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Wie ausgiebig und erbittert ist über „Stuttgart
21“, das Vorhaben des Baus eines Bahntunnels
durch die Innenstadt und Umwandlung
des Hauptbahnhofs von einer Kopf- zur
unterirdischen Durchgangsstation, geredet
worden! Eigenartigerweise kam dabei
kaum zur Sprache, dass zeitgleich mitten in
Deutschland etwas entstand, das man zum
Vergleich hätte heranziehen können: der
Leipziger Citytunnel zwischen Haupt- und
Bayerischem Bahnhof.
Böse Zungen behaupten ja, hätte Leipzig
in den 1960er Jahren in der Bundesrepublik
gelegen, hätte die Halbmillionenstadt bereits
damals (mindestens) einen Bahntunnel erhalten.
Sich aus inzwischen längst überholten
verkehrspolitischen Dogmen, aber auch aus
Prestigegründen unterirdische Schienenstrecken
zuzulegen, war in der Bundesrepublik
jener Jahre bekanntlich sehr beliebt. Und
mutmaßlich hätte man sich dann auch durch
die kriegsbedingt leergeräumte Dresdener Innenstadt
gegraben, um die Straßenbahn dort
für ein paar Stationen in der Erde verschwinden
zu lassen – weniger weil das verkehrlich
sinnvoll gewesen wäre, als um den Rivalitäten
innerhalb eines Bundeslandes zu genügen.
München und das viel kleinere, aber wie die
Landeshauptstadt mit einer Voll-U-Bahn ausgestattete
Nürnberg lassen grüßen.
Viele Züge machen weiter einen Bogen
Insofern erschien das seit Anfang der 1990er
Jahre verfolgte Projekt des Leipziger Citytunnels
ein wenig wie eine Wiedergutmachung
für den misslichen Umstand, dass die
Stadt über vierzig Jahre hinweg zum ärmeren
der damals zwei deutschen Staaten gehörte.
Es schien aber auch von der Verkehrsgestaltung
her als zweckmäßig: Schließlich
liegt Leipzig an der wichtigen Strecke Berlin—München.
Wenn die ICEs auf dieser
Verbindung künftig in der Messestadt nicht
mehr Kopf und einen großen Bogen um ihr
Zentrum machen müssten, würde das einige
Minuten Reisezeit einsparen.
Doch während Kopfbahnhöfe von Verkehrsexperten
in der Regel als absolutes
Teufelszeug betrachtet werden und das
Festhalten an einer so gestalteten Station
in Stuttgart angeblich zur Verelendung der
Stadt, Süddeutschlands, der Bundesrepublik
oder gleich halb Europas führen würde, wurde
beim Leipziger Vorhaben ziemlich bald
klar: Die Fernzüge, auch und gerade die ICEs
zwischen Berlin und München, deren Reisezeit
durch umfangreiche Baumaßnahmen
auf weniger als viereinhalb Stunden gedrückt
werden soll, sollen gar nicht durch den Citytunnel
fahren. Viele von ihnen werden die
Messestadt sogar links liegen lassen und
stattdessen über Halle (Saale) verkehren.
Selbst für den neuen unterirdischen
Perron des Leipziger Hauptbahnhofs gibt
es lediglich die Option, ihn von jetzt 215
Meter auf die ICE-gerechte Länge von vierhundert
Metern auszubauen. Und auch
dann wäre noch die Frage, ob die Kapazität
der unterirdischen Bahnsteighalle für
die Aufnahme von Fernverkehr ausreichen
würde: Sie umfasst nämlich wirklich nur
einen einzigen Bahnsteig mit zwei Gleisen.
Auf der Strecke soll maximal ein Fünf-Minuten-Takt
möglich sein. Auf der offiziellen
Website citytunnelleipzig.de heißt es denn
auch vorsichtig: „Es ist prinzipiell möglich,
dass stündlich je Richtung ein Fernverkehrszug
den Tunnel benutzen kann.“
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Am Wilhelm-Leuschner-Platz befindet sich die eindrucksvollste der neuen Leipziger Tunnelstationen. Ihre Bahnsteighalle wird geprägt von hinterleuchteten Glasbausteinen. Foto: Florian Müller |
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Unter der westlichsten der sechs großen Hallen des Leipziger Hauptbahnhofs liegen oberirdisch keine Gleise mehr. Durch ein „Atrium“ genanntes Loch blickt und gelangt man nun … Foto: Florian Müller |
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… in die zweigleisige neue Tunnelstation. Hier hält pro Richtung alle fünf Minuten eine S-Bahn, und ein mal am Tag auch ein ICE. Foto: Florian Müller |
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Von der 1924/25 entstandenen Untergrundmessehalle unter dem Leipziger Markt blieb nur der Eingang erhalten. Nach dem Bahnbau wurde er restauriert wiedererrichtet und dient jetzt als ein Stationseingang. Foto: Florian Müller |
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Platten und Stäbe aus Terrakotta bestimmen das Bild der Bahnsteighalle am Markt. Foto: Florian Müller |
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Ein Eingang auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz – wie die dortige Bahnsteighalle geprägt von Glasbausteinen, geraden Linien und rechten Winkeln. Links im Hintergrund das Neue Rathaus. Foto: Florian Müller |
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Eine etwas eigenwillige Idee: Die Wartebänke wurden in Sichtbetonwänden untergebracht. Foto: Florian Müller |
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Der Portikus des Bayerischen Bahnhofs, während der Bauarbeiten verschoben, steht wieder an seiner alten Stelle – nun nur noch funktionsloses Denkmal. Der Bereich vor dem nördlichen Zugang zur Tunnelstation ist noch nicht ganz fertiggestellt. Foto: Florian Müller |
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Gleise liegen am einstmals wohl ältesten noch betriebenen Kopfbahnhof der Welt jetzt noch unterirdisch. Foto: Martin Jehnichen, Deutsche Bahn AG |
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Die unterirdische Bahnsteighalle am Hauptbahnhof ließe sich von derzeit 215 Meter auf die ICE-gerechte Länge von 400 Metern ausbauen. Vorerst halten hier aber fast nur S-Bahnen. Foto: Florian Müller |
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Was an der Pleiße (mit dem Freistaat Sachsen
und der DB AG als Bauherrn) entstanden
ist, ist also kein „Leipzig 21“, sondern de
facto lediglich ein Tunnel für Regional- und
S-Bahn. Wobei diese beiden Begriffe in der
nordsächsischen Metropole nur schwer
auseinanderzuhalten sind: Das – am 15. Dezember
2013, einen Tag nach der feierlichen
Eröffnung des Citytunnels, in Betrieb gegangene
– Netz der „S-Bahn Mitteldeutschland“
reicht bis nach Bitterfeld, Zwickau oder
Torgau und (dabei auch den Süden Brandenburgs
durchquerend) Hoyerswerda.
Die Züge der sechs Linien, von denen die
S 5 durch als S 5X bezeichnete Expresszüge
ergänzt wird und die S 7 nur in Halle (Saale)
fährt, verkehren meist im Stunden- oder
Halbstundentakt.
Die DB AG, deren Tochter DB Regio Südost
2010 den Zuschlag für dieses Netz erhalten
hat, gibt an, dass sich durch den Citytunnel
die Reisezeit auf der S 2 Bitterfeld — Delitzsch
— Connewitz — Markkleeberg-Gaschwitz um fünfzehn, auf der S 3 Halle
(Saale) Hbf—Stötteritz um zehn Minuten
verkürzt. Auf manchen Relationen errechnet
die Bahn allerdings auch eine Zeitersparnis
von bis zu rund vierzig Minuten. Nicht erwähnt
wird die deutliche Fahrtzeitverlängerung
auf der Verbindung zwischen Hauptbahnhof
und Osten, Richtung Wurzen, auf
der die Züge der neuen S 1 einen erheblichen
Umweg über Leipzigs Südosten und
durch den Tunnel machen. Die Bahn soll sich
diesen Kunstgriff ausbedungen haben, weil
sie andernfalls um eine nicht hinreichende
Auslastung der neuen Strecken fürchtete.
Auch mag man darüber streiten, wie groß
der Nutzen des Tunnels, dessen Bau von umfangreichen
Ergänzungen, Umbauten und
Modernisierungen im Schienennetz flankiert
wurde (die Länge des Gesamtprojekts
wird mit 5,3 Kilometern angegeben), für die
Erschließung des Leipziger Stadtkerns ist:
Vier unterirdische Stationen besitzt die neue
Strecke. Hauptbahnhof und Bayerischer
Bahnhof hatten natürlich schon zuvor Anbindung
an die große Bahn und, ebenso wie
die neue Haltestelle Wilhelm-Leuschner-Platz,
an die Tram. Da letztere die Altstadt
nur auf dem (Straßen-)Ring umkreist und
es innerhalb dieses auch kaum Busverkehr
gibt, wird lediglich durch die Tunnelstation
Markt bisher kaum mit ÖPNV versorgtes Gebiet
neu erschlossen.
