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Klage gegen die Tiergartentunnel

Berlin, den 11. Oktober 1995. Ich habe heute vormittag vor dem Bundesverwaltungsgericht Klage erhoben gegen den Planfeststellungsbeschluß, durch den der Bau von insgesamt vier Tunneln im Bereich des Tiergartens in der Mitte Berlins ermöglicht werden soll.

Kläger ist zunächst die Berliner Landesarbeitsgerneinschaft Naturschutz e.V., ein anerkannter Naturschutzverband, in welchem eine Reihe einzelner Verbände, die teilweise ebenfalls anerkannt sind, zusammengefaßt sind (insbesondere Bund für Umwelt- und Naturschutz, Naturschutzbund Deutschland, Schutzgemeinschaft Deutscher Wald, Verkehrsclub Deutschland). Ferner habe ich die Klage für insgesamt vier Anwohner erhoben, die in einer Entfernung von 50 bis 150 m von den überirdischen Verkehrsanlagen (Trassen der Bundesstraße, Fernbahn, S-Bahn) entfernt leben.

Die Klage wurde wie folgt begründet:

  1. Rechtswidrig ist bereits, daß der Planfeststellungsbeschluß durch die Bundesrepublik Deutschland (vertreten durch das Eisenbahnbundesamt) erlassen wurde, während für die Planfeststellung von Autostraßen und das Land Berlin zuständig ist. Diese Zuständigkeitsänderung wurde mit 78 Verwaltungsverfahrensgesetz begründet, wonach eine bestehende Zuständigkeit nur geändert werden kann, wenn "nur eine einheitliche Entscheidung möglich" ist. Es ist nach allen Planungsunterlagen ersichtlich und entspricht auch den offenen Erklärungen der Planer und Politiker, daß insbesondere der Autotunnel und der Eisenbahntunnel zwei getrennte Vorhaben sind, die gesondert voneinander errichtet werden könnten.

    Der eigentliche Grund für die "einheitliche Planfeststellung" durch das Eisenbahnbundesamt liegt darin, daß hierdurch die Klagebefugnis Berliner Naturschutzverbände ausgeschaltet werden soll. Diese Klagebefugnis besteht aufgrund von Landesrecht in Berlin (und in einigen weiteren Bundesländern) gegenüber Maßnahmen der Berliner Behörden, also auch gegenüber Bundesstraßen, U-Bahnen etc. im Land Berlin. Die Zuständigkeit des Eisenbahnbundesamtes für den Straßentunnel stellt den durchsichtigen Versuch dar, diese gesetzliche Klagemöglichkeit zu beseitigen; den Bereich des Tiergartens ist kaum ein anderer klagebefugter Kläger denkbar, da Einzelpersonen hier nicht leben. Daß das Argument des Bundes, eine einheitliche Planfeststellung sei geboten gewesen, nicht zutrifft, wird auch daran deutlich, daß das Planungs- und Anhörungsverfahren praktisch in vollem Umfang durch den Senator für Verkehr und Betriebe des Landes Berlin durchgeführt wurde.

  2. Ein schwerwiegender Rechtsfehler liegt ferner darin, daß der Plan rechtlich und faktisch (teilweise durch sogenannte Linienbestimmungen) durch den Bund selbst festgelegt (und schließlich auch rechtlich planfestgestellt wurde), ohne daß vorher eine Öffentlichkeitsbeteiligung durchgeführt wurde; der Planfeststellungsbeschluß stellt an mehreren Stellen ausdrücklich fest, daß sich der Bund selbst an seine eigenen Festlegungen für gebunden hält.

    Bereits nach deutschem Recht ist zweifelhaft, ob der Ausschluß der Öffentlichkeit von einer Maßnahme mit einer solchen Bindungswirkung zulässig ist; jedenfalls verstößt der Ausschluß der Öffentlichkeit von der Linienbestimmung ersichtlich gegen die Richtlinie der Europäischen Gemeinschaft 85/337, derzufolge vor einer Entscheidung über Schnellstraßen eine umfassende Umweltverträglichkeitsprüfung unter Einschluß der Prüfung von Vorhabensalternativen, des Planerfordernisses etc. durchzuführen ist. Die als "Herzstück der Umweltverträglichkeitsprüfung" bezeichnete Prüfung von Vorhabensalternativen wird durch dieses Gesetz daher ohne Öffentlichkeitsbeteiligung hinter verschlossenen Türen durchgeführt.

    Die Bundesrepublik Deutschland ist in mehreren Verfahren wegen Nichtbeachtung der EG-Richtlinie verurteilt worden. Insbesondere wurde sie durch ein Grundsatzurteil des Europäischen Gerichtshofes vom 9. August 1994 verurteilt wegen verspäteter Transformation der EG-­Richtlinie in das sogenannte Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetz. Die Folge war, daß mehrere Vorhaben in Deutschland rechtswidrig waren und nicht weitergebaut werden konnten (zum Beispiel Eifel-Autobahn).

    Ich habe daher vor dem Bundesverwaltungsgericht den Antrag gestellt, den Rechtsstreit gemäß Art. 177 III des an den Europäischen Gerichtshof zu verweisen. Über die einstweilige Anordnung kann das Bundesverwaltungsgericht nach der ständigen Rechtsprechung trotz dieser Verweisung in der Hauptsache entscheiden.

  3. Der Planfeststellungsbeschluß ist aus weiteren Gründen rechtswidrig. Die durchgeführte Umweltverträglichkeitsprüfung ist unzureichend; sie untersucht nicht in dem vorgeschriebenen fangreichen Verfahren die Auswirkungen auf Mensch und Natur "einschließlich der Wechselwirkung" (wie es das Gesetz vorschreibt).
  4. Darüber hinaus wird in der Klagebegründung gerügt, daß sämtliche Trassen schwerwiegende Lärmauswirkungen auf die Anwohner haben werden. Obwohl es nicht grundsätzlich unzulässig ist, im innerstädtischen Bereich lärrnverursa­chende Verkehrswege zu errichten, schreibt die höchstrichterliche Rechtsprechung zwingend vor, daß genau festgelegte Grenzwerte der Lärmbelastung festgesetzt und gegebenenfalls durch Maßnahmen des aktiven Lärmschutzes auch realisiert werden. Der Planfeststellungsbeschluß enthält keine zwingenden Festsetzungen von Grenzwerten für die Lärrnbelastungen; es werden zwar Grenzwerte festgesetzt, doch wird insbesondere der Bahn freigestellt, diese Grenzwerte nicht einzuhalten und gegebenenfalls eine Änderung des Planfeststellungsbeschlusses zu beantragen.
  5. Rechtswidrig ist der Planfestsutellungsbeschluß deshalb, weil wesentliche Anderungen ohne Offentlichkeitsbetciligung durchgeführt wurden.
  6. Mit der Klage habe ich einen Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung gestellt mit dem Ziel des sofortigen Baustopps. Die Rechtsprechung besagt im wesentlichen, daß geringfügige Baumaßnahmen vor einer Entscheidung über die Klage von einem Kläger hinzunehmen seien, weil im Falle seines Erfolges diese Maßnahmen wieder rückgängig gemacht werden müssen. Angesichts der geplanten Eingriffe in den Tiergarten sowie der außerordentlich hohen Kosten der Tunnelbauten ist aber davon auszugehen, daß ein weiterer Baufortschritt vollendete Tatsachen schafft, die die Kläger nicht hinnehmen müssen.

Dr. Reiner Geulen Rechtsanwalt

aus SIGNAL 7/1995 (November 1995), Seite 9-10

 

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