausbau vor: Bis 1995 könnten Neubaustrecken der „1. Dringlichkeitsstufe“ mit einer Gesamtlänge von 30,6 Kilometer in Betrieb gehen, bis 2000 dann weitere 50,7 Kilometer der „2. Dringlichkeitsstufe“. Anschließend sollten vor allem neue Trassen im ehemaligen Westteil der Stadt errichtet werden (siehe SIGNAL 7/1991).
Verkehrssenator Herwig Haase (CDU) stellt sein langerwartetes, bereits überarbeitetes Straßenbahnkonzept vor. Nachdem ursprünglich nur wenige neue Strecken entstehen sollten, ist im „Stadtbahnkonzept“ nun in einer ersten Stufe bis zum Jahr 2000 der Ausbau des Netzes von 176 auf 210 Kilometer Strecke vorgesehen. Dabei geht es um: Müggelheimer Straße (Ersatz für die Strecke in der Grünstraße); Ridbacher Straße von Riesaer bis Rahnsdorfer Straße (Lückenschluss zwischen Hellersdorf und Mahlsdorf); Stubenrauchstraße von Sterndamm bis U-Bahnhof Zwickauer Damm; Henneckestraße (heute Wuhletalstraße) über Falkenberger Chaussee nach Falkenberg; Ostseestraße (Ersatz für Langhansstraße); Sonntagstraße (Ersatz für Marktstraße, Anbindung Bahnhof Ostkreuz); von Prenzlauer Tor über Karl-Liebknecht-, Spandauer Straße, Mühlendamm, Gertrauden-, Leipziger und Bellevuestraße bis Kulturforum; Bornholmer und Osloer Straße bis U-Bahnhof Seestraße; Bernauer Straße über Invalidenstraße und Lehrter Stadtbahnhof zum U-Bahnhof Turmstraße; Spandauer Straße und Hackescher Markt; von Mollstraße über Alexanderplatz und Karl-Liebknecht-Straße auf ungeklärten Wegen bis Lehrter Stadtbahnhof; Revaler Straße bis S-Bahnhof Warschauer Straße (auf gesonderter Brücke über den Bahngraben, über den hinweg zugleich der U-Bahnhof verschoben werden soll); von der Leninallee (heute Landsberger Allee) über Friedrichsberger, Lebuser, Andreas-, Köpenicker, Neue und Alte Jakob- sowie Seydelstraße bis Spittelmarkt, von dort über Lindenstraße (heute teilweise Axel-Springer-Straße) bis Hallesches Tor; Potsdamer Platz bis Lehrter Stadtbahnhof (ungeklärte Führung). Die von der BVG in ihrem Konzept darüber hinaus gewünschte Weiterführung der Strecke vom Bahnhof Warschauer Straße über die Oberbaumbrücke wird ebenso abgelehnt wie eine Verlängerung durch die Friedrichstraße, aus der die Straßenbahn nach Vorstellung des Verkehrssenators bereits 1992 vollständig verschwinden soll. In der Zeit nach 2000 soll dann auch im ehemaligen Westteil der Stadt wieder ein vermaschtes Netz entstehen, mit Strecken vom U-Bahnhof Seestraße in Richtung Moabit, vom Kulturforum in die Zoo-Gegend, vom Potsdamer Platz nach Schöneberg, vom Halleschen Tor nach Tempelhof (Umnutzung des Flughafengeländes), von der Köpenicker Straße in Mitte nach Treptow und Neukölln, von Adlershof nach Rudow, ins Allende-Viertel, von Weißensee über Pankow und Reinickendorf nach Tegel und, zur Erschließung von Neubaugebieten, von Nordend nach Blankenfelde und von Buchholz nach Blankenburg. Die Parallelführung zur U 2 in der Schönhauser Allee und der Berliner Straße soll aufgegeben werden, die Pankower Strecken will man über Heinersdorf anschließen.
Letzter Betriebstag der Strecke vom S-Bahnhof Adlershof nach Altglienicke.
