Würde der Berliner NVP - wie in anderen
Städten üblich - konsequent umgesetzt
werden, wäre er das wichtigste Planungsinstrument
für den öffentlichen Nahverkehr.
Jedoch hat sich in der Vergangenheit
beispielsweise beim Thema „personalbesetzte
Bahnhöfe" gezeigt, dass sich Politik
und Verwaltung in ihrem Handeln oftmals
nicht nach ihren eigenen NVP-Beschlüssen
richten, sondern für einen vermeintlich
eingesparten Euro die grundlegenden
Weichenstellungen des NVP vorsätzlich
missachten.
Aus Fahrgastsicht sind am Eckpunkte-Beschluss
des NVP insbesondere die Kapitel
„Rahmenbedingungen für die Angebotsentwicklung",
„Rahmenvorgaben und Angebotsstandards"
sowie die „Anforderungen
an Produkte und Tarif/Vertrieb" bedeutsam.
Die Rahmenbedingungen für die Angebotsentwicklung
sehen vor, dass sich die
finanziellen Rahmenbedingungen insbesondere
für den BVG-Verkehr dem Unternehmensvertrag
entsprechend deutlich
verschlechtern, indem statt 420 Millionen
Euro im Jahr 2005 in den Jahren 2006 und
2007 jeweils nur noch 318 Millionen Euro
an die BVG überwiesen werden, was die finanziellen
Probleme der BVG ja bekanntermaßen
weiter verschärft. Aussagen für den
Zeitraum ab 2008 fehlen leider, so dass das
vom Finanzsenator Sarrazin angestrebte
Schreckensszenario mit vollkommen unzureichenden
250 Millionen Euro ab 2008 weiterhin
möglich ist.
Bei den infrastrukturellen Rahmenbedingungen
wird nochmals das Schneckentempo
des Berliner Straßenbahnausbaus deutlich.
Nur je ein Kilometer Neubaustrecke pro
Jahr sind geplant, wobei durch die Zeitverschiebung
bei der Strecke vom Nordbahnhof
zum Hauptbahnhof der Schnitt noch
weiter sinken wird. Mit diesem Ausbautempo
bleibt Berlin beispielsweise deutlich hinter
Mittelstädten wie Gera und Karlsruhe zurück
- letztere Stadt hat allein im Mai 2006
zehn Kilometer neue Strecken eröffnet.
Fährt die BVG künftig noch weniger?
Die Eckwerte der zu erbringenden Verkehrsleistungen
liegen insbesondere bei U-Bahn,
Straßenbahn und Bus deutlich unter den
Vorgaben des NVP für die Jahre 2000 bis
2004 und unter denen des zurzeit gültigen
BVG-Vertrages.
Es ist aus IGEB-Sicht daher unbedingt erforderlich,
durch den neuen NVP und den
Verkehrsvertrag sicherzustellen, dass eine
weitere Reduzierung der Verkehrsleistungen
ausgeschlossen wird, weil sonst nicht
nur die bestehenden ÖV-Defizite nicht abgebaut
werden, sondern sogar neue Defizite
mit negativen Auswirkungen auf den ÖV-Anteil
am Modal Split zu erwarten sind.
Die Angebotsstandards
Bei den Angebotsstandards sind aus Kundensicht
die Vorgaben zur Erschließung
und Bedienung von besonderem Interesse.
Bei den Erschließungsstandards wird als
Zielwert eine Luftlinienentfernung von 300
bis 400 m zur nächsten OPNV-Haltestelle
Eckwerte der zu erbringenden Verkehrsleistungen
verlangt und als maximal zulässiger Grenzwert
werden 400 bis 500 m toleriert, wobei
der untere Wert in Bereichen mit höherer
Nutzungs7Siedlungsdichte gilt. Dieses
neue Verfahren ist aus Fahrgastsicht positiv
zu bewerten, weil die bisherigen Erschließungsstandards
bei S-Bahnhöfen (1000 m)
für ältere und gehbehinderte Menschen unzumutbar
waren.
Leider wird der BVG durch prozentuale
Vorgaben gestattet, in erheblichem Umfang
Einwohner von diesen Erschließungsstandards
auszunehmen. So dürfen ca. 660 000
Einwohner (20% der Berliner) in Bezug auf
den Zielwert und ca. 133 000 Einwohner
(4% der Berliner) hinsichtlich des Toleranzwertes
unerschlossen bleiben.
Bei den Bedienungsstandards wird festgelegt,
dass der Tagesverkehr um 4.30 Uhr
beginnt (sonnabends 5.30 Uhr, sonntags
7.00 Uhr) und bis 0.30 Uhr geht, vor Wochenendnächten
bis 1.00 Uhr. Die Hauptverkehrszeit
wird zeitlich nach hinten verschoben,
beginnt früh über eine Stunde
später und geht dafür abends bis 19.00 Uhr.
Hier passt sich der Nahverkehrsplan gut an
das veränderte Verkehrsaufkommen an.
Zu kritisieren ist jedoch, dass am Wochenende
die Schwachverkehrszeit schon um
18.00 Uhr einsetzt; wer sonnabends um
20.00 Uhr auf der Tauentzienstraße, der
Schloßstraße oder am Potsdamer Platz unterwegs
ist, wird merken, dass Politik und
Verwaltung hier die aktuelle Entwicklung
verschlafen.