Kosten: rund eine Milliarde
Kosten lassen hat man sich das in Leipzig
auch den endgültigen Verlust zweier Rekorde:
Der Leipziger Hauptbahnhof hat jetzt
keine Aussicht mehr auf den Titel „größter
Kopfbahnhof Deutschlands“ – nur noch
siebzehn Bahnsteiggleise stehen oberirdisch
dem regulären Verkehr zur Verfügung.
Das westlichste der sechs großen Schiffe
überragt nun nur eine gepflasterte Fläche,
unter der sich die unterirdische Bahnsteighalle
befindet, zu der zwei „Atrium“ genannte
Löcher die Verbindung herstellen.
Bloß noch zwei Gleise, und die eben im
Tunnel, besitzt jetzt der 1842 eröffnete Bayerische
Bahnhof am Südrand des Stadtzentrums.
Das Portal der bis zur oberirdischen
Stilllegung 2001 als ältester noch betriebener
Kopfbahnhof der Welt gehandelten Station,
durch das noch in den 1990er Jahren
nicht nur Gleise, sondern auch Fahrdrähte
führten, ist Denkmal seiner selbst geworden.
Seine weitere Funktion ist allenfalls
noch jene, als Kulisse für den Nordzugang
zur unterirdischen Halle zu dienen. Ebenfalls
restauriert wurde der nicht im Zweiten Weltkrieg
zerstörte, nun gastronomisch genutzte
Westflügel des Bahnhofs. Anstelle des
Gleisfelds erstreckt sich eine Grünanlage,
noch ist die Gestaltung der Außenanlagen
aber nicht abgeschlossen.
Im Hinblick auf andere Tunnelprojekte
– allen voran eben jenem in Stuttgart –
wichtiger sind natürlich die materiellen
Kosten: „Völlig überraschend“ dauerte die
Realisierung des Leipziger Projekts länger
als anfangs verkündet: Bei Baubeginn 2005
war eine Fertigstellung im Jahre 2009 vorgesehen.
„Völlig überraschend“ explodierte
auch der notwendige finanzielle Aufwand:
von rund 571 Millionen Euro 2003 auf am
Ende laut offizieller Berechnung 960 Millionen
Euro. Davon entfallen auf den Freistaat
495,6 Millionen, auf EU-Fördermittel 224,8
Millionen, den Bund 210 Millionen, die DB
AG 17,9 Millionen, die Stadt Leipzig 7,2 Millionen
und auf den Zweckverband Nahverkehrsraum
Leipzig 4,2 Millionen Euro.
Hinabschreiten in einem
monumentalen Raum
Was in so langer Zeit für so viel Geld entstanden
ist, kann sich aber immerhin in
architektonischer Hinsicht sehen lassen:
Während die Strecken zwischen den Stationen
im Schildvortrieb erstellt wurden
(zwei Röhren von je 1438 Metern Länge),
entstanden letztere in offener Bauweise.
Wie beim Berliner Hauptbahnhof, dem
Regionalbahnhof Potsdamer Platz oder
auch bei jüngeren U-Bahnhöfen in Hamburg
(vgl. SIGNAL 2/2013 ) und München,
nutzte man vor allem bei den Haltestellen
Markt und Wilhelm-Leuschner-Platz die
tiefe Lage der Gleise unter der Oberfläche
(rund 17 bis 22 Meter), um hohe Bahnsteighallen
zu schaffen. Die – verglichen
mit den meisten anderen unterirdischen
Stationen nicht nur in Deutschland – ungewöhnlich
große vertikale Ausdehnung
der Räume verleiht diesen etwas Monumentales.
Dabei braucht kein Nachteil zu sein, dass
die Treppenanlagen – schon um die Wege
von und zu ihnen unabhängig von der
Wahl der Wagentür nicht allzu lang werden
zu lassen – sich nicht an den Enden
der rund 140 Meter langen Bahnsteige
befinden. Indem die Treppen relativ weit
in die hohen Hallen hineinragen, kann der
Fahrgast bereits mitten in diesen großen
Räumen auf den Bahnsteig hinabschreiten
bzw. -fahren.
