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| Die Leipziger Straße, jahrzehntelang Berlins wichtigste Einkaufsmeile, an der Ecke Mauerstraße mit dem, was man um 1930 für starken Straßenverkehr hielt. Die deshalb schon seit zirka 1900 geplante U-Bahn durch diese Straße ist allerdings bis heute nicht gebaut worden, und ob die seit 1970 verschwundene Straßenbahn vor 2030 (nach dann 40 Jahren Planung) wiederkommt? Von allen auf dem Bild zu sehenden Gebäuden steht heute nur noch das WMF-Haus links. Sammlung Frank Lammers |
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Selbst unter
Verkehrshistorikern hat sich diese Vorstellung inzwischen
festgesetzt, wie man jüngst zum neunzigsten Geburtstag der
Berliner Verkehrsbetriebe wieder feststellen konnte. Dieses
schiefen Bildes wegen wird gern übersehen, welches für den
Berliner ÖPNV überaus bedeutende Ereignis sich in Kürze bereits
zum hundertsten Male jährt. Und schon gar nicht wird
gefragt, was die damalige Entwicklung – in der die BVG-Gründung
nur ein, wenn auch wichtiger Schritt war – uns für die
heutige Zeit sagen kann.
Vor allem durch die sowjetische Blockade
der Berliner Westsektoren 1948/49 wurde
Ernst Reuter zum legendären Bürgermeister
(West-)Berlins. Doch schon zwanzig Jahre
zuvor hatte er Großes geleistet, nämlich als
Stadtrat für Verkehr: Er kam, sah und gründete die BVG. Wozu er vorher noch schnell
die Unternehmen des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) in Berlin kommunalisiert hatte.
Selbst unter Verkehrshistorikern hat sich
diese Vorstellung inzwischen festgesetzt,
wie man Anfang 2019 zum neunzigsten Geburtstag der Berliner Verkehrsbetriebe, die
ursprünglich Berliner Verkehrs-Aktiengesellschaft hießen, wieder feststellen konnte.
Doch abgesehen davon, dass Vorgänge wie
die Gründung der BVG nur selten das Werk
einer einzigen Person sind – sie vollziehen
sich in aller Regel auch nicht innerhalb eines
kurzen Zeitraums. So war die Schaffung der
BVG fraglos ein wichtiger Schritt, aber eben
auch nur der Höhepunkt einer Entwicklung,
die bis dahin rund dreißig Jahre gebraucht
hatte.
Eine U-Bahn durch die Leipziger Straße
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| Was würde der Neubau des Hochbahnhofs Kottbusser Tor für die Fahrgäste heute bedeuten? Erfahrungsgemäß mindestens ein bis zwei Jahre Schienenersatzverkehr. Vor fast hundert Jahren hielt man dies für unzumutbar und errichtete Behelfsviadukte, auf denen die Hochbahn weiter fahren konnte (Blick über den Platz nach Westen). Abb. aus der BVG/NSAG-Publikation „Zur Eröffnung der IV. Teilstrecke der GN-Bahn Boddinstraße—Leinestraße und des Hochbahnhofs Kottbusser Tor am 4. August 1929“ |
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| Das griffige Kürzel „BVG“ tauchte schon auf, bevor die BVG gegründet wurde und am 1. Januar 1929 ihre Tätigkeit begann: Hier auf dem gemeinsamen Liniennetzplan der stadteigenen Verkehrsunternehmen, deren Vermögenswerte an die neue Gesellschaft übergingen. Die alten Firmen wurden anschließend liquidiert. Sammlung Frank Lammers |
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Bereits Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich
in Berlin die Erkenntnis durchgesetzt, dass
sich die öffentliche Hand stärker im ÖPNV
engagieren müsste als bisher. Der Versuch,
den privaten Verkehrsunternehmen Konkurrenz zu machen, führte aber zunächst nicht
weit – und teils in die Irre: So wollte sich die
Stadt, nachdem sie jahrzehntelang Plänen
für Hoch- und Untergrundbahnstrecken
reserviert bis ablehnend gegenübergestanden hatte,
nun die beiden Hauptverkehrsachsen in der damaligen Berliner Innenstadt
für eigene Tunnel reservieren.
Doch erst 1912 begann der U-Bahn-Bau
durch die Müller-, Chaussee- und Friedrichstraße, und verzögert
durch den Ersten Weltkrieg und seine Folgen konnte die
Strecke erst 1923 eröffnet werden. Noch
schlimmer als bei dieser Nord-Süd- sah es
mit der Ost-West-Achse durch die Leipziger
Straße aus, die damals die bedeutendste Einkaufsmeile Berlins war: Die private
Hochbahngesellschaft musste ihren Tunnel
zwischen Potsdamer und Alexanderplatz
kurvenreich durch Nebenstraßen bauen. Bis
heute schlängelt sich die U 2 hier entlang.
Die seit fast 120 Jahren geplante geradlinige U-Bahn-Verbindung durch die Leipziger
und Gertraudenstraße ist dagegen über
vage Planungen nie hinausgekommen.
Daran,dass sich die Hochbahngesellschaft
ihren Weg vom Potsdamer zum Alexanderplatz über Umwege bahnen musste, war
allerdings auch die Große Berliner Straßenbahn-AG schuld: Auf die Tram entfiel damals
(wie noch bis Mitte des 20.Jahrhunderts) der
Großteil des Fahrgastaufkommens im Berliner ÖPNV, und die „Große Berliner“ war der
mit Abstand wichtigste Betreiber von Straßenbahnlinien.
Straßenbahn ist (meist) noch Privatsache
Als am 1. April 1912 der Verband Groß-Berlin
seine Arbeit aufnahm, betrieben die „Große Berliner“ und
ihre Tochtergesellschaften ein Streckennetz von 350,6 Kilometern
Länge. Insgesamt zählte man im Gebiet des
„Zweckverbands“, dem die Stadtkreise Berlin, Charlottenburg, Schöneberg, Rixdorf/Neukölln,
Deutsch-Wilmersdorf, Lichtenberg und Spandau, die Landkreise Teltow
und Niederbarnim sowie als eigenständige Mitglieder deren Gemeinden Steglitz,
Groß-Lichterfelde, Friedenau, Köpenick,
Boxhagen-Rummelsburg, Pankow, Weißensee und Reinickendorf angehörten, eine
Straßenbahnstreckenlänge von 503,6 Kilometern. Davon waren 383,1 Kilometer in
privater Hand.
Dank des Vertrags, den die „Große Berliner“ über die Nutzung des öffentlichen
Straßenlandes geschlossen hatte, brauchte
sie Konkurrenz eigentlich nur in Straßen zu
dulden, auf denen ihre Linien nicht fuhren.
Dass so, durch ein Tramnetz von heute unvorstellbarer
Dichte, nicht mehr viele Strecken übrig blieben, musste auch die Stadt
Berlin erfahren: Der Versuch, der „Großen
Berliner“ mit einem kommunalen Straßenbahnbetrieb Konkurrenz zu machen, kam
über einige wenige Linien nicht hinaus und
blieb somit im Ansatz stecken.
An eine von vielen Planern und Politikern
erträumte Übernahme der Firma durch
die öffentliche Hand war nicht zu denken:
Abgesehen von der Frage der Finanzierbarkeit – die Aktionäre zeigten kein Interesse an
einem Verkauf.
Zu Hilfe kamen der Politik äußere Umstände: Zwar hatte die „Große Berliner“ erst im
Mai 1918 einen neuen Vertrag abgeschlossen, der ihr die Nutzung der Straßen bis
1949 sicherte. Doch ihr Vertragspartner –
nunmehr der Verband Groß-Berlin, der 1911
nach langen Diskussionen unter anderem
dafür gegründet worden war, den Schienenverkehr
(mit Ausnahme der Staatseisenbahn) zu ordnen und zu entwickeln – hatte
sich dabei umfangreiche Mitspracherechte
bei der Verkehrs- und Tarifgestaltung gesichert.
Tramkauf durch Erpressung
Die wirtschaftlichen und politischen Folgen
der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg hatten die „Große Berliner“ in eine
schwierige Lage gebracht. Die Betriebsmittel waren auf Verschleiß gefahren worden
und entsprechend erneuerungsbedürftig.
Die Novemberrevolution von 1918 hatte
den Beschäftigten auch Lohnerhöhungen
und die Einführung des Acht-Stunden-Tages
beschert. Der Straßenbahnbetrieb drohte
unrentabel zu werden. Damals wurde aber
noch allgemein erwartet, dass ÖPNV sogar
finanziellen Gewinn abwarf.
Zudem begann die Inflationsrate zu wachsen, was auch die
Kapitalrückstellungen entwertete. Tariferhöhungen
hatte der „Zweckverband“ Anfang 1919 aber nur bis zum 31.
März befristet gewährt, und dann noch einmal verlängert biszum 30. Juni 1919.
[Bild]201902_90-jahre_05.jpg|Im Herbst 1928 wurde der Begriff „U-Bahn“ von deren Betreiberin noch nicht verwendet. Wie bei dem Versuch, stattdessen die Bezeichnung „die Untergrund“ populär zu machen, orientierte sich die Hochbahngesellschaft womöglich auch mit der Namensgebung für die Linien am Londoner Vorbild. Die im Bau befindlichen Strecken wurden bis Ende 1930 fast alle fertiggestellt. Der Abschnitt Gesundbrunnen—Christianiastraße (heute Osloer Straße) ging allerdings erst 1977 in Betrieb, die südliche Endstation der Gesundbrunnen-Neukölln-Linie, Hermannstraße,
erst 1996.|Grafik: aus dem BVG-Faltplan vom Oktober 1928|Grafik: aus dem BVG-Faltplan vom Oktober 1928[/Bild]
Eine weitere Verlängerung wurde Anfang
Juni abgelehnt, aber den Aktionären wurde
ein Übernahmeangebot unterbreitet. Offenkundig erschien diesen ihre Lage als aussichtslos, denn innerhalb weniger Wochen
einigten sie sich mit dem Verband GroßBerlin: Am 30. Juni 1919 stimmte dessen
Verbandsversammlung den Übernahmemodalitäten zu – und verlängerte zugleich
die Gültigkeit des erhöhten Tarifs.
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| Wo statt einer Stützenreihe zwei stehen, sollten vom heutigen U 6-Bahnsteig der Station Stadtmitte die Treppen zur U-Bahn durch die Leipziger Straße entstehen. Gebaut wurde die seit zirka 1900 geplante Strecke bis heute nicht. Foto: Jan Gympel |
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Für die bisherigen Aktionäre war der
Verkauf auch insofern attraktiv, als ihnen
die „Große Berliner“ nicht mehr wie gewohnt
eine ordentliche Rendite garantieren konnte. Der „Zweckverband“ aber
zahlte mit Schuldverschreibungen und
garantierte, diese nicht nur zu verzinsen,
sondern schrittweise bis Ende 1949 zu tilgen.
Als Ernst Reuter Kommunist war
Am 15. Juli 1919 wurde der Kaufvertrag zwischen der Großen Berliner Straßenbahn-AG,
zu jener Zeit das größte private Straßenbahnunternehmen Deutschlands, und dem
Verband Groß-Berlin geschlossen. Am 8.
September 1919 gingen Substanz und Betrieb des Unternehmens an die öffentliche
Hand über. Ein Vorgang, der sich also in Kürze zum hundertsten Male jährt und der für
Berlins ÖPNV fast so bedeutend war wie die
Gründung der BVG, für die er eine wesentliche Voraussetzung darstellte.
Ernst Reuter war zu diesem Zeitpunkt
übrigens gerade erst aus Sowjetrussland
zurückgekehrt, wo er im Auftrag der Bolschewikiwesentlich an derNeuorganisation
der Wolgadeutschen mitgewirkt hatte. Nun
nahm er am Gründungskongress der Kommunistischen ParteiDeutschlandsteil, in der
er es biszum Generalsekretär brachte – und
dann ausgeschlossen wurde. Erst 1922 kehrte er zur SPD zurück, der er schon vor dem
Krieg angehört hatte.
Mit der „Großen Berliner“ hatte der Verband
Groß-Berlin zugleich auch einen großen Anteil an der ABOAG erworben, dem
einzigen nennenswerten Betreiber von
Omnibuslinien im damaligen Berlin. Denn
waren sich „Große Berliner“ und
Hochbahngesellschaft auch sonst spinnefeind gewesen: Als ihnen mit der ABOAG Konkurrenz
zu erwachsen drohte, erwarben sie 1913
jeweils ein großes Aktienpaket der Gesellschaft
und beschlossen, den Omnibusverkehr nicht weiter auszubauen.
Berlin wird Groß-
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| Ein modernes Unternehmen betrieb 1929 modernes Marketing und benötigte auch dazu ein Logo oder, wie es damals noch auf gut deutsch hieß, Firmenschild. Ebenfalls dazu gehörte eine Firmenzeitschrift („Die Fahrt“), aus deren erstem Jahrgang 1929 dieser Ausschnitt stammt. Abb.: Archiv Gympel |
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Kurz nach der Novemberrevolution waren
endlich Eingemeindungen in die Reichshauptstadt möglich, die zuvor gegen viele
Widerstände nicht hatten durchgesetzt
werden können: Mit Gesetz vom 27. April
1920 und Wirkung vom 1. Oktober desselben Jahres entstand die Einheitsgemeinde
Groß-Berlin, wie sie im Wesentlichen bis
heute existiert. Sie beerbte den „Zweckverband“, der wenige Jahre zuvor als eine
Minimallösung gegründet worden war,
und übernahm nun auch die kommunalen
Verkehrsbetriebe der bisherigen Vororte,
darunter die Straßenbahnen von Spandau,
Köpenick, Steglitz und Heiligensee. Hinzu
kamen die U-Bahnen von Wilmersdorf und
Schöneberg.
1926 gelang es schließlich, auch die meisten Aktionäre der Hochbahngesellschaft
zum Verkauf an die Stadt zu bewegen. Mit
diesem Geschäft, das im Juli 1926 abgeschlossen wurde, beherrschte Berlin dann
zugleich die ABOAG, wodurch ab diesem
Zeitpunkt nahezu der gesamte Straßenbahn-, U-Bahn- und Busverkehr in der Stadt
in kommunalem Besitz waren.
Der erste Tarifverbund
Erst im Oktober 1926 wurde Ernst Reuter
zum Stadtrat für Verkehr gewählt. Mit der
Kommunalisierung eines Großteils des
Berliner ÖPNV hatte er also so gut wie gar
nichts zu tun. Seine Leistung war, das bis
dahin Erarbeitete zusammenzufügen: In
dem im März 1927 geschlossenen „Interessengemeinschaftsvertrag“ verpflichteten sich die stadteigenen Betriebe von
Straßenbahn, U-Bahn und Omnibus, künftig nicht mehr miteinander zu konkurrieren, sondern eng zusammenzuarbeiten.
Ab dem Inkrafttreten des Vertrags am 15.
März 1927 hatten sie einen gemeinsamen
Tarif (Einzelfahrt 20 Pfennig, Schüler die
Hälfte), der auch erstmals eine allgemeine (allerdings nur einmalige) Umsteigeberechtigung brachte. Erklärtes Ziel
war, dadurch zu einer stärkeren Nutzung
der U-Bahn anzuregen. Ein Umsteigefahrschein von und zum Nahverkehr der
Reichsbahn folgte mit Wirkung vom 1.
Januar 1928. Damit war also, wenn auch
noch kein Verkehrs-, so doch ein Tarifverbund vollzogen. Der nächste Schritt war
dann die Vereinigung der stadteigenen
Verkehrsmittel in der BVG.
Dass dies überhaupt geschah, entsprach
natürlich dem Zeitgeist. Heute, nach jahrzehntelanger Vorherrschaft neo-liberaler
Ideologie, könnte man fragen, weshalb
denn nichtschön Teilnetze oder andere Leistungen ausgeschrieben und überhaupt der
Wettbewerb gefördert wurde. Nur: Wozu
solche Konzepte führen, hatte man ja vor
hundert Jahren gerade erlebt.
Klotzen statt kleckern
Nicht nur, aber auch und gerade in
Deutschland mit seiner obrigkeitsstaatlichen Tradition glaubte man – über viele, teils scharfe
Parteigrenzen hinweg – daran, dass nur
straffe Organisation, Vereinheitlichung und
Lenkung von oben es ermöglichen würden,
die anstehenden Aufgaben zu bewältigen.
