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Das Missing-link-Programm

Damit Sie, liebe Signal-Leser, beim Reizwort Tunnel nicht in die Röhre gucken, sondern durchblicken, hat sich die Redaktion entschlossen, etwas gegen die allgemeine Verdunklungsgefahr zu tun. Wir berichten in dieser und in den folgenden Signal-Ausgaben über unterschiedliche Bedenken und über verschiedene Phänomene zu diesem Thema. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Hier soll nicht gegen Tunnel, Brücken oder andere ingenieurtechnische Leistungen generell polemisiert werden; es geht darum, den Sinn und Unsinn von milliardenschweren Prestigeobiekten zu untersuchen, ihre Auswirkungen auf Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft. Lesen Sie die Betrachtungen und machen Sie sich selbst ein Bild. Winfried Wolf beginnt diese Reihe mit seinen Uberlegungen zum künftigen Verkehr in Europa.

Je mehr sich die Europäische Union herausbildet, desto mehr erweist sich, daß das versprochene Mehr an Freiheit vor allem Warenfreiheit meint und daß es darüber hinaus vor allem um die Freiheit des Handels der großen Unternehmen geht. Es entwickelt sich eine großräumig funktionierende Ökonomie mit einer arbeitsteiligen Produktion, die über tausende Kilometer hinweg kooperiert und korrespondiert, gleichzeitig jedoch regionale Wìrtschaftsstrukturen zerschlägt. Wenn Waren den in ihnen enthaltenen Wert auf einem tausende Kilometer entfernt liegenden Markt realisieren sollen, wenn Zulieferungen just in time - dann, wenn sie im Produktionsprozeß benötigt werden von oft weit entfernt liegenden Betrieben am Ort der Verarbeitung eintreffen sollen, oder wenn sich Entscheidungsträger über große Entfernungen hinweg zu einer Konferenz treffen wollen, dann wer den geradlinige Verkehrswege erwünscht. Nun stehen den Eurokraten und Freihändlern für eine solche Verkehrspolitik oft Berge, Meere und einheimische „Minderheiten“ im Weg. Dann gilt es, fehlende Verbindungsstücke - „missing links" - zu schließen und ein Klima zu schaffen. bei dem Widerstand pazifiziert, korrumpiert oder plattgemacht wird. Bereits 1984 bildete sich eine Chefrunde aus zwei Dutzend der bedeutendsten europäischen Konzerne, ein „Round table der Europäischen Industrie“. Ihr wesentliches Ziel war und ist das Missing-link-Programm. Mitte der neunziger Jahre ist das erste dieser Projekte zur Schließung verkehrspolitischer Engpässe vollendet, bei anderen sind gewaltige Baumaßnahmen in Gang und weitere befinden sich noch im konkreten Stadium der Planung.

Das Missing-link-Programm

  • Der Tunnel unter dem Ärmelkanal wurde offiziell am 6. Mai 1994 eröffnet und mit ihm erstmals eine feste Verbindung zwischen der britischen Insel und Kontinentaleuropa hergestellt.
  • Über die Pyrenäen werden zwei Hochgeschwindigkeitsstrecken (Madrid Bordeaux und Narbonne - Barcelona) und neue Hochleistungsstraßen gebaut. Darunter die Straße, die durch das Aspe-Tal führt und einen großen Tunnel am Somport-Paß erfordert.
  • Mehrere Tunnel in der Schweiz und in Österreich und in Italien sollen die Gebirgsmassen als Freihandels-Hindernis beseitigen, getreu der alten Forderung: „Nieder mit den Alpen - freier Blick aufs Mittelmeer“. In Österreich und Italien ist dies der mehr als 50 Kilometer lange Brennerbasis-Tunnel, der an dieser Stelle fast ganz Österreich untertunnelt. In der Schweiz ist das der knapp 50 Kilometer lange Tunnel unter dem Gotthard und ein 29 Kilometer langer Tunnel am Lötschberg; Projekte, die als Ