Berlin

Straßenbahn an Verkehrsampeln

Ein Grundkurs für Politiker und Verwaltungsbeamte in Berlin

Signal
Lichtsignalanlage für Straßenbahnen Landsberger Allee Ecke Petersburger Straße. Der waagerechte Balken bedeutet „Halt“ – ein Signalbild, das die Straßenbahn allzu oft sieht. Foto: Marc Heller

Immer wieder kann der Berliner folgendes Phänomen beobachten: Zugezogene oder Besucher loben das Fahrplanangebot, über das der Berliner gerne meckert, aber sie wundern sich darüber, dass hier die Straßenbahnen nicht nur an den Haltestellen, sondern auch an fast allen Lichtsignalanlagen (LSA) halten. Darüber sieht wiederum der Berliner mehrheitlich resigniert hinweg, während Auswärtige das aus ihrer Heimat meist nicht kennen, denn dort wird eine Straßenbahn-Vorrangschaltung ihrem Namen auch gerecht!

Als sich die Berliner Verwaltung nach den großen (finanziellen) Erfolgen in anderen Städten mit dem Vorrang für Bahn und Bus befassen musste, wurde durch eine komplizierte Planungs- und Genehmigungsstruktur schon der erste Bremsklotz gegen einen Erfolg gelegt. Die BVG als größter Nutzer der meisten Verkehrsknoten kann lediglich Anträge stellen, weder gehören ihr die Lichtsignalanlagen noch darf sie Programme dafür schreiben. Auch wenn wegen Fehlern oder Bauarbeiten eine Vorrangschaltung wieder außer Betrieb gesetzt wird, dann darf die zuständige Stelle das sofort und ohne Absprache tun. Das Wiederin- Betrieb-Setzen dagegen wird später oft vergessen – und die BVG muss einen neuen Antrag stellen.

Nur die BVG muss zahlen

Der zweite Bremsklotz gegen den ÖPNV ist die Finanzierung der neuen Schaltungen. Während die Belange aller anderen Verkehrsteilnehmer ohne extra Obolus berücksichtigt werden, soll die BVG für eine moderne Förderung des elektrischen Verkehrs einen Vorschuss geben. So begann das Straßenbahn-Vorrangprogramm in den 1990er Jahren mit vielen Millionen D-Mark vom Verkehrsbetrieb an die Stadt. Ein Witz! Insbesondere dann, wenn man bedenkt, dass die BVG auf Gelder des Senats angewiesen ist, um überhaupt arbeiten zu können. Sie sollte also einen Teil der Zuschüsse an ihren Geldgeber zurückzahlen, um das zu bekommen, was für andere Nutzer gratis ist – beispielsweise „Grüne Welle“ und fußgängerfreundliche Kreuzungen.

Wegen dieser zwei großen Nachteile hat die Straßenbahn in Berlin täglich einen Papierkrieg mit der Verwaltung der Stadt zu führen, nur um den Regelbetrieb am Laufen zu halten. Da auch bei der BVG gespart werden muss, ist der zusätzliche Aufwand für lediglich vorübergehende Straßenbahnvorrangschaltungen z. B. aufgrund von Baustellen oder Großveranstaltungen (zu denen dann die BVG zur Anreise empfohlen wird!) oft nicht zu schaffen. Nach etlichen Frustrationen dürfte sich der Elan der BVGer in Grenzen halten.

Auch für das Fahrpersonal gibt es in der gegenwärtigen Konstellation nur wenige Erfolgserlebnisse, wenn der vorgeschriebene Meldeweg für defekte Ampelschaltungen allzu oft ins Nirwana führt und keine Besserung des Missstandes erkennbar ist.

anderes Signal
Das Thema „fehlende Bevorrechtigung von Straßenbahnen“ war schon Titelthema im SIGNAL 4/2011. GVE-Verlag

Verwaltungsstruktur behindert Vorrangschaltungen

Gegenwärtig sieht die Verwaltungsstruktur für Lichtsignalanlagen so aus: Der Senat als Eigentümer setzt seine landeseigene Behörde „Verkehrslenkung Berlin“ (VLB) für die Planung und Genehmigung ein, diese betreibt ein Verkehrsregelungszentrum (VKRZ) für das operative Geschehen, das direkten Zugriff auf alle LSA hat. Die VLB hat zurzeit einen langfristigen Vertrag für Wartung und Betrieb der LSA mit einem Generalübernehmer (GÜ), der als privates Unternehmen im Auftrag der VLB, also des Landes Berlin, aber mit Erwartung eines Profits, die Wartung und Programmierung der Ampeln untervergibt.

Wenn die BVG eine Schaltung zum Sparen von Energie und Fahrzeit haben möchte, dann muss sie sich an den GÜ oder direkt an das von diesem benannte Planungsbüro wenden. Wenn den Vertragsfirmen dadurch zu viel Arbeit entsteht, dann werden die BVGAnliegen nochmals an Subunternehmer weitergereicht. Nach Abschluss der Planung wird das Programm der VLB zur Prüfung vorgelegt, die die Belange der anderen Verkehrsteilnehmer oftmals wieder weiter nach oben rückt. Entsprechend muss dann das Programm nochmals umgeschrieben werden. Verständlich, dass auf diesen Wegen schon mal der ursprüngliche Gedanke verloren gehen kann. Trotzdem darf die BVG dann im Gegensatz zu allen anderen Nutzern der LSA dafür bezahlen.

Zusatzkosten für Fahrzeuge und Personal

Das Ergebnis dieser straßenbahnfeindlichen Politik fällt, wie eingangs beschrieben, nicht nur den verkehrlichen Laien beim Berlin- Besuch auf, sondern schlägt sich jeden Tag negativ im finanziellen Ergebnis der BVG und im Ansehen des gesamten ÖPNV in Berlin nieder. Lassen sich die Zusatzkosten für Planzüge und Personal, auf die man mit Vorrang verzichten könnte, noch exakt beziffern, so sind die Imageschäden leider rechnerisch kleiner, aber langfristiger wirksam. Da die Lage für Autofahrer in Berlin auch im Berufsverkehr immer noch entspannt ist, entsteht bei Tramfahrgästen, die an der Ampel warten, schnell der Eindruck, dass es besser ist, statt auf einem Stehplatz in der Bahn auf einem Sitzplatz im Auto die Zeit zu verbummeln.

Straßenverkehrs-Ordnung der DDR 1977
Es gab mal eine Zeit, da hatte die Straßenbahn noch uneingeschränkte Vorfahrt. Straßenverkehrs-Ordnung der DDR 1977

Hinzu kommt die dadurch mitverursachte Unpünktlichkeit, die bei jedem verpassten Anschluss für weiteren Zeitverlust gegenüber dem Auto sorgt und gerade bei Herbstund Winterwetter zu starker Verärgerung selbst der besten Stammkunden führt. Diese vermeidbaren Nachteile durch die unzulängliche Förderung des Umweltverbundes führen schon bei noch nicht führerscheinfähigen Jugendlichen zu falschen Anreizen in der Verkehrsmittelwahl der Zukunft – die Straßenbahn verliert also schon heute ihre Kunden von morgen.

VLB bremst Straßenbahn

Das Hauptargument der VLB gegen einen wirklichen Vorrang der Straßenbahn lautet stets: Dann sind LSA-Umläufe an Kreuzungen für alle anderen Verkehrsteilnehmer nicht mehr berechenbar und damit könne Dauerrot für bestimmte, die Straßenbahn kreuzende Verkehrsströme entstehen. Das ist natürlich Unsinn: Erst mit einem wirklichen Vorrang der Straßenbahn wird diese berechenbar, sie kommt dann nämlich genau nach Fahrplan und nicht mehr zufällig! Und die meisten Ampeln stehen an Strecken mit maximal 5 Minuten Zugfolgezeit. Rein rechnerisch kommt in beiden Richtungen alle zweieinhalb Minuten eine Tram, was bei LSA-Umlaufzeiten von 70 bis 100 Sekunden nur jeden zweiten Umlauf überhaupt berührt.

Dieses unqualifizierte Argument zeigt auch, dass der Weg Berlins zu dem selbsternannten „Verkehrskompetenzzentrum“ noch sehr weit ist – insbesondere wenn man bedenkt, dass die Straßenbahn ein wichtiges Stück der zukunftsfähigen Elektromobilität ausmacht und darum besondere Förderung verdient. Für alle Verwalter des täglichen Elends auf den Schienen dieser Stadt ins Stammbuch:

  1. Nicht-motorisierter Verkehr ist stets menschen- und umweltgerechter als motorisierter Verkehr,
  2. Öffentlicher (motorisierter) Verkehr ist stets besser als motorisierter Individualverkehr (MIV),
  3. ÖPNV lässt sich am leichtesten und billigsten elektrifizieren und damit gegen die Energiekrisen der Zukunft wappnen – die Straßenbahn sollte also gesondert gefördert werden!

Diese Erkenntnisse sind nicht neu und so in jedem Lehrbuch zu diesem Thema zu finden.