Zum Beispiel den ÖPNV einer Metropole
durchzuführen, die damals mit ihren über
vier Millionen Einwohnern und fast 900
Quadratkilometern Ausdehnung eine der
größten Städte der Welt war.
Nicht nur bei den politisch Extremen war
damals die Vorstellung beliebt, verschiedenste Probleme grundsätzlich und in großem Rahmen anzugehen und möglichst
(am besten ein für allemal) zu lösen.
Dementsprechend war es angesagt, statt zu kleckern zu klotzen, „groß“zu denken.
Also wurden Ende 1928, in einem juristisch relativ komplizierten Verfahren, die
stadteigenen Verkehrsunternehmen oder
vielmehr deren Vermögenswerte in die
BVG überführt, die am 1. Januar 1929 ihre
Tätigkeit aufnahm. Aus steuerrechtlichen
Gründen handelte es sich, anders als gern
behauptet, nicht um eine Fusion: Die Unternehmenwurdenliquidiert,die verbliebenen
privaten Anteilseigner von Hochbahngesellschaft und
ABOAG mit städtischen Schuldverschreibungen abgefunden.
„Rationalisierung“ war in den 1920er Jahren
ein Zauberwort, Automatisierung,
Effizienzsteigerung – das allesfand man auch unglaublich modern. Und an Modernität (oder
dem, was man dafür hielt) berauschte man
sich gerade in Berlin. Dazu gehörte, dass
man begann, mit Abkürzungen zu operieren bzw. mit Wörtern, die aus Abkürzungen
entstanden waren.
„Die Untergrund“ fand kein Gefallen
So wurde auch der Begriff „U-Bahn“ im
Laufe der zwanziger Jahre vom Volksmund
kreiert, derweil deren Betreiberin sich noch
eine Zeitlang bemühte, stattdessen – wohl
mit Blick nach London – die Bezeichnung
„die Untergrund“ zu etablieren. Erfolglos,
schließlich war „Untergrund“ eine Silbe
mehr als „U-Bahn“, und mit dem Abkürzungsfimmel
sollte ja auch der Eindruck vermittelt werden, das Leben habe ein so rasantes Tempo angenommen, dass einem die
Zeit fehle, um weiterhin in ganzen Wörtern
oder gar Begriffen wie „Hoch- und Untergrundbahn“ zu sprechen (heute verschafft
man sich die Illusion, ein unglaublich erfülltes Leben zu führen, bekanntlich damit, dass
man überall telefoniert oder glaubt, sogar
noch imLaufen aufsein Smartphone starren
zu müssen).
Angenehmer Nebeneffekt für den Berliner: Wie jeder Jargon haben auch solche
Abkürzungen eine ausschließende Funktion.
Der Provinzler entlarvte sich in den Augen
des Metropolenbewohners automatisch als
(angeblich) rückständig, wenn er mit dem
„Aküfi“ zumindest zunächst nicht zurechtkam, und verschaffte dem Großstädter so
das Gefühl von Überlegenheit.
Wie sehr die Wortschöpfung „U-Bahn“ dem
Zeitgeist entsprach und wie erfolgreich sie
war,zeigt die Tatsache, dass die Reichsbahn ihre Berliner Stadt-, Ring- und Vorortbahn,
die gerade modernisiert wurde (und bis dahin ohne einen griffigen Namen hatte auskommen müssen), ab 1. Dezember 1930 als
„S-Bahn“ bezeichnete.
Dabei handelte essich umeine Marketingmaßnahme, denn die bis Ende der 1920er
Jahre fast ausschließlich mit Dampf betriebene, entsprechend relativ langsame Stadt-,
Ring- und Vorortbahn mit ihren veralteten
und verschlissenen Abteilwagen hatte immer mehr Fahrgäste an die Konkurrenz von
U-Bahn, Straßenbahn und Bus verloren. Hier
war es also nötig, das Image aufzupolieren,
heute würde man sagen „mit einem neuen
Branding“, was dann auch – in Verbindung
mit den neuen elektrischen Zügen – innerhalb weniger Jahre gelang.
„BVG“ als Teil der Propaganda
Ebenso eine Marketingmaßnahme war es,
das neue kommunale Verkehrsunternehmen (das damals das größte der Welt
gewesen sein soll und bis heute das größte in
Deutschland ist) mit einem vielbenutzten
Logo auszustatten (die Vorgängerbetriebe waren ohne so etwas ausgekommen)
und es von Anfang an unter der griffigen
Abkürzung „BVG“ auftreten zu lassen – ein
Vorgehen, das übrigens von der Direktion
ausdrücklich angeordnet wurde, was zeigt,
welche Bedeutung ihmbeigemessenwurde.
Marketing, geschickt gesteuerte Reklame
oder, wie man damals auch (noch wertfrei)
sagte, Propaganda galten als Ausweis von
Modernität und lagen entsprechend im Zeitgeist.
Prompt setzte sich das Kürzel „BVG“ so
schnell in den Köpfen der Berliner fest, dass
man daran festhielt, als am 1. Januar 1938
aus der Berliner Verkehrs-Aktiengesellschaft
die Berliner Verkehrs-Betriebe wurden. Erst
31 Jahre später meinte man in Ost-Berlin die
Abkürzung angleichen zu müssen, womöglich auch in Abgrenzung zur West-Berliner
BVG. Konsequenterweise verschwand mit
der Wiedervereinigung der Verkehrsbetriebe 1992 auch die Bezeichnung „BVB“.