Bei den Abfahrtshäufigkeiten wird erfreulicherweise
der 20-Minuten-Grundtakt
auch beim Bus nicht unterschritten. Leider
fehlt an diesem Punkt eine Definition, ab
welchem Fahrgastpotenzial dichtere Takte
zwingend notwendig sind.
Die Verbindungsstandards sind für die
Erreichbarkeit der zentralen Bereiche Mitte
oder Zoo gut formuliert, weisen jedoch
Defizite für lokale Verkehre auf. Hier ist es
laut NVP ausreichend, wenn Krankenhäuser
und andere Nachfrageschwerpunkte
im jeweiligen Einzugsbereich mit zwei
Umsteigevorgängen erreichbar sind. Der
Berliner Fahrgastverband IGEB fordert, dass
für diese lokalen Verbindungen maximal
ein Umsteigevorgang zulässig ist. Kriterien,
unter welchen Bedingungen Direktverbindungen
zwischen bestimmten besonderen
Orten der Stadt angeboten werden müssen,
fehlen leider völlig.
Die Qualitätsstandards mit Aussagen zu
den Punkten Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit,
Sicherheit, Ausstattung, Schadensfreiheit,
Sauberkeit, Barrierefreiheit, Information
und Kommunikation entsprechen
weitgehend den Erwartungen der IGEB.
Es bleiben jedoch erhebliche Zweifel am
Umsetzungswillen des hierzu getätigten
Abgeordnetenhausbeschlusses. So fordern
die NVP-Eckpunkte „keine Behinderung der
Fahrgastinformation durch Werbung". Doch
die BVG und die im Aufsichtsrat sitzenden
Politiker sichern nicht einmal drei Monate
später beim Verkauf der BVG-Werbetochter
VVR-Berek dem neuen Investor vertraglich
zu, dass dieser bis weit ins nächste Jahrzehnt
über 30% der Fensterflächen von jedem
Bus und jeder Straßenbahn mit Werbung
zukleben darf. Die eigenständige Orientierung
der Fahrgäste als wichtigste Form der
Fahrgastinformation bleibt dabei auf der
Strecke.
Interessant ist hierbei auch, wie mit zweierlei
Maß zwischen landeseigenem und
nicht-landeseigenen Unternehmen gemessen
wird: Die BVG darf ihre Fahrgäste mit
Werbung auf den Scheiben traktieren, bei
DB Regio, S-Bahn, ODEG und NEB ist dies
glücklicherweise vertraglich verboten.
Keine Aussage
zur Fahrpreisentwicklung
Bei der Weiterentwicklung der Produkte
setzt der NVP stark auf Quartierslinien
und Anrufbusse bzw. Anrufsammeitaxen.
Die IGEB mahnt hier aber angesichts des
Flops der Kiezlinien bei „BVG 2005 plus"
zur Vorsicht, insbesondere wenn solche
Planungen zu Lasten bestehender Angebote
gehen würden. Die IGEB schätzt die
Einsparungspotenziale bei der Umstellung
schwach genutzter Buslinien auf Rufbusse
oder Anrufsammeitaxen gering ein, während
die Qualitätseinbußen für die Kunden
aufgrund der erforderlichen Voranmeldung
gravierend sind. Was sich in Prignitz
und Uckermark mit 40 Einwohnern pro
Quadratkilometer bewährt, ist noch lange
nicht in Berlin bei 4000 Einwohnern pro
Quadratkilometer tauglich.
Aus Kundensicht wenig erfreulich sind
die Aussagen zur Weiterentwicklung
des Tarifs. Hier fehlen detaillierte quantitative
Aussagen über die künftige Tarifentwicklung
(z.B. Kopplung an Lebenshaltungsindex).
Stattdessen geht es um
hohe Einnahmen und das Ziel maximaler
Tarifergiebigkeit unter Beachtung der
Preiselastizität der Nachfrage. Die Auswirkungen
des inzwischen erreichten hohen
Tarifniveaus unterstreicht das Ergebnis einer
zum NVP durchgeführten Befragung,
wonach ein Viertel der Nutzer und ein Drittel
der Selten- oder Nichtnutzer bei niedrigeren
Tarifen öffentliche Verkehrsmittel
häufiger benutzen würden.
Positives Fazit
Trotz der benannten Defizite fällt das Gesamtfazit
zu den Eckpunkten des Nahverkehrsplans
positiv aus, weil mit den
Eckpunkten beabsichtigt ist, dass jetzige
Verkehrsvolumen in etwa auch künftig zu
beauftragen. Mit großer Sorge sieht der
Berliner Fahrgastverband IGEB jedoch die
aktuelle Entwicklung zum erforderlichen
Senatsbeschluss für die Verabschiedung der
Langfassung des Nahverkehrsplans.
Dieser längst überfällige Beschluss wurde
vom Finanzsenator blockiert, weil er sich
nicht auf Standards und vor allem nicht hinsichtlich
des zu beauftragenden Verkehrsvolumens
beim Nahverkehr festlegen will.
Es muss deshalb befürchtet werden, dass
der Finanzsenator durch Änderungen in
der Langfassung des NVP nachträglich den
Willen der Abgeordneten, dokumentiert
mit dem Eckpunkte-Beschluss, zu Lasten
der Fahrgäste umgehen will.
Die 29-seitigen Eckpunkte zum Nahverkehrsplan
für Berlin gibt es im Internet unter:
www.stadtentwicklung.berlin.de/verkehr/nahverkehrsplan/ Berliner Fahrgastverband IGEB
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