Kein Vorrang für Tram und Bus in Berlin

Eigentlich kann vom Vorrang für die Straßenbahn in Berlin gar nicht die Rede sein, aber es gibt einige Strecken und Knotenpunkte, die in dem Meer der Unzulänglichkeiten noch negativ auffallen.

Vorrang würde bedeuten, dass der Straßenbahnfahrer niemanden an der Haltestelle zurücklassen muss, um eine Freiphase zu schaffen und dann ohne weiteres Anhalten oder auch nur Bremsen bis zur nächsten Haltestelle fahren kann. Vorrang heißt natürlich auch, dass andere Verkehrsteilnehmer (z. B. der MIV) Nachrang haben und warten müssen. Diese Konsequenz darf einem Programm nicht als Fehler ausgelegt werden, denn sie stellt den Preis der Bemühungen dar.

Die Metrolinien M 1 und M 2 sind hier die kritischsten Kandidaten, wobei die M 1 noch unter einer schlechten Erreichbarkeit der Züge an den Haltestellen leidet, weil sie ohne schützende und erhöhte Haltestellenkaps mitten auf der Straße halten. Zusätzliche Verlustzeiten durch die Hubliftbenutzung sind so vorprogrammiert.

Auch die M 4 wurde in letzter Zeit wieder verschlechtert, etliche Schaltungen entlang der Greifswalder Straße erhielten verkürzte Phasen für die Tram oder Anforderungsschaltungen, vor denen der Zug immer erst zum Halten kommen muss, bevor die Freigabe erfolgt. Auf dieser Linie wie auch auf der M 6 und M 13 sind die Fußgängerfurten von besonderer Bedeutung (siehe unten).

Im Raum Köpenick ist speziell die LSA am S-Bahnhof Adlershof überarbeitungsbedürftig. Weitere neugebaute Ampeln mit Straßenbahnbremse sind die in der Rhinstraße südlich der Landsberger Allee (IKEA-Zufahrt) und die Ausfahrt der M 10 am Nordbahnhof: Dort ist es offenbar ausgeschlossen, dass zwei sich begegnende Züge gleichzeitig Fahrt erhalten – dabei wäre so eine Möglichkeit sogar für den wartenden Autoverkehr besser! Selbstverständlich bedeutet auch dort eine angezeigte Anforderung nicht, dass schnell eine Freigabe erfolgt, sondern Wartezeiten bis zweieinhalb Minuten sind möglich. So beginnen viele Fahrten auf der ampelreichsten Tramlinie Berlins schon mit Verspätung.

Besondere Spezialität sind in Berlin offenbar wichtige Kreuzungen, für die seit Jahren entweder fertige Programme vorliegen, aber nicht umgesetzt werden (so zum Beispiel beide Anlagen am Mollknoten: Ecke Prenzlauer Allee und Ecke Otto-Braun-Straße) oder für die Programme von der BVG angefordert, aber von anderen Stellen torpediert wurden (Wilhelminenhof-/Edisonstraße).

Gefährliche Schaltungen an Fußgängerüberwegen

Ein typisches, nicht ortsspezifisches Beispiel ist die Schaltung von separaten Fußgängerüberwegen. Hier kommt es oft vor, dass die schon geschaltete Fahrtphase für die Tram zurückgenommen wird, wenn sich ein Zug nähert. Hektische Bremsmanöver mit der Gefahr der Verletzung in der Bahn stehender Kunden und eine Verzögerung von mindestens 30 Sekunden für mehrere hundert Fahrgäste sind der Preis für ein bis drei Fußgänger, die so etwa 10 Sekunden sparen. Solche Schaltungen gehören generell verboten. Wenn eine Freiphase für eine sich nähernde Bahn geschaltet ist, darf sie ohne Notfall nicht mehr zurückgenommen werden! Eine Lösung des Problems in Form von Vorsignalen gab es schon an vielen Stellen in Berlin, wurde aber wieder abgeschafft.

Neben der teuren und technisch aufwändigen Lösung an LSA darf nicht übersehen werden, dass auch die StVO noch Spielräume pro Straßenbahn bietet. Ein genereller Vorrang an Kreuzungen ohne Ampel und eine stärkere Ahndung und höhere Strafbewehrung gegen Behinderung des ÖPNV wären ein deutliches Zeichen des Gesetzgebers für eine zukunftsorientierte Verkehrspolitik; selbst die StVO der DDR war da weiter. Im Paragraph 13 Abs. 6 hieß es: „Straßenbahnen ist in jedem Falle die Vorfahrt zu gewähren. Die Vorfahrt der Straßenbahnen untereinander regelt sich nach den Absätzen 1 bis 5.“

IGEB Stadtverkehr

aus SIGNAL 1/2012 (März 2012), Seite 13-14

 

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