Dass 1937/38 aus der Aktiengesellschaft
ein Eigenbetrieb der Stadt Berlin wurde, lag
in der höheren Politik begründet: Die Nazis
änderten das deutsche Aktienrecht so, dass
die Aktionäre weitgehend entmachtet wurden. Erheblich gestärkt wurde – wohl auch
im Sinne des nationalsozialistischen „Führerprinzips“ – die
Position des Vorstands, der
faktisch nur noch durch den von der Hauptversammlung
gewählten Aufsichtsrat kontrolliert wurde. Auch letzterer durfte nun
aber dem Vorstand in Angelegenheiten der
Geschäftsführung keine Weisungen mehr
erteilen. Die BVG hätte also ein Eigenleben
entwickeln können. Wollte die Stadt Berlin
ihren unmittelbaren und – soweit dies im
nationalsozialistischen Unrechtsstaat möglich war – ausschließlichen Zugriff auf die
BVG bewahren, musste sie deren Rechtsform verändern.
Zwischen Typenchaos und Netzausbau
Ein Jahrzehnt früher hatte man erst einmal
ganz andere Sorgen. Als die BVG 1929 ihre
Arbeit aufnahm, war man bei der Straßenbahn immer noch damit beschäftigt, das
durch die Zusammenführung vieler Trambetriebe
entstandene Typenchaos im Wagenpark zu bewältigen. Die 501 Trieb- und
803 Beiwagen, die man 1924/25 beschafft
hatte (auf Jahrzehnte hinaus sollten sie als
die größte einheitliche Serie gelten, die je
von einem einzigen deutschen Straßenbahnbetrieb in Dienst gestellt worden ist),
waren – den Berliner Verkehrsnöten und der
allgemeinen wirtschaftlichen Lage geschuldet – technisch sehr
einfach gehaltene Fahrzeuge gewesen, mehr praktisch als wirklich
auf der Höhe der Zeit.
Die dreihundert modernen Triebwagen
mit Mitteleinstieg und Schützensteuerung,
die dann ab 1929 ausgeliefert wurden (übrigens die erste Großserie bei der Berliner
Straßenbahn, bei der sich der Führerstand
nicht nur in einer Kabine befand, sondern
auch mit einem Sitz ausgestattetwar), offenbarten rasch technische Probleme vor allem
beim Bremssystem, was immer wieder zu
Unfällen führte.
Außerdem mussten noch immer einige
Strecken von 1000 Millimeter auf die
Normalspurweite von 1435 Millimeter
umgebautwerden – ein Prozess, den man Anfang
1930 abbrach, was zu den ersten Stilllegungen
im bis dahin 634 Kilometer großen Streckennetz
der Berliner Straßenbahn führte
(heute umfasst es rund 193 Kilometer).
Dennoch ging auch die Erweiterung des
Tramnetzesin einemTempo voran, von dem
man heute nicht einmal zu träumen wagt,
das damals aber normal war: So sollen in
der Zeit vom 1. April 1912, als der „Zweckverband“ seine Arbeit aufnahm, bis zum Beginn
des Ersten Weltkriegsim Sommer 1914 rund
87 Kilometer neue Straßenbahnstrecken in
Betrieb gegangen sein. Bis Ende 1916 kamen
noch einmal 13 Kilometer hinzu.
Mehr als 15 neue Tramstrecken
in 6 Jahren
Dann unterbrachen die Auswirkungen des
Krieges die weitere Bautätigkeit für fast ein
Jahrzehnt. Aber Ende Mai 1925, also rund anderthalb
Jahre nach dem Ende der Hyperinflation, wurde die Gleisverbindung zum
Köpenicker Straßenbahnnetz hergestellt
und ging die neue Strecke zum Krankenhaus
Köpenick in Betrieb. Im Sommer 1926 folgte
die Trasse in der Straße Unter den Eichen
von der Drakestraße bis in den Dahlemer
Weg hinein, im April 1927 jene vom Bahnhof
Heerstraße über die Heerstraße bis nach Pichelsdorf (samt einer Schleife zum Stadion),
im September 1927 der Abzweig zum damaligen Abfertigungsgebäude des Flughafens
Tempelhof und rund achtWochen später die
Strecke in der Seestraße zwischen Eckernförder Platz und Amrumer Straße.
1928 wurde die neue nördliche Querverbindung komplettiert mit der Trasse durch
Wisbyer, Bornholmer und die heutigeOsloer
Straße, ferner gingen in Betrieb die Strecken
durch die heutige Indira-Gandhi-Straße und
den Weißenseer Weg, von der Mariendorfer
Rennbahn zum Bahnhof Lichtenrade, von
Altglienicke, Kirche zur Straße Am Falkenberg und von
der Marktstraße in Lichtenberg durch Rummelsburg zum Großkraftwerk Klingenberg.
1929 folgten die Verlängerungen vom
BahnhofWittenau (Nordbahn)zumBahnhof
Waidmannslust, von Friedrichshagen nach
Rahnsdorf (wodurch das Strandbad Müggelsee angebunden wurde)
und in der Königin Luise-Straße vom Arndt-Gymnasium bis zur
heutigen Clayallee. Die Fortsetzung über
diese in Richtung Roseneck wurde erst 1930
erstmals befahren. Im selben Jahr ging auch
noch die Strecke vom Adolf-Scheidt-Platz
zum Attilaplatz in Betrieb. Hinzu kamen in
jenen Jahren einige kurze Verbindungen
bestehender Trassen miteinander oder Trassenverlegungen.