Während am Bayerischen Bahnhof buntes,
unregelmäßig angeordnetes Gestänge
in den Tageslichtschächten der Zugänge
den Eindruck der Offenheit und Weite etwas
stört und am Markt schlanke Metallstelen, in
die Leuchten und Lautsprecher eingebaut
sind, auch bemerkenswert dicht an den
Bahnsteigkanten stehen, ist die Haltestelle
Wilhelm-Leuschner-Platz frei von solchen
optischen Beeinträchtigungen. Hier wurde
ein faszinierender Raum geschaffen mithilfe
von rund 130 000, jeweils zu quadratischen
Feldern zusammengefassten Glasbausteinen,
welche mit siebenhundert Lampen
hinterleuchtet werden und nicht nur die
Hintergleisflächen, sondern auch die Decke
vollständig verkleiden.
Wie für dieses spektakuläre Ergebnis, so
wurde auch bei den drei anderen Leipziger
Tunnelstationen mit ganz einfachen Materialien
und einer schnörkellosen, manchmal fast
etwas roh anmutenden Gestaltungsweise
gearbeitet: Zur Wirkung gebracht wurden
am Hauptbahnhof Naturstein, Stahl, Aluminium
und Glas, am Markt Terrakottaplatten
und Keramikstäbe, am Bayerischen Bahnhof
Sichtbeton und große, horizontal angeordnete
Aluplatten, zwischen denen auf Augenhöhe
über die volle Hallenlänge hinweg ein „interaktives
Farblichtband“ verläuft, das wechselnde
Farben zeigen soll. In den Zugangsbereichen
kam Sichtbeton zur Anwendung,
ebenso wie am Wilhelm-Leuschner-Platz,
wo auch Sitzbänke in eine Wand aus diesem
Material eingefügt wurden. Spötter könnten
sagen: da es weithin sowieso als unansehnlich
empfunden wird, kann ihm Vandalismus
nicht mehr viel schaden.
Frei gestaltet, hoffentlich zeitlos
Im Leipziger Citytunnel findet man nichts
mehr von jener Doktrin, derzufolge die Auskleidung
einer unterirdischen Bahnsteighalle
auf deren Lage oder Namen hinweisen sollte,
was dann an der Pleiße bedeutet hätte:
Dampflokbilder und historische Stationsansichten
am Haupt- und am Bayerischen Bahnhof,
Rathausphotos, Markt- und Messeszenen
am Markt (wo für den Halt die Untergrundmessehalle
von 1924/25 verschwand, deren
mit Rochlitzer Porphyr verkleideter, frisch
restaurierter Art-deco-Eingang nun dem
Bahnhof dient), und am Wilhelm-Leuschner-Platz
etwas zum Leben und Wirken des von
den Nazis ermordeten Gewerkschafters, SPD-Politikers
und Widerstandskämpfers.
Stattdessen durften die 1997 in einem
Wettbewerb ausgewählten prominenten
Büros HPP Hentrich-Petschnigg & Partner
(Hauptbahnhof), Kellner-Schleich-Wunderling
Architekten + Stadtplaner (Markt), Max Dudler
(Wilhelm-Leuschner-Platz) und Peter Kulka Architektur
(Bayerischer Bahnhof) die Hallen frei
von solchen Bezügen gestalten, ganz als autonome
architektonische Räume und in einer
hoffentlich möglichst zeitlosen Form.
Wie es in der Architektur von Tunnelstationen
mittlerweile üblich ist, sind die Anlagen
weitgehend frei von Reklame, ist die Möblierung
der Perronhallen auf das Notwendigste
reduziert. Bedauerlicherweise gehört dazu
nach Ansicht der Bahn (wieder einmal) auch,
auf Stationsschilder hinter den Gleisen zu
verzichten – bei lediglich zweigleisigen Hallen,
wo die gegenüberliegende Wand vom
Zug aus noch gut erkennbar ist, nicht ganz
einsichtig. Abzuwarten bleibt schließlich,
wie lange die Bahn und ihre Kunden ihre
Freude haben werden an den Bahnsteigbelägen,
die – wie ebenfalls mittlerweile üblich
– sehr hell sind und daher Schmutz und
Abnutzung besonders gut erkennen lassen.
Weitere Infos: www.citytunnelleipzig.de Jan Gympel
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