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Im Rennen seien nur noch die Deutsche Bahn mit der
S-Bahn Berlin GmbH und National Express aus Großbritannien. Dennoch lohnt ein
Blick nach Hongkong, wo MTR täglich ein Vielfaches des Berliner
Fahrgastaufkommens bewältigt.
Im Sommer 2013 bekam die Senatsverwaltung
für Stadtentwicklung und Umwelt Post
aus China, genauer gesagt aus Hongkong.
Die dort ansässige MTR Corporation schickte
ihre Unterlagen, um am Vergabeverfahren
für den Betrieb des Teilnetzes „Ring“ der
Berliner S-Bahn teilzunehmen (siehe u. a.
SIGNAL 4/2012 ). MTR betreibt die U-Bahn
und andere öffentliche Verkehrsmittel in
der ehemaligen britischen Kolonie. Daher ist
man als Berliner Fahrgast derzeit mit einem
besonderen Interesse unterwegs, wenn
man Gelegenheit hat, diese Stadt und ihren
Nahverkehr zu besuchen.
Hongkong
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Hongkong bietet ein intensives Stadterlebnis und guten Nahverkehr. Ein Vorbild für Berlin? Foto: Martin Schiefelbusch |
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Hongkong liegt an der chinesischen Pazifikküste
und besteht aus den Städten Hongkong
und Kowloon und den sie umgebenden
New Territories. Das Gebiet wurde 1997
an China zurückgegeben, wird aber als sogenannte
Sonderverwaltungszone weiter getrennt
regiert. An der Grenze zum Mainland
der Volksrepublik gibt es zwei Bahnhöfe, die
zugleich als Grenzübergang dienen und wo
man nach Passieren der Passkontrolle mit
der Metro der angrenzenden Millionenstadt
Shenzhen weiterfahren kann. Diese Verhältnisse
erinnern etwas an das ehemalige West-Berlin.
Bei ähnlicher Fläche besteht Hongkong
aber zu einem erheblichen Teil aus Meer, Inseln,
Bergen und sogar landwirtschaftlichen
Flächen. Nur etwa 25% des Landes sind bebaut
– und trotzdem zählt die Stadt 7 Millionen
Einwohner. Sprich: Wo Menschen sind,
ist gleich richtig viel los. Wohnen und Arbeiten
in Hochhäusern mit 30 bis 50 Etagen
ist normal, neben einem Einkaufszentrum
liegt gleich mindestens ein weiteres, und
Fußgänger bewegen sich zwischen diesen
meist auf überdachten Fußgängerbrücken,
die auf Höhe des zweiten Obergeschosses
von einem Gebäude zum nächsten führen.
Das Leben in dieser Dichte erfordert Organisation
und (Selbst-)disziplin.
Vielfältige Fortbewegungsmöglichkeiten
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Die Ma On Shan-Linie verläuft in Hochlage durch typische Hochhausquartiere und dient bisher nur als Zubringer zur East Rail Line. Die Fußbodenmarkierungen helfen, den Fahrgastwechsel zu beschleunigen. Foto: Martin Schiefelbusch |
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Der Autoverkehr ist auch in Hongkong präsent
– vor allem durch Straßen und Stadtautobahnen
in teils abenteuerlicher Hochlage.
Der Motorisierungsgrad ist mit ca. 65 Pkw
je 1000 Einwohner jedoch gering (Berlin ca.
350 Pkw je 1000 Einwohner). Fußgänger finden
mit den genannten Brücken meist komfortable
Verhältnisse vor, sieht man mal von
Orientierungsschwierigkeiten ab. Radfahren
ist zum Teil wegen der Topografie unattraktiv,
zum anderen eine Mutprobe, der sich nur
sehr wenige aussetzen.
Der Großteil der Verkehrsnachfrage wird
daher durch das umfangreiche Angebot
öffentlicher Verkehrsmittel bedient. Auf
den Straßen tummeln sich neben zahllosen
Taxis eine verwirrende Masse von Bussen
verschiedenster Art. Drei Grundarten lassen
sich relativ schnell identifizieren: Linienbusse
bekannter Art mit festen Haltestellen und
Strecken – meist dreiachsige Doppeldecker
in britischem Design –, „grüne Minibusse“,
die kürzere Strecken bedienen und mit festen
Haltestellen, aber ohne festen Fahrplan
verkehren sowie „rote Minibusse“ ohne feste
Haltestellen.
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Bequemes Stehen – typischer Besetzungsgrad der U-Bahn in Kowloon außerhalb der Hauptverkehrszeit. Foto: Martin Schiefelbusch |
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In Stoßzeiten kommt Bahnsteigpersonal zum Einsatz, um Verzögerungen beim Türenschließen zu verhindern. Foto: Martin Schiefelbusch |
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Sehr detaillierte Pläne der Stationen, Ausgänge und der Umgebung gehören zum Standard, hier der sich über mehrere Blocks erstreckende Bahnhof Tsim Sha Tsui/East Tsim Sha Tsui. Foto: Martin Schiefelbusch |
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Auf Hongkong Island, dem ursprünglichen
Stadtkern, verkehrt auf einer Ost-West-Strecke von
etwa 13 km die Straßenbahn.
Hier kommen ausschließlich Doppelstock-Zweiachser zum Einsatz, die derzeit
übrigens von Veolia und der Pariser RATP
Dev betrieben werden. Die gemächliche
Fahrt mit den sich im Minutentakt durch
die Hochhausschluchten bewegenden
Trams ist ein hervorragendes Mittel, das
Zentrum und die anschließenden Quartiere kennen zu lernen. Für
bessere Fotos und bessere
Lüftung lassen sich alle Fenster
öffnen. Bezahlt wird beim
Aussteigen – und zwar der
unschlagbare Einheitspreis
von umgerechnet 23 Cent.
Zum öffentlichen Verkehrsangebot
gehören außerdem
die Standseilbahn auf den Victoria
Peak, einige Schwebeseilbahnen
sowie zahlreiche
Fähren, die die Wasserstraße
zwischen Hongkong Island
und Kowloon überqueren,
die weiteren Inseln anbinden
oder Ziele im Mainland
ansteuern. Zur etwa 40 km
entfernten ehemals portugiesischen
Kolonie Macau wird
gerade eine Brücke gebaut,
nach deren Fertigstellung ein
Teil der Fähren durch noch
mehr Busse ersetzt werden
dürfte.
MTR
Hauptträger des ÖPNV ist
jedoch die MTR, wobei die
Gesellschaft dieses Namens
mehrere Verkehrssysteme
betreibt. Das bedeutendste
ist zweifellos die U-Bahn, deren
zehn Linien zusammen
mit der S-Bahn-Strecke das
Grundgerüst des ÖPNV bilden.
Dabei sind die (jeweils
mit Namen bezeichneten)
Strecken in ihrem Charakter
sehr unterschiedlich: Vier
von ihnen (Kwun Tong, Tsuen
Wan, Island und Tseung
Kwan O-Linie) verlaufen im
inneren Stadtbereich, weitgehend
unterirdisch mit relativ
dichten Bahnhofsabständen.
Hier kommt in der Spitze
alle 120 Sekunden ein Zug,
gelegentlich noch öfter, der
dann etwa 180 m lang ist. So
wird eine Kapazität von etwa
85 000 Plätzen geboten – pro
Stunde und Richtung wohlgemerkt.
Fahrpläne sind bei
so einem Takt entbehrlich.
Zwar gibt es in Hongkong
noch nicht die aus Japan bekannten
„Drücker“, aber in
der HVZ sorgt auf einer Reihe
von Stationen MTR-Personal
dafür, dass sich die Fahrgäste
gut entlang des Bahnsteigs
verteilen und das Schließen
der (Bahnsteig-)Türen nicht
behindert wird. In einer Minute
kommt ja schon der
nächste Zug – daher gilt es,
auch kleinste Verzögerungen
zu vermeiden.
Weitere drei MTR-Linien
haben den Charakter von
Express-Metros: Sie binden
Neubaugebiete der New Territories
an das Zentrum an
und verlaufen auf längeren
Abschnitten oberirdisch mit
längeren Bahnhofsabständen.
Was nicht unbedingt heißt,
dass hier weniger los ist. Der
Airport Express sorgt – wie
der Name sagt – für die Anbindung
des 1998 eröffneten
neuen Flughafens. Er verkehrt
mit Sondertarif und nochmals
weniger Haltestellen auf eigenen
Gleisen parallel zur Tung
Chung Line und benötigt für
die 35 km nur 20 Minuten. Als
zusätzlichen Service bieten
zahlreiche Fluggesellschaften
den Check-In im Zentrum an,
von wo das Gepäck in einem
speziellen Gepäckwagen
mit der Bahn zum Flughafen
befördert wird. Zubringerfunktion
haben zwei Linien:
die Ma On Shan Line in die
nordöstlichen Vorstädte und
die Shuttleverbindung zum
Disneyland, die als einzige automatisch
betrieben wird und
mit speziell gestalteten Fahrzeugen
ausgerüstet ist.
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Netzplan der MTR – hellblau die „S-Bahn“ (East Rail Line), links oben als dünne braune Linien das Netz der Stadtbahn Tuen Mun. Die Straßenbahn verläuft auf Hongkong Island parallel zur blauen Linie am unteren Kartenrand. Grafik: MTR |
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Einzige S-Bahn-Hongkongs
ist die sogenannte East
Rail Line, früher als Kowloon-Canton-Railway bekannt,
die seit 2007 durch die MTR
betrieben wird. Ursprünglich
war dies eine Fernbahn
ins chinesische Guangzhou
(Kanton). Mit dem Wachstum
Hongkongs wurde der Verkehr
auf dem Abschnitt in der
Kolonie nach und nach verdichtet.
Heute ist sie nur noch
durch den fast ausschließlich
oberirdischen Verlauf und
die etwas anderen Fahrzeuge
(die z. B. die 1. Klasse führen)
von den anderen MTR-Linien
zu unterscheiden. Doch trotz
des dichten Takts finden
auf der Strecke noch zwölf
Fernzugpaare täglich nach
Kanton, Peking oder Shanghai
Platz – für die Fahrkarten
auch an einigen MTR-Stationen
erhältlich sind. Eine neue
Schnellstrecke ins Mainland
ist im Bau.
Die Anlagen sind durchweg
modern, trotz mancher Kunstwerke
vielleicht etwas anonym,
aber funktional gestaltet
– hier hat die MTR zweifellos
andere Voraussetzungen
als ein System mit großem historischem Erbe. Die meisten Umsteigestationen
sind so geplant, dass man einfach auf
der anderen Bahnsteigseite den Anschluss
erreicht. Zur Ausstattung gehören stets eine
Reihe von Geschäften verschiedenster Art
und ein als off ene Glaskanzel gestalteter
Serviceschalter, der sowohl von innerhalb
wie außerhalb der Sperre erreichbar ist. An
einer Reihe von Bahnhöfen stehen gratis benutzbare
Internet-Terminals.
Damit nicht genug, hat die MTR auch noch
eine Reihe von Zubringerbuslinien von Vorstadtsiedlungen
zu ihren Bahnhöfen aufgebaut,
die im Gegensatz zu anderen Bussen
tarifl ich integriert sind. Ferner betreibt sie
das umfangreiche Stadtbahnsystem in den
nordwestlichen New Territories. Auf 36 km
Strecke sind dort elf Linien in dichtem Takt
unterwegs – je Linie mindestens alle zehn
Minuten, wobei die meisten Strecken durch
zwei oder drei Linien bedient werden. Die
auch dort dominierenden Wohnhochhäuser
sorgen für eine große Nachfrage, für die die
meist einzeln verkehrenden Großraumwagen
australischer Produktion in der Regel
nur gerade so ausreichen. Das überwiegend
auf eigenen Trassen, teils in Hochlage, gebaute
System ist mit einer halbwegs funktionierenden
Ampelvorrangschaltung ausgerüstet,
so dass die Reisegeschwindigkeit
ordentlich ist.
Die MTR-Gesellschaft wurde übrigens
1979 zur Betriebsaufnahme der U-Bahn als
Unternehmen in Staatsbesitz gegründet.
Vor einigen Jahren wurde knapp ein Viertel
der Anteile an die Börse gebracht. Neben
dem ÖV-Betrieb in Hongkong ist die Immobilienentwicklung
von Objekten, die an oder
nahe bei MTR-Stationen liegen, ein wesentliches
Geschäftsfeld. Beide Bereiche arbeiten
profi tabel. In Europa ist MTR seit einigen
Jahren als Betriebsführer der Stockholmer
U-Bahn und – gemeinsam mit DB Arriva –
eines Teils des Londoner S-Bahn-Verkehrs
vertreten.
Octopus – einfacher Schlüssel
für ein kompliziertes System
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In den Bahnhöfen installierte Octopus-Lesegeräte zeigen die letzten mit einer Karte durchgeführten Transaktionen an. Foto: Martin Schiefelbusch |
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Noch vielfältiger als das Verkehrsangebot
ist das Tarifsystem: Minibusse und Fähren
haben individuell festgesetzte Einheitspreise,
die bei Fähren meist sonntags
höher sind als unter der Woche. Normale
Busse haben einen grob entfernungsabhängigen
Tarif, der durch Zuschläge für
Tunnelmaut, Flughafenlinien sowie diverse
Rabatte beim Umsteigen innerhalb
bestimmter Zeiträume auf bestimmte Linien
an bestimmten Haltestellen im Detail
undurchschaubar wird. Die MTR bietet
verschiedene Tages- und Zeitkarten für ihr
ganzes Netz oder diverse Teilbereiche an,
ihr Basistarif ist jedoch entfernungsabhängig,
so dass es für jeden Bahnhof andere
Fahrpreistabellen gibt. Hinzu kommen unterschiedliche
Grundpreise für Normalzahler,
Karteninhaber, Senioren, Schüler und
Studenten. Das Preisniveau selbst liegt
unter dem mitteleuropäischen und reicht
von etwa 30 Cent für eine
kurze Strecke in der City
bis etwa 4,50 Euro für eine
Fahrt an die chinesische
Grenze. Für die beiden
Grenzstationen wird ein
Zuschlag erhoben.