Wo immer möglich, handelte es sich um
modern gestaltete Strecken: eigener Gleiskörper, Kettenfahrleitung. Schließlich sollte
auch bei der Straßenbahn gelten: Tempo,
Tempo! (Der Begriff war so beliebt, dass er
damals für eine Automarke ebenso herhalten musste wie als Titel
für eine Tageszeitung, als Bezeichnung eines Schallplattenlabels
oder als – 1929 eingetragener – Markenname für die seinerzeit neuen Papiertaschentücher.)
Neubaustrecke statt Ersatzverkehr
Schon damals meinte man in Berlin, über
einen enormen Kraftfahrzeugverkehr zu
verfügen, dem Rechnung getragen werden
müsse. Zur Lösung der Verkehrsprobleme
wurden Stadtumbauten projektiert, wobei die Träume
mancher Planer vom weitgehenden Abriss und Neubau der Berliner
Innenstadt erst durch die brutalen Flächenbombardements der Alliierten wahr werden
konnten. Vorerst musste man sich, schon
aus finanziellen Gründen, auf wenige Punkte im Stadtzentrum beschränken, etwa den
Alexanderplatz, der für die U-Bahn ohnehin
zur riesigen Baugrube wurde. Für die zahlreichen Straßenbahnlinien, die ihn querten,
wurde nicht etwa Ersatzverkehr mit Bussen
eingerichtet, und schon gar nicht empfahl
man den Fahrgästen, einfach ein paar hundert Meterzu
laufen,was doch auch sehr gesundwäre,wie es heute zumService der uns
liebenden BVG gehört. Stattdessen errichtete man für die mehrjährige Bauzeit eigens
eine Umleitungsstrecke. Bei der U-Bahn
stand zum Zeitpunkt der BVG-Gründung
noch die Vollendung des ersten Projekts
der Stadt Berlin an: Die von Seestraße kommende Nord-Süd-Bahn (heute Teil der U 6
und der U 7) erreichte erst Ende 1929 den
Ringbahnhof Tempelhof und Ende 1930 mit
ihrem anderen Südzweig den Ringbahnhof
Neukölln sowie die Grenzallee. Ebenfalls
erst 1930 ging der vorerst letzte Abschnitt
der 1913 begonnenen GesundbrunnenNeukölln-Bahn (heute Kernstück der U 8) in
Betrieb; die Station Hermannstraße, die im
Süden Anschluss an die Ringbahn geboten
hätte, blieb aber bis 1996 unvollendet.
Im Kleinprofilnetz erfolgten kleine Maßnahmen zur
Verkehrsverbesserung: Durch die Verlängerung der Charlottenburger Strecke um
eine Station bis Ruhleben konnte man Richtung Spandau wenigstens bis hierher mit der
U-Bahn fahren (und dann in die Straßenbahn
umsteigen), was zugleich die Trasse durch
Westend besser auslastete. Völlig überlastet
war hingegen die nur zweigleisige Kehranlage
auf dem Hochbahnviadukt in der Schönhauser Allee. Die Verlängerung um eine Station
bis zum heutigen Bahnhof Vinetastraße schuf
hier Abhilfe.GleichesgaltfürdieVerlängerung
einiger Stationen,darunter die Hochbahnhöfe
Bülowstraße und Nollendorfplatz. Nun konnten auf der stark frequentierten Verbindung
zwischen Zoo und Alex endlich Acht-WagenZüge eingesetzt werden.
In der heute unvorstellbaren Geschwindigkeit von rund neun Monaten wurde die
Dahlemer Schnellbahn (heute Teil der U 3)
1929 um fast 3,3 Kilometer und drei Stationen bis
Krumme Lanke verlängert, wo außerdem eine Werkstatt entstand.
10 Kilometer U-Bahn in 4 Jahren
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| Die 1929 gebaute Betriebswerkstatt Krumme Lanke wurde 1968 geschlossen. Die seit langem vernachlässigte Wagenhalle musste zwischenzeitlich wegen Baufälligkeit gesperrt werden. Demnächst könnte die BVG sie wieder nutzen. Foto: (2016): Jan Gympel |
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Das einst sprichwörtliche Berliner Tempo
zeigte man auch beim Bau der Linie E (heute U 5), ebenso wie die Nord-Süd- und die
Gesundbrunnen-Neukölln-Bahn noch ein
Projekt aus der Kaiserzeit: Nun wurde (trotz
des harten Winters 1928/29) innerhalb von
knapp vier Jahren die rund zehn Kilometer
lange Strecke vom Alexanderplatz nach
Friedrichsfelde gebaut, dabei das breite
Bahngelände in Lichtenberg unterquert
sowie am Alex die heutige U 2, außerdem
Ring- und Stadtbahn, und in Friedrichsfelde
entstand eine Werkstatt. (An der 2,2 Kilometer langen
Westverlängerung der U 5 zwischen Alexanderplatz und Brandenburger
Tor wird seit 2010 und noch mindestens bis
2020 gebaut.)
Die am 21. Dezember 1930 eröffnete Linie
E sollte als Muster für die nächsten U-BahnBauten dienen: Eine Strecke, die möglichst
geradlinig einem Hauptstraßenzug folgt,
mit nach ein,zwei Standardentwürfen sachlich gestalteten Stationen (heute ist dasletzte erhaltene Beispiel dafür Samariterstraße),
die selbstverständlich ausgelegt waren
für die damals neuesten Wagen. Achtzehn
Meter lang brachten sie es auf eine SechsWagen-Zug-Länge von rund 110 Metern
(weshalb viele Stationen der U 5, aber auch
der U 8 heute als zu lang erscheinen) und
konnten zirka tausend Fahrgäste transportieren. (Für einen Acht-Wagen-Zug
im Kleinprofil errechneteman damals eine Kapazität
von 686 Plätzen.)