Gegen Ende des Monats beschließt der Senat endlich offiziell ein Straßenbahnkonzept. Es handelt sich um die zehnte Überarbeitung des Papiers seit November 1991. Bei dieser Gelegenheit wird bekannt, dass zwar zahlreiche Ankündigungen gemacht worden sind, aber noch für keine einzige Neubaustrecke ein Planfeststellungsverfahren eingeleitet worden ist.
Letzter Betriebstag der Strecke in der Hauptstraße zwischen Karlshorster Straße und Kynaststraße in Rummelsburg.
Exakt fünf Jahre nach dem Mauerfall wird die teils restaurierte, teils wiederaufgebaute Oberbaumbrücke für den Kraftfahrzeugund Fußgängerverkehr offiziell freigegeben. Auf ihr sind bereits Rillenschienen für eine künftige Straßenbahnstrecke Richtung Hermannplatz verlegt worden.
Eröffnung der Strecke Björnsonstraße—Louise-Schroeder-Platz (über die Bösebrücke und durch die Osloer Straße), mit der die Straßenbahn nach über 28 Jahren in den Westteil Berlins zurückkehrt.
Die BVG (Unternehmensbereich Straßenbahn) stellt eine Tramplanung vor, welche sich erheblich von jener des Senats unterscheidet. Während dieser die Straßenbahn zum Potsdamer Platz durch Linden- (heute Axel-Springer-), Zimmer-, Niederkirchner- und Stresemannstraße führen will, beharrt die BVG auf einer gradlinigen Trassierung durch die Leipziger Straße: Auf eigenem Gleiskörper oder, wo dies nicht möglich ist (zwischen Markgrafenstraße und Philharmonie), im Tunnel, als Vorleistung für die seit Jahrzehnten dort geplante U-Bahn. Selbiger soll im Schildvortriebsverfahren in etwa 15 bis 20 Metern Tiefe entstehen, abgesehen von dem mit und über dem Regionalbahnhof bereits gebauten Teilstück am Potsdamer Platz. Ab dem Jahre 2000 sollen über diese Strecke Züge vom Hackeschen Markt zum Magdeburger Platz verkehren.
Die Senatsverwaltung für Bauen, Wohnen und Verkehr gibt unter dem Titel „Berlin in Fahrt“ eine Reklamebroschüre heraus. Dieser zufolge soll das Straßenbahnnetz bis 2004 um 15 Kilometer verlängert werden, und zwar durch die Strecken: Bahnhof Schöneweide—Wissenschaftsstadt—Bahnhof Adlershof (1999), Buchholz, Kirche—Buchholz-West (1999), Müggelschlößchenweg (1999), Mollstraße—Alexanderplatz—Hackescher Markt (1999), Prenzlauer Tor—Alexanderplatz (2000), Eberswalder Straße—Nordbahnhof—Lehrter Bahnhof (2000/2002), Spandauer Straße—Spittelmarkt—Potsdamer Platz—Magdeburger Platz (2002).
Eröffnung der Strecke vom Louise-Schroeder-Platz durch die Seestraße zum Eckernförder Platz (Endstelle Virchow-Klinikum). Auf Grund der großen Nachfrage wird bereits am 3. November eine Linie 24E eingerichtet, die in der morgendlichen Hauptverkehrszeit zwischen Virchow-Klinikum und Björnsonstraße (also ausschließlich auf dem 1995 und 1997 eröffneten Abschnitt) verkehrt.
Wiedereröffnung der seit 1. Juni stillgelegten Schleife Kupfergraben mit neuer, direkter Anbindung des Bahnhofs Friedrichstraße.
Eröffnung der Strecke von der Ecke Mollstraße und Otto-Braun-Straße über den Alexanderplatz, die Karl-Liebknecht- und die Spandauer Straße zum Hackeschen Markt.
In der Leipziger Straße beginnt die Verlegung von Rillenschienen zwischen Mauerstraße und Potsdamer Platz.