Aber: Kaum jemand
scheint sich mit diesen Details
auseinanderzusetzen,
und kaum jemand muss es
tun: Hongkong hat bereits
1998 ein elektronisches
Ticketsystem namens Octopus
eingeführt, das bei
allen Verkehrsunternehmen
zum Einsatz kommt.
Die Octopus-Karte kann als
Zeitkarte genutzt oder mit
Guthaben geladen werden.
In letzterem Fall werden
jeweils die Fahrpreise der
benutzten Verkehrsmittel
abgebucht und dem Unternehmen
gutgeschrieben.
Kunden können auf MTR-Stationen
an Lesegeräten
die letzten Transaktionen
aufrufen. Die Octopus-Preise
liegen bei der MTR etwas
unter denen für Einzelfahrten;
weitere Mengenrabatte oder Kappungsgrenzen werden dagegen
nicht gewährt. Barzahlen spielt daher nur
noch eine marginale Rolle. Das Octopus-System
ist daher zugleich ein positives Beispiel
für populäres elektronisches Ticketing und
ein negatives Beispiel für unzureichende Tariftransparenz.
Reiseeindrücke
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Kleine Fahrzeuge bei sehr dichtem Takt – das ist das Betriebskonzept der Straßenbahn. So sieht man meist mehrere Fahrzeuge in dichter Folge. Foto: Martin Schiefelbusch |
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Auch per Straßenbahn lässt sich erfahren, dass die Siedlungsdichten in Hongkong zu den höchsten der Welt zählen. Die typischen Doppelstock-Straßenbahnwagen und - Busse sind ein Erbe des britischen Einflusses während der Kolonialzeit. Foto: Martin Schiefelbusch |
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Massen von Volk, überall. Dieser Eindruck
dürfte den meisten Europäern von einer
Reise nach Hongkong bleiben. Die Züge
sind außer auf den äußersten Abschnitten
in aller Regel so gut gefüllt, dass ein
„bequemes“ Stehen, bei dem man noch
keine allzu enge Tuchfühlung mit seinen
Nachbarn hat, gerade noch möglich ist. Auf
den zweiten Blick beeindruckt die unaufgeregte,
routinierte und ganz überwiegend
disziplinierte Art, mit der sich diese Menschenmassen
begegnen, vermischen, weitergehen
und auch durch das ÖV-System
geschleust werden. Besonders das MTR-Netz
ist eindeutig auf effizienten Massenverkehr
optimiert – dies zeigt nicht nur die
Dimensionierung der Bahnhöfe und Züge.
Auch Wegweisung, Kennzeichnung von
Wartebereichen auf Bahnsteigen, Personalpräsenz
und andere Maßnahmen zielen
zumindest indirekt darauf, Irritationen
(und damit Verzögerungen) zu vermeiden.
Manches trägt auch über das ÖV-System hinaus;
so ist die – sehr nützliche – Nummerierung
der Bahnhofsausgänge selbstverständlicher
Teil von Firmenadressen (nicht
„am U-Bf Hung Hom“, sondern „Hung Hom,
Ausgang B1“). Und in manchen Geschäften
wird man durchaus verwundert angesehen,
will man seinen Imbiss mit Bargeld bezahlen
– denn das kann man doch auch mit der
Octopus-Karte tun.
Das Reisen mit der MTR lässt erwarten,
dass dieses Unternehmen auch mit den
Berliner Aufgaben zurechtkäme. Aber
Hongkong ist nicht Berlin, und nicht alles
kann oder muss von dort kopiert werden.
Erst nach einiger Zeit wird einem bewusst,
wie viel homogener die Gesellschaft Hongkongs
ist – mag man dazu stehen wie man
will. „Unangepasste“ Typen, Straßenmusikanten
oder Bettler fehlen nicht nur in der
U-Bahn. Die Einheimischen scheinen zufrieden
damit, ihren eigenen Dingen nachzugehen
– gern mit dem Smartphone vor
der Nase, von dem viele auch beim Laufen
und auf der Rolltreppe den Blick nicht wenden
können. Für „laute“ Telefonate wird es
dagegen kaum benutzt. Zweifel am „richtigen“
Benehmen können aber auch sonst
nicht aufkommen – denn im Minutentakt
erinnert eine freundliche MTR-Stimme auf
kantonesisch und englisch daran, was sich
gehört: nicht essen und trinken, nicht nur
auf das Handy starren, auf der Rolltreppe
stehen bleiben und sich festhalten, die Türen
nicht blockieren und vieles andere mehr.
Nach einer Weile wird klar, warum sich so
viele Passagiere über Kopfhörer andere Geräusche
aus dem Internet besorgen. Martin Schiefelbusch
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