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Die Zersplitterung des europäischen Eisenbahnnetzes
und damit die Schwächung
des nachhaltigen Verkehrsträgers Schiene
ist nicht nur der Abschottung der nationalen
Netze geschuldet, sondern auch einer
Vielzahl technischer Barrieren. Besonders
die Existenz von 25 unterschiedlichen Signal-
und Zugbeeinflussungssystemen in der
EU erschwert und verteuert den grenzüberschreitenden
Schienenverkehr. Während
zum Beispiel in den USA – dem Land der
Highways – 38 Prozent des Güterverkehrs
auf der Schiene abgewickelt werden, sind es
in der EU nur 17 Prozent.
Aus all diesen Gründen hat die EU die
schrittweise Einführung eines gemeinsamen
europäischen Systems beschlossen. Das sogenannte
ERTMS (European Rail Traffic Management
System) soll nicht nur zu einer
Vereinheitlichung führen, sondern auch die
Sicherheit, die Kapazitäten, die Energieeffizienz
und den Lärmschutz erhöhen.
Doch trotz dieser eindeutigen Vorteile
des neuen europäischen Systems ist dessen
Einführung ins Stocken geraten. Dies liegt
nicht nur an technischen Kinderkrankheiten,
sondern auch am fehlenden politischen Willen.
Aus diesem Grund veranstalteten die EU-Kommission
am 16. April 2012 in Kopenhagen
und die grüne Bundestagsfraktion am 21. Mai
2012 in Berlin Fachgespräche zu ERTMS. Bei
den Debatten mit Experten aus Politik, Industrie
und Wissenschaft wurde deutlich, dass
ERTMS die Zukunft gehört, jedoch noch viele
Probleme bis zum Durchbruch gelöst werden
müssen.
Es ist nicht akzeptabel, dass aufgrund national
unterschiedlicher Betriebsverfahren
verschiedene Versionen von ERTMS existieren,
die untereinander nicht immer kompatibel
sind. Hier müssen nationale Behörden,
Industrie und EU gemeinsam an stabilen und
abwärtskompatiblen Standards arbeiten.
Dies bedeutet auch, dass die von Deutschland
angestrebte Übergangslösung mit speziellen
Interfaces, den sogenannten „Specific
Transmission Modules“ (STMs), keine Lösung
ist, sondern die Zersplitterung und die Zulassungsprobleme
verschlimmert.
Es würde keinen Fortschritt bedeuten,
wenn 25 verschiedene nationale Zugsignalund
Leittechniken durch 25 unterschiedliche
ERTMS-Versionen ersetzt werden würden.
Derzeit existiert in der EU noch keine
einzige Lokomotive, die auf der gesamten
mit ERTMS ausgestatteten Strecke, die insgesamt
ca. 4000 km beträgt, fahren könnte.
Wenn es nicht zu einer Verbesserung dieser
Situation kommt, hätten nicht nur der europäische
Eisenbahnsektor und die Bahnindustrie
versagt, sondern auch die EU-Eisenbahnpolitik.
Wir müssen deshalb sicherstellen, dass die
Mitgliedsstaaten, die Europäische Union, die
Eisenbahnindustrie, die Infrastrukturmanager
und die Betreiber alle in dieselbe Richtung
schieben und ziehen:
- Die Mitgliedsstaaten müssen ihre Verpflichtungen
erfüllen und die Einführung von
ERTMS in ihrer nationalen Eisenbahnpolitik
und in ihren Haushaltsplänen berücksichtigen.
- Die Infrastruktur-Manager müssen über
die Grenzen hinweg zusammenarbeiten
und ERTMS mit Priorität behandeln und als
eine Bereicherung für ihre Schieneninfrastruktur
ansehen.
- Die Eisenbahnunternehmen müssen ihre
Fahrzeuge mit ERTMS ausrüsten und die
von der EU zur Verfügung gestellten Ko-
Finanzierungsmöglichkeiten ausschöpfen.
- Die Bahnindustrie muss, basierend auf verbindlichen
Vereinbarungen und umfassenden
Standards, die Zuverlässigkeit verbessern,
die Interoperabilität gewährleisten
und die Kosten reduzieren.
- Die Mitgliedstaaten und die Bahnindustrie
müssen sich auf die tatsächlichen Kosten
einigen. Beispielsweise brauchen wir faire
und verlässliche Zahlen, was die Aufrüstung
von Korridor A (Rotterdam—Oberhausen—
Mannheim—Basel—Genua)
betrifft: Betragen die zusätzlichen Kosten
für ERTMS rund 100 Millionen Euro, wie die
Industrie angibt, oder rund 1 Milliarde Euro,
wie die deutsche Regierung behauptet?
- Die Befugnisse der Europäischen Eisenbahnagentur
(ERA) müssen erweitert
werden, so dass Versionen und etwaige
Varianten nur von ihr als einziger Instanz
genehmigt werden.
ERTMS ist schon jetzt außerhalb der EU
eine Erfolgsgeschichte: In China, Korea, Taiwan,
Saudi-Arabien, Indien und auch in der
Schweiz gilt es als das System der Zukunft.
Mittlerweile haben es auf der ganzen Welt
bereits 38 Länder implementiert; rund
62 000 Streckenkilometer wurden schon mit
ERTMS ausgerüstet. Für die Bahnindustrie in
Europa und für seine qualitativ hochwertigen
Arbeitsplätze ist das System wichtig.
Zudem kann ERTMS dem bereits jetzt an
vielen Stellen voll ausgelasteten Netz durch
dichtere Zugfolgen helfen, Kapazitätssteigerungen
von bis zu 30 Prozent zu erreichen. Außerdem
sind durch Rückspeisung von Bremsenergie
in das Netz Stromeinsparungen von
25 bis 30 Prozent möglich. Und schließlich
ermöglicht ERTMS ein elektrisches Bremsen,
womit der Einsatz der erheblich leiseren
LL- und K-Sohle ohne höheren Verschleiß
möglich würde, weil die verschleißreichen
Luftdruckbremsen nur noch in Notfallsituationen
benutzt würden. Die Lärmreduzierung
würde etwa 10 db(A) betragen, was einer
gefühlten Senkung des Lärmpegels um etwa
die Hälfte entspricht.
ERTMS nützt somit allen Beteiligten: den
Fahrgästen, den Betreibern, der Umwelt und
den Anwohnern entlang der Bahntrassen.
Meine Vision ist die eines europäischen
Eisenbahnnetzes, das Passagiere und Güter
problemlos von Lissabon nach Tallinn, von
Paris nach Warschau und von London über
Budapest nach Athen befördern kann. Mit
ERTMS wird sie einen gewaltigen Schritt vorwärts
kommen.
Michael Cramer, MdEP
Verkehrspolitischer Sprecher der Fraktion Die Grünen/EFA im Europäischen Parlament
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