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Drei Tunnelröhren unter dem Ärmelkanal, mal als Eurotunnel, mal in Mischung der Wörter tunnel und channel als Chunnel bezeichnet, verbinden seit 1994 die britische Hauptinsel mit dem Kontinent. Welche Fragen läßt dieses Mammutprojekt offen, für das in Europa immerhin Kosten in Höhe von 25 Millarden D-Mark in Kauf genommen wurden?
1. Apr 1995
Als der Tunnel am 6. Mai l994 von der englischen Königin und von Frankreichs Präsident Mitterrand eingeweiht wurde, war dies keinesfall die Tunneleröffnung im eigentlichen Sinne. Es braucht(e) noch etwas Zeit, ehe der Zugverkehr so richtig in Fahrt kommt: Mit Shuttlezügen, beladen mit Lkw und Pkw, mit hochgeschwinden "Eurostar"-Personenzügen oder mit Güterzügen. Gleich mehrfach nämlich hatte sich die Betriebsaufnahme verzögert, so daß Tag für Tag Konventionalstrafen fällig wurden, die sich seit dem 16. Juni 1993 immerhin auf ein paar hundert Millionen Mark summierten. Nicht zuletzt diese Begleitumstände, die ins Geld gehen, sind es, die Argwohn und Kritik wecken. Es ist daher durchaus von klärendem Vorteil, die historischen Auslöser solcher Vorbehalte zum Visier der Betrachtung zu machen.
In 170 Jahren wurde das Projekt eines Tunnels unter dem Ärmelkanal 55mal vom britischen Parlament abgelehnt, während auf der französischen Seite so gut wie immer Zustimmung erfolgte. Dennoch gab es eine Reihe konkreter Projekte, den Tunnelbau in Angriff zu nehmen.
Am weitesten war man 1882/83 vorgedrungen: Auf französischer Seite betrug damals der Tunnelvortrieb 1.839 Meter, auf britischer Seite waren bereits 1.850 Meter vorangetrieben. Dann wurden die Arbeiten eingestellt: Das britische Kriegsministerium hatte den Abbruch mit einer militärischen Begründung durchgesetzt. Die „splendid isolation" konnte zumindest verkehrstechnisch weitere 112 Jahre erhalten werden. Erst die Europäische Union sorgte dafür, daß der Ärmelkanal keine natürliche Barriere mehr ist. "Dies Bollwerk vor weniger beglückter Länder Neid" ist spätestens seit 1994 nicht nur Literatur- sondern auch Verkehrsgeschichte. Nun ist Lyrik kein Argument; "Lieder“, wie sie einst Shakespeare verfaßte, spiegeln Iediglich gesellschaftliche Sichtweisen. Sie bieten damit aber einen Ansatz auch für die Betrachtung der Gegenwart. Und hier gilt: Der Eurotunnel entspricht nicht erkennbar gesamtgesellschaftlichen Bedürfnissen. Es handelt sich hier um ein Projekt, das in erster Linie die Zentren Paris und London stärken, die dazwischen liegenden Regionen entwerten, teilweise auch zerstören wird. Vor allem wird der Eurotunnel zusätzlichen Verkehr produzieren. Dies ist nur zum Teil ein Ergebnis der technischen Seite des Projekts. Bereits die Kapazität des Tunnels ist auf das Dreifache der derzeitigen Fährkapazitäten ausgelegt. Und diese Steigerung des Verkehrsaufkommens muß zumindest zu einem großen Teil erreicht werden, wenn die finanzielle Seite der Eurotunnel Planung aufgehen soll.
Die Verkürzung der eigentlichen Überquerungszeit ist bescheiden: Auf der schnellsten und mit dem Chunnel vergleichbaren Fährverbindung Calais - Dover benötigen herkömmliche Fährboote 75 Minuten. Die Fährgesellschaften beabsichtigen, ebenfalls im Stunden-Shuttle-Rhythmus zu fahren, indem die Kapazitäten der beiden Gesellschaften Stena Sealink und P&O koordiniert werden. Der Shuttle-Verkehr im Eurotunnel beansprucht als reine Reisezeit 35 Minuten, rund die Hälfte der entsprechenden Fährverbindung.