Eröffnung der 610 Meter langen Strecke von der Revaler Straße über die Warschauer Brücke zum U-Bahnhof Warschauer Straße. Dort entsteht die seit 1980 erste dauerhafte Straßenbahn-Endhaltestelle in Berlin ohne Wendeschleife. Die Weiterführung Richtung Hermannplatz ist vorgesehen, doch auf unbestimmte Zeit verschoben worden.
Eröffnung der Strecke Französisch-Buchholz, Kirche—Guyotstraße durch das Neubaugebiet Buchholz-West.
Eröffnung der (bis auf weiteres eingleisigen) Strecke in Köpenick in der Müggelheimer Straße zwischen Schloßplatz und Kietzer Straße. Sie ersetzt die Trasse durch die Grünstraße, welche bereits am 6. November stillgelegt wurde.
Da die Pläne zum Ausbau des Straßenbahnnetzes nicht realisiert worden sind, ist ein Fahrzeugüberhang entstanden. Von diesem Tage an werden daher sämtliche 64 Tatra-Beiwagen des Typs B6A2 nicht mehr im Regelbetrieb eingesetzt. Bei Bedarf fahren Triebwagen des Typs T6A2 in Doppeltraktion.
Beim Neubau der Massantebrücke über den Teltowkanal und bei der Errichtung der benachbarten Hermann-Gladenbeck-Brücke über die A 113 wird auch die geplante Verlängerung der Straßenbahn von Johannisthal zum U-Bahnhof Zwickauer Damm in Rudow berücksichtigt.
Der Senat beschließt eine geänderte Planung für den Bau neuer Straßenbahnstrecken: Bis 2006 soll die Linie 20 (heute M 10) über die Bernauer Straße und die Linie 6 (jetzt M 8) aus der Invalidenstraße zum neuen Hauptbahnhof verlängert, dafür die Strecke in der nördlichen Chausseestraße einschließlich der Schleife Schwartzkopffstraße aufgegeben werden. Die Verbindung vom Prenzlauer Tor über den Alexanderplatz („Alex II“) und weiter durch Rathausstraße, Spandauer Straße, Mühlendamm, Gertraudenstraße, Leipziger Straße zum Potsdamer Platz wird auf einen Zeitpunkt nach 2006 verschoben.
Dem senatsoffiziellen Stadtentwicklungsplan Verkehr zufolge sollen 2015 die Strecke durch die Bernauer und die westliche Invalidenstraße bis zum Hauptbahnhof gebaut sein, der Lückenschluss zwischen Hellersdorf und Mahlsdorf, die zweite Alex-Anbindung über die Karl-Liebknecht-Straße sowie die Strecke vom Alex über Rathausstraße, Spandauer Straße, Mühlendamm, Gertrauden- und Leipziger Straße bis ins Kulturforum. Ferner die bessere Anbindung des Bahnhofs Ostkreuz, für die allerdings nicht nur die parallel verlaufende Trasse, sondern auch jene durch die westliche Boxhagener Straße stillgelegt werden soll. Die Einstellung des Verkehrs ist außerdem auf dem Ast nach Niederschönhausen (Nordend) vorgesehen, aber nicht in der nördlichen Chausseestraße und der Schleife Schwartzkopffstraße. „Im Rahmen des oberen Finanzszenarios“, also bei entsprechend günstiger Entwicklung der Haushaltslage, könnten außerdem ein Lückenschluss vom Hauptbahnhof über Alt-Moabit, Turmstraße und Beusselstraße zum Eckernförder Platz und jener zwischen Adlershof und Schöneweide durchgeführt werden, ferner die Streckenverlängerung von Johannisthal zum U-Bahnhof Zwickauer Damm und von der Müggelheimer Straße ins Salvador-Allende-Viertel.
Im Betriebshof Marzahn beginnt die Verschrottung von 15 seit Jahren abgestellten Tatra-Wagen des Typs B6A2.
Eröffnung der Strecke von der Eberswalder durch die Bernauer Straße zum Nordbahnhof, wo sie vorerst stumpf endet, ohne Anschluss an die bestehende Trasse in der Invalidenstraße.
Eröffnung der Strecke vom Prenzlauer Tor durch die Karl-Liebknecht-Straße zum Alexanderplatz. Einstellung des Linienbetriebs in der Alten und Neuen Schönhauser Straße.
Fünf Studenten der TU Berlin veröffentlichen die Machbarkeitsstudie einer Straßenbahnstrecke zwischen Alexanderplatz und Rathaus Steglitz. Es handelt sich um den Endbericht des Projekts „Busersatzverkehr – Eine Straßenbahn für den Südwesten Berlins“, das von August 2007 bis Dezember 2008 lief.
Eröffnung der Strecke in die Wissenschaftsstadt Adlershof, genau zwei Wochen vor der Abgeordnetenhauswahl. Die Trasse führt vom S-Bahnhof Adlershof über die Rudower Chaussee und die Max-Born-Straße zur Karl-Ziegler-Straße.
In ihrem Koalitionsvertrag für die Legislaturperiode 2011–2016 vereinbaren SPD und CDU, die Realisierung folgender neuer Straßenbahnstrecken rechtlich vorzubereiten und „so weit wie möglich in dieser Wahlperiode“ zu beginnen: Alexanderplatz über Mühlendamm, Gertraudenstraße, Leipziger Straße, Potsdamer Platz zum Kulturforum; Hauptbahnhof bis Turmstraße; Adlershof bis Sterndamm/Bahnhof Schöneweide; bessere Anbindung des Bahnhofs Ostkreuz. Die längste der vier Strecken, jene zum Kulturforum, soll allerdings erst „nach Fertigstellung der U-Bahn-Linie 5“ in Angriff genommen werden. Damit ist nicht vor 2021 zu rechnen.
Letzter Betriebstag der Strecke in der Chausseestraße nördlich der Invalidenstraße und der Blockumfahrung durch Schwartzkopff-, Pflug- und Wöhlertstraße. Ursprünglich sollte dieser Abschnitt schon im Mai 2006 stillgelegt werden – zur für diesen Zeitpunkt geplanten Inbetriebnahme der Verbindung zum Hauptbahnhof.
Eröffnung der Strecke von der Chausseestraße durch die Invalidenstraße zum Hauptbahnhof mit anschließender Blockumfahrung durch Alt-Moabit, Emma-Herwegh- und Clara-Jaschke-Straße. Ursprünglich sollte diese Anbindung des neuen Hauptbahnhofs bereits zu dessen offizieller Eröffnung am 26. Mai 2006 erfolgen.
In einem Artikel der Berliner Zeitung wird Stadtentwicklungssenator Geisel zitiert, ab 2020 solle die Straßenbahn vom Hauptbahnhof bis zum U-Bahnhof Turmstraße fahren, und zwar über die Turmstraße. Mit einer weiteren Verlängerung in Richtung Mierendorffplatz sei jedoch nicht vor 2025 zu rechnen. Überhaupt handele es sich bei allen Überlegungen für bisher nicht fest vorgesehene neue Tramstrecken um strategische Überlegungen für die Zeit nach 2025. Mit den derzeit verfolgten Projekten sei die Verwaltung bereits ausgelastet, die Finanzierung weiterer Vorhaben noch unklar. Als Endpunkt der Strecke vom Alexander- zum Potsdamer Platz bevorzugt Geisel den Mittelstreifen der Potsdamer Straße, auf dem 2010 der „Boulevard der Stars“ angelegt wurde (siehe u. a. SIGNAL 5/2010 und 6/2010).
Geplanter Inbetriebnahmetermin der Verbindung zwischen der 2006 eröffneten Strecke von und zur Bernauer Straße und der Invalidenstraße am Nordbahnhof. Damit wird auch der zwischen Nordbahnhof und Chausseestraße befindliche Abschnitt der Invalidenstraße wieder fahrplanmäßig befahren und eine weitere Verbindung Richtung Hauptbahnhof hergestellt.
Jan Gympel
aus SIGNAL 3/2015 (Juli 2015), Seite 10-13