Auch diese vielen neuen U-Bahn-Strecken,
die in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre in
Betrieb gingen, werden gern Ernst Reuters
Wirken zugeschrieben. Allerdings hatte es
sich, abgesehen von den „Optimierungen“im
Kleinprofilnetz, vor allem um die Fertigstellung schon
vor dem Ersten Weltkrieg begonnener Projekte gehandelt. Nur die (allerdings
auch schon vor 1914 geplante) Linie E war neu
begonnenworden.
Berlin wird Fünf-Millionen-Stadt?
Damit soll (gerade angesichts des heute
Üblichen) nicht die Leistung kleingeredet
werden, dass innerhalb weniger Jahre Liegengebliebenes
zügig fertiggestellt worden war. Dass man sich aber erst nun an
den eigentlich notwendigen Netzausbau
machen konnte, in großem Maßstab geplant und nicht mehr nach den Interessen
einzelner Unternehmen oder Vororte, sah
offenkundig auch Ernst Reuter so: Im Januar 1929 legten er, der Ingenieur Johannes
Bousset, der seit deren Anfangstagen immer wieder an der Berliner
Hoch- und Untergrundbahn gearbeitet hatte, und Hermann Zangemeister, einer der Direktoren
der frisch gegründeten BVG, eine „Denkschrift über das künftige Berliner Schnellbahnnetz“ vor.
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| Berliner Tempo 2019: Seit Jahren wird an der Straßenbahnstrecke zwischen Adlershof und Schöneweide herumgeplant, Platz für die Gleise beim Neubau des Groß-Berliner Damms berücksichtigt. Doch gebaut wird die Verbindung vermutlich erst, wenn es auch hier autofixierte Anwohner gibt, die über (und gegen) die Tram klagen können. Foto: Jan Gympel |
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In dieser ging man davon aus, dass Berlin bis 1945 weiter deutlich wachsen würde,
pro Jahr um 50 000 bis 55 000 Menschen.
Somit würde sich die Einwohnerzahl von
4,21 Millionen im Jahre 1927 über 4,63 Millionen 1935 bis auf 5,18 Millionen anno 1945
erhöhen (aktuell sind es zirka 3,7 Millionen,
die höchste Einwohnerzahl seit dem ZweitenWeltkrieg).Die Zahl der ÖPNV-Fahrgäste
sei von 1,6 Milliarden 1927 auf 1,8 Milliarden
im Folgejahr gewachsen. Für 1930 rechnete
man mit 2,0 Milliarden, für 1945 mit 2,85 Milliarden (Umsteiger mehrfach gezählt).
Wie in der Denkschrift zu lesen ist, meinten die Verantwortlichen zudem, durch die
BVG-Gründung viel Geld sparen zu können –
Stichwort Rationalisierung –, und dass diese
„durch den Zusammenschluß und die Tarifreform verfügbar
werdenden Mittel zum beschleunigten Ausbau des Berliner Verkehrsnetzes verwandt werden sollen“. Und zwar –
Stichwort Effizienzsteigerung – vor allemfür
den Ausbau des Schnellbahnnetzes.
Für Ernst Reuter dringend:
die U 10 nach Steglitz
Vier „Hauptcitylinien“ wurden als vordringlich bezeichnet, nämlich vom heutigen Südstern über Hallesches Tor, Anhalter Bahnhof,
Potsdamer Platz, Brandenburger Tor, Lehrter Bahnhof, Turmstraße, Bahnhof Jungfernheide nach Siemensstadt und als Fortsetzung der heutigen U5 vom Alexanderplatz
über die Gertrauden- und Leipziger Straße,
Potsdamer Platz, Potsdamer Brücke, Hauptstraße zum Rathaus Steglitz. (So viel zu dem
populären Irrtum, diese später als U10 firmierende Planung einer U-Bahn-Strecke
parallel zur heutigen S 1 wäre eine Idee
aus West-Berliner „Frontstadt“-Zeiten. „Der
ganze Straßenzug, ausgehend vom Rathaus
Steglitz, die Potsdamer Straße, Leipziger
Straße und Gertraudenstraße, ist eine Verkehrsader
allerersten Ranges; diese muß daher mit einer leistungsfähigen Schnellbahn
belegt werden“, heißt es in der Denkschrift,
welche diese und die vorgenannte Linie die
beiden dringendsten nennt.)
Außerdem von Weißensee über Alexanderplatz, Unter den Linden, heutige Straße
des 17. Juni, Bismarckstraße, Kaiserdamm,
Heerstraße bis nach Pichelsdorf, wo ein Anschluss an
die geplante Haveluferbahn zwischen Kladowund dem Spandauer Ortskern
entstanden wäre. Als Schnellverbindung,
teils parallel zur bestehenden heutigen U2
gedacht, sollte es zwischen Brandenburger Tor und dem heutigen
Theodor-HeussPlatz Zwischenstopps nur am Großen Stern,
dem heutigen Ernst-Reuter-Platz und dem
Sophie-Charlotte-Platz geben. Schließlich
eine Linie vom Bahnhof Landsberger Allee
über heutigen Platz der Vereinten Nationen,
Jannowitzbrücke, Jägerstraße, Kemperplatz,
Potsdamer Brücke, Lützowplatz, Bahnhof
Zoo, die ganze Kantstraße hinunter, am damals neuen Messegelände vorbei bis zum
Bahnhof Heerstraße.
Hinzu kamen noch dreiweitere Linien (darunter zwei Ringlinien und die heutige U9)
sowie einige Verlängerungen bestehender
Strecken.
5,6 Kilometer neue Tunnelstrecke
pro Jahr
Bis 1945, also innerhalb von rund 15 Jahren,
wollte man 84 Kilometer neue Strecken errichten und damit den Umfang des Netzes
mal eben mehr als verdoppeln – auf 164
Kilometer (die zwei Ringlinien und die
heutige U 9 waren dabei noch nicht mitgerechnet). Dafür veranschlagte man Kosten
in Höhe von 992 Millionen Reichsmark –
eine gewaltige Summe, welche die BVG
zudem selbst aufbringen sollte. Hilfen des
Freistaats Preußen oder des Reichs waren
nicht zu erwarten.
Pro Jahr hätte man durchschnittlich 5,6
Kilometer Strecke (in der Regel Tunnel) fertigstellen und dafür
66 Millionen Mark aufwenden müssen. Optimistisch hieß esin der
Denkschrift: „Die reibungslose Durchführung des derzeitigen Bauprogramms mit 7
km Bahn und 70 Mill. RM. zeigt jedenfalls,
daß die technische Durchführung der vorgeschlagenen Linien (…) möglich ist.“
Neunzig Jahre später umfasst das Berliner U-Bahn-Netz eine Bauwerkslänge von
rund 154 Kilometern, nach Fertigstellung
der U 5-Verlängerung werden es rund 156,5
Kilometer sein. Denn die Weltwirtschaftskrise, die noch im BVG-Geburtsjahr 1929
begann, machte nicht nur diese U-BahnPläne zunichte. Die finanzielle Situation der
BVG verschlechterte sich ebenso rasch wie
die der Stadt Berlin. Auch ging der Verkehr
stark zurück.
Dies hatte für die BVG immerhin den Vorteil, dasszum Beispiel die Vereinheitlichung
und Modernisierung des Fahrzeugparks der
Straßenbahn nicht mehr ganz so drängte
und das Debakel mit den ab 1929 ausgelieferten „Schützenwagen“ sich nicht ganz
so schlimm auswirkte: Wegen ihrer technischen Probleme mussten alle 300 Stück
im März 1930 zunächst stillgelegt werden;
Schwierigkeiten, wie es sie in jüngerer Zeit
mit gewissen S-Bahn-Typen gab, sind also
nichts Neues.
2019: Mehr reden als machen
Die desaströsen politischen Folgen, die die
Weltwirtschaftskrise gerade in Deutschland
zeitigte, führten dann aber dazu, dass die
Entwicklung zum massiven Ausbau des
ÖPNV, die zur Jahrhundertwende begonnen
hatte, in dieser Form nicht weiterging und
von den schönen Ausbauplänen der Zeit um
1930 auch in späteren Jahrzehnten kaum etwas umgesetzt wurde.
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| Berliner Tempo 2019: Nach einem Jahrzehnt ist der faktische Neubau des Bahnhofs Ostkreuz demnächst fertig. Aber die Straßenbahn, die von Anfang an näher an die S- und nun auch Regionalbahnstation herangeführt werden sollte, fährt noch immer in mehreren hundert Metern Entfernung am Ostkreuz vorbei. Foto: Jan Gympel |
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| Seit Oktober 1995 fährt am U-Bahnhof Osloer Straße die Straßenbahn. Nicht „wieder“, denn es gab hier noch keine U-Bahn, als die in den sechziger Jahren stillgelegte Tramstrecke am 12. Oktober 1928 erstmals eröffnet wurde. Sie war Teil einer großen Nordtangente vom Eckernförder Platz bis zur Prenzlauer Allee, die 1927/28 in Betrieb ging. Wie zahlreiche andere Straßenbahnstrecken, die damals in einem heute unvorstellbaren Tempo gebaut wurden. Foto: Jan Gympel |
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Dieswar insofern nur konsequent, als sich
die Struktur der Stadt durch den Zweiten
Weltkrieg nicht nur baulich änderte: Berlin
hatte nach dem Zweiten Weltkrieg über
eine Million Einwohner weniger als zuvor,
und von den Verbliebenen wohnten bald
die meisten außerhalb der Ringbahn, wo
große Gebiete neu bebaut wurden, derweil
in den verwüsteten Arealen des alten Stadtkerns oft
ein sehr weitläufiger Wiederaufbau stattfand.
Erst in jüngster Zeit wächst die Bevölkerungszahl
Berlins wieder schnell und deutlich, hinzu kommen steigende
Arbeitsplatz und Touristenzahlen. Der ÖPNV verzeichnet
immer neue Fahrgastrekorde.
So befinden sich die Stadt Berlin und
die BVG heute in einer ähnlichen Situation
wie vor neunzig Jahren, ergänzt um den
Aspekt, dass allein schon aus ökologischen
Gründen eine massive Umverteilung des
Verkehrs vom Auto auf Busse und Bahnen
gewünscht werden muss. Zudem sind die
politischen und wirtschaftlichen Bedingungen ungleich besser. Anders als 1929
fehlen uns aber Menschenwie Ernst Reuter,
die von großen Plänen und schönen Konzepten nicht nur reden,sondern diese auch
tatsächlich realisieren – und das zügig und
mit Durchsetzungskraft.
Jan Gympel
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