Die Be- und Entladungsprozeduren sind bei beiden Systemen ähnlich aufwendig. Tatsächlich stehen sich eineinhalb bis zwei Stunden Überquerungszeit im Fährbetrieb einer bis eineinhalb Stunden Überquerungszeit im Chunnel-Betrieb gegenüber. Nun ist jedoch der Komfortverlust bei einer Chunnel-Fahrt im Vergleich zur Fähre groß: Mindestens 20 Minuten werden die Passagiere in einer Röhre unter dem Meer transportiert. Einschließlich der Be- und Entladungszeit handelt es sich um gut eine Stunde.
Im Fall des Pkw-Verkehrs, was die bei weitem überwiegende Transportart sein wird, bleiben die Passiere in der Regel die ganze Zeit in ihrem Pkw. Der Mensch wird zum Transportgut, zur Ware. Individuelle Reaktionen und Bedürfnisse - zumal solche von weniger euro-genormten Menschen wie Kindern oder Seniorinnen und Senioren sind in der Chunnel-Welt ausgeklammert. Allein, wenn dieser Komfortverlust berücksichtigt wird, erscheint die zeitliche Einsparung von rund einer halben Stunde - bei Reise- und Transportentfernungen, die sich meist auf viele Stunden belaufen als eine zu vernachlässigende Größe.
Die Fährgesellschaften jedenfalls zeigen für die Schwächen des Chunnel-Projekts Sensibilität, d. h. ihr Profit-Instinkt läßt sie auf adäquate Weise für den kommenden harten Konkurrenzkampf rüsten. Sie reduzierten ihre Belegschaften drastisch, trotzten Streiks und intensivierten die Arbeit der Fährbesatzungen, so daß sie die Preise der Fährpassagen spürbar senken können bzw. für einen Preiskrieg gerüstet sind. Gleichzeitig investieren sie in den Kauf neuer Luxusfährschiffe, womit die längere Zeit auf dem Schiff gegenüber der Tunnelfahrt zum Vorteil des längeren zeitlichen Genusses von Komfort, Luxus und Reiseerlebnis geraten könnte.
Nicht verschwiegen werden soll, daß die Konkurrenz zwischen Eurotunnel und Fähren auf beiden Seiten die Sicherheit untergräbt: Bereits die Fährkatastrophe auf dem Schiff „Herald of Free Enterprice" am 6. März 1987, die 187 Menschenopfer forderte und für die Chunnel-Betreiber gewissermaßen „wie bestellt" kam, wird von gewerkschaftlichen Kreisen auch auf gerne Sparmaßnahmen dieser Fährgesellschaft in Erwartung der Chunnel-Konkurrenz zurückgeführt. Über die Sicherheit des Chunnel-Betriebs werden Ingenieure mit Aussagen zitiert wie: „Bei Feuer füllt sich der Tunnel wie ein Ofenrohr mit erstickendem Rauch."
Es wird sich herausstellen, wie sauber gearbeitet wurde. Doch gab es Hinweise, daß massenhaft aus der DDR Ostseesand exportiert und dem Beton beigemischt wurde - derselbe Sand, der sich im Fall der Reichsbahn-Betonschwellen als alkalihaltig erwies und selbige zerbröseln ließ. Dies wird noch von den Beschuldigungen des christdemokratischen niederländischen Europaparlamentariers J. L. Janssen van Raay übertroffen. Dieser erhob 1991 den Vorwurf, beim Bau des Chunnel sei chemischer und sogar radioaktiver Abfall verbuddelt worden. Der gefährliche Abfall soll sich in den Betonkonstruktionen und im Fundament des Bauwerks befinden.
Im März 1993 wurden diese Vorwürfe präzisiert. Das WDR-Wirtschaftsmagazin Plusminus berichtete - teilweise auf Recherchen desselben Parlamentariers gestützt in der Betonkonstruktion des Tunnels seien 100.000 Tonnen hochgiftige "Flugasche", die eigentlich als Sondermüll auf spezielle Deponien hätte verbracht werden sollen, „verarbeitet" worden. Der Sondermüll sei zuvor als „Beton-Additiv“ deklariert worden. Das Magazin gab Kostengründe für die Beimengungen an. „Die Industrie wollte Kosten sparen, denn die Entsorgung des Sondermülls ist teuer."
Solche Einwände erinnern an ein kühnes Projekt, das ein Jahrhundert früher realisiert wurde: die Brücke über den Tay in Schottland. Diese Brücke wurde eineinhalb Jahre nach ihrer feierlichen Einweihung, bei der die Fachwelt versicherte, es bestehe „keinerlei Zweifel an ihrer Stabilität“ (Times), am 29. Dezember 1879. in einer stürmischen Nacht mitsamt einem vollbesetzten Zug in die Tiefe gerissen. „Mit dieser Katastrophe“, so Peter Sager, „dreiunddreißig Jahre vor dem Unter gang der Titanic, war für die Viktorianer mehr als eine Brücke zusammengebrochen. Ihr Glaube an die Technik, dieser unbegrenzte Fortschrittsglaube, war dahin, Brücke und Eisenbahn, die beiden Symbole der Technik, lagen im Tay.“
Der Untersuchungsbericht dieses Unglücks stellte dann verblüffend lapidare Faktoren zusammen, die mit ausschlaggebend für das Unglück waren und die sich alle auf den Nenner „Profitgier" reduzieren lassen. So war das verwendete Eisen von derart minderer Qualität, daß bereits beim Guß Bruchstellen auftraten, die mit einer Mischung aus Bienenwachs und Ruß, die wie Gußeisen aussah, vertuscht wurden. Bei der Konstruktion wurde lediglich die statische Belastbarkeit, nicht jedoch die auf die Brücke einwirkenden Windkräfte, berücksichtigt. Aufgrund des schlechten Materials flogen bei jeder Bahnüberquerung Eisenteile aus dem Brückengestänge, was der Brückenwärter erst nach der Katastrophe zu Protokoll gab.
Immer noch wird der Tay-Brücken-Einsturz der Nachwelt als Gottesurteil oder Naturkatastrophe präsentiert. Im deutschsprachigen Raum muß dafür vor allem Theodor Fontanes Gedicht „Die Brücke am Tay“ herhalten, obwohl der Kehrreim am Schluß der Strophen eine an unmißverständliche Sprache spricht.
Der Eurotunnel bewirkt eine enorme Konzentration des Verkehrs auf eine einzige Route: 25 Milliarden Mark sind ein starkes Argument, alle weiteren Verkehrs- und viele andere Investitionen auf diese Strecke zu konzentrieren. So ist von einer Verbindung, die vor der Eröffnung des Eurotunnels für wichtig gehalten wurde, heute kaum mehr die Rede: Es war ursprünglich geplant, die Eurostar-Züge London - Paris außer zu den beiden Hauptstädten fast nirgendwohin, - aber nach Euro-Disneyland zu führen. - Oder in den Worten des Verkehrswissenschaftlers Walter Molt: „Das große Europa verspricht viel Freiheit der Bewegung... Die Entwicklung des Verkehrs gestattet. an den Produktions- und Konsumtionsweisen der Zentren teilzunehmen. Das ist der neue Wohlstand.“
Wenngleich die ersten Hochgeschwindigkeitszüge nun zwischen London und Paris verkehren, für die Freiheit der Bewegung liegen die Probleme an anderer Stelle: Euro-Disneyland selbst offenbarte sich im Herbst 1994 als am Rande des Ruins.
Riesige Flächen an beiden Chunnel-Enden mußten planiert werden. Allein der direkte Landschaftsverbrauch der beiden Verladestationen fraß 1.100 Hektar. Neue, große Autobahnen bzw. Hochgeschwindigkeitsstrecken schließen sich daran an, so eine neue sechsspurige Autobahn durch die südenglische Grafschaft Kent.
Dabei rechnet sich die halbe Stunde Zeitersparnis schon nicht mehr für Reisende und Transporteure aus Deutschland, den Niederlanden und Belgien, die das Ziel London oder gar Mittelengland, Schottland und Irland haben. Diese würden normalerweise in das niederländische Hoek van Holland oder in die belgisehen Fährhafen Ostende und Zeebrügge fahren, um von hier aus den Ärmelkanal zu überqueren. Durchaus vorstellbar ist nun, daß auch dieser Verkehr in Zukunft die bedeutend längere Anfahrt auf den dann massiv ausgebauten Verkehrswegen nach Calais in Kauf nehmen wird, z. B. wenn die Fährverbindungen sich verschlechtern. In der Gesamtzeitbilanz hat sich dann allerdings der angeführte Zeitvorteìl der schnellen Chunnel-Querung von Calais nach Folkestone völlig im britischen Nebel aufgelöst.
Dasselbe gilt, umgekehrt, für Menschen, die in Großbritannien leben und deren Reiseziel Europa ist. Sofern diese nicht in London oder in einer der Städte leben, die mit den wenigen neuen Hochgeschwindigkeitszügen verbunden sind, wird der Eurotunnel diesen - also der überwältigenden Mehrheit der Kontinent-Besucher von den Britischen Inseln - keinerlei Reisezeitverkürzung bringen. Selbst eine Großstadt wie Leeds wird nach der Eurotunnel-Eröffnung über keine kürzere Eisenbahnverbindung nach Paris oder Brüssel verfügen als zuvor.
Es gibt etwa eine halbe Million Kleinaktionäre, die sich, mit Blick auf den EG-Binnenmarkt und geblendet von den auf Glanzpapier gedruckten Werbeprospekten der Chunnel Company, Aktien dieser Gesellschaft zulegten. Womit wir bei einem neuen Aspekt, dem des „missing-link Business". sind. Wenn man nur vorsichtig die bisher bekannten Investitionssummen, die zur Schließung besagter „missing links" genannt werde, addiert, dann ergibt dies eine reine Bausumme von über 100 Milliarden Mark - noch nicht eingerechnet die Folgeinvestitionen (u. a. für neue Verkehrswege- zusätzlichen Verkehr- mehr Kfz). Es handelt sich hier - neben dem Agrarbusiness - um die profitabelsten Projekte der EU. Dies gilt besonders dann, wenn ein Finanzierungsmodell gefunden wird, bei dem das Unternehmerrisiko auf ein Heer von Kleinanlegern verteilt wird. Ein solches Modell ist der Europatunnel oder die britisch-französische Gesellschaft gleichen Namens.
Die Firma Eurotunnel ist eine Aktiengesellschaft, die faktisch von 208 internationalen Banken kontrolliert wird. Diese Banken gewähren der Firma Eurotunnel in erster Linie die Kredite - und sie verdienen an diesen Krediten außerordentlich gut. Der private Charakter der Gesellschaft erlischt nach 55 Jahren: dann geht sie in das Eigentum des französischen und britischen Staates über. Was auf den ersten Blick vernünftig aussieht, könnte sich als Danaer-Geschenk erweisen. Bei Projekten dieser Dimension stehen ziemlich genau nach einem halben Jahrhundert große Erhaltungsinvestitionen an - die dann wieder von den Steuerzahlern zu tragen sein werden.
Genauso hatte es sich im Eisenbahnbau verhalten. Alle großen Eisenbahnen waren private Gründungen gewesen. Und alle waren sie nach rund einem halben Jahrhundert gegangen. Die einen wurden dann verstaatlicht, womit die großen Ersatzinvestitionen von den Steuerzahlenden finanziert wurden - so geschehen in Europa. Die anderen, die privat oder überwiegend privat blieben, wurden bereits im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts auf eine Marktnische im Verkehrssektor verwiesen - so in Nordamerika.
Das Kapital für die Eurotunnel-Gesellschaft wurde im wesentlichen über Kleinaktionäre aufgebracht. Die renommiertesten Banken der Welt und führende Wirtschaftszeitungen gaben ihre Namen dafür her, den Argumenten Glauben zu schenken. Aber heute ist sicher, daß an den Prognosen bezüglich der finanziellen Perspektiven etwas nicht gestimmt hat: Der ursprünglich vorgesehene Finanzrahmen wurde gesprengt, statt 6 wurden über 25 Milliarden DM investiert.
Hinsichtlich der ersten Dividendenzahlungen bilanzierte die Financial Times 1990 ernüchtert: „Inzwischen wurde der Zeitpunkt erster Dividendenzahlungen hinausgezögert.“ Es gilt als sicher, daß das Unternehmen bis Anfang des nächsten Jahrhunderts keinerlei Dividende zahlen wird. Die Schweizer Handelszeitung geht davon aus, daß die Tunnelgesellschaft „frühestens 1998 aus der Verlustzone kommen kann, wenn die bisher vorgelegten Zahlen stimmen“, und spricht von einer „ernsten Lage" der Gesellschaft. Die Financial Times äußerte im November 1993 sibyllinisch, der „Tunnel braucht einen guten Start" - wenn nicht alles in einem Desaster enden solle.
Desaster für wen? S0 vage die Dividendenaussichten sind, so präzise ist bekannt, daß die Gesellschaft in allen Jahren ihrer 53jährigen Existenz Zinsen an die Kredit-Banken zahlen wird. Dabei sind Spitzenjahre vorgesehen, in denen die Gesellschaft über 1,5 Milliarden Mark für den Schuldendienst an die kreditgebenden Banken abführen muß. Noch 20 Jahre nach Inbetriebnahme soll dieser Schuldendienst sich auf eine Milliarde Mark jährlich belaufen. Die Banken dürften auf diese Art an der Eurotunnel-Company insgesamt rund 50 Milliarden Mark oder das Doppelte der Bausumme verdienen. Dieser Schuldendienst muß erst erwirtschaftet sein, bevor Devidenden ausbezahlt werden.
Als im Oktober 1991 und ein weiteres Mal Ende 1993 die Baukosten erhöht werden mußten und die Finanzierung des Projektes fraglich erschien, drohten die fünf britischen und fünf französischen Baukonzerne, die den Eurotunnel realisieren, ernstlich mit einem Baustopp. Eine dadurch oder auf andere Art ausgelöste Pleite des Projekts würde jedoch „nur" in der Verstaatlichung der Eurotunnel-Company münden also in einer Konstellation, die typisch für den Eisenbahn-Gründerboom Mitte des 19. Jahrhunderts war: Privatiers beginnen mit dem Bau neuer Verkehrswege. Hunderttausende Aktionäre Finanzieren diese Privatiers steigen aus, der Staat übernimmt notgedrungen. Einen Großteil der „Sanierungskosten" zahlen die Kleinaktionäre. Spätere Verluste des - nunmehr staatlichen - Projekts bezahlen dann die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.
Solche nicht nur für Aktienbesitzer trübe Aussichten ließen den Kurs der Aktie inzwischen erheblich in den Keller gehen. Dafür gibt es für Aktienbesitzer andere Hoffnungen. Sofern sie mindestens hundert Anteilscheine gekauft haben, winkt das unvergängliche Erlebnis, binnen eines Jahres nach Inbetriebnahme des Tunnels mit einem auf ihren Namen zugelassenen Pkw einmal den Chunnel hin und sogar wieder zurück durchfahren zu dürfen. Eine bezeichnende Notiz im Kleingedrucklen besagt, daß diese „Natural-Dividende" nur für eine Pkw-Passage. nicht jedoch für eine Passage mit einem Reisezug Gültigkeit habe.
Was wird, wenn der Eurotunnel nun fertiggebaut ist, aber dauerhaft nicht die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllt?
So etwas ist kein böses Geläster sondern anderenorts Wirklichkeit: Nicht unter dem Ärmelkanal, sondern zwischen den japanischen Inseln Hokkaido und Honshu verläuft der längste Tunnel der Welt, der eine Gesamtlänge von 54 Kilometern aufweist und bis zu 240 Meter unter dem Meeresspiegel liegt. Doch am Ende der 21 jährigen Bauzeit und bei der feierlichen Einweihung am 10. März 1985 herrschte Ratlosigkeit: Für die ursprüngliche Funktion des Bauwerks, eine Hochgeschwindigkeitszug-Verbindung von Tokio nach Sapporo, fehlt das Geld. Der Verkehr zwischen den Inseln wird in erster Linie auf dem Luftweg bewältigt.
Der Tunnel unter dem Ärmelkanal besteht aus drei Röhren, die jeweils 52 Kilometer lang sind. Sie verlaufen bis zu 38 Meter unter dem Meeresboden. Durch zwei dieser Röhren führen zwei Arten von Personen-Zugverkehr (vorzugsweise im Richtungbetrieb): Der Eurostar-Hochgeschwindigkeitsverkehr zwischen London und Paris bzw. Brüssel und ein Eisenbahn-Shuttel-Zugverkehr, der ausschließlich im Tunnel pendelt und je Zug bis zu 120 Pkw und 12 Lkw befördert. Die dritte Tunnelröhre wird gemeinhin als "Service-Röhre" bezeichnet. Es handelt sich um einen Versorgungs- und Rettungstunnel. Mercedes-Benz durfte hierfür spezielle Rettungsfahrzeuge konzipieren.
Auch wenn Katrastrophen natürlich offiziell als "ausgeschlossen" gelten, wurden Szenarien für alle "denkbaren" Katastrophen- Energieausfall, Brand, Maschinenschaden, Bombenanschlag, Entführung - erarbeitet.
Die kalkulatorischen Grunddaten des Eurotunnels sind bereits vor dessen Eröffnung äußerst unsicher. Geplant war für die Hochsaison ein Verkehr der Shuttel-Züge im Zehn-Minuten-Takt. Dazu wird es auf absehbarer Zeit nicht kommen, zum einen, weil nicht ausreichend Shuttle-Züge zur Verfügung stehen. Zum anderen, weil ein solcher Takt die vorgesehene Zahl von Eurostar-Personenzügen und von Güterzügen nicht zulassen würde.
Als Preis für ein Ticket im Pkw - einmal in der Röhre hin und zurück, inclusive Insassen - war der Kampfpreis von 98 britischen Pfund oder rund 250 DM angegeben worden. Inzwischen steht fest: In der Hochsaison wird deutlich mehr verlangt, erheblich mehr als im Fährverkehr. Die Fährgesellschaften könnten die Preis möglicherweise weiter senken, und dürften dazu bereits eine "Kriegskasse" angelegt haben.
Die Fahrpreise für den Personenzug Eurostar bewegen sich in der zweiten Klasse auf dem Niveau von Flugpreisen und in der ersten Klasse deutlich unter denselben. Die Kalkulation kennt nach dem Nachteil, den Fançois Mitterrand bissig anmerkte: "Die Reisenden durchqueren Frankreich in Höchstgeschwindigkeit, den Tunnel zügig, auf der anderen Seite können sie dann tagträumen." Die Hochgeschwindigkeitstrasse in England wird frühestens 2002 fertiggestellt sein. Der Widerstand in der Grafschaft Kent ist beachtlich, zumal hie Bürgerinitativen gewöhnlich von Millonären angefürht werden, durch deren gepflegten Vorgarten die Trasse verlaufen soll (Kampfslogan: "Nicht über meinen Rasen!"). Nach Fertigstellung der neuen Trasse könnten die Fahrpreise noch einmal ähnlich nach oben schnellen wie die Reisegeschwindigkeit (und wie bei den Shuttle-Preisen erfolgt). Vorteile dieser Verkehrsart gegenüber dem Flugverkehr, auf den der Eurostar vor allem abzielt und der sich mit der Liberalisierung weiter verbilligt, sind so kaum noch erkennbar: Die Reisezeit wird von Stadtmitte Paris zu Stadtmitte London vergleichbar lang oder kurz sein. Die Tarife für den Zug werden weitgehend dennen in der Luft entsprechen.
weitere Folgen:
Bereits erschienen:
Winfried Wolf
aus SIGNAL 2/1995 (April 1995), Seite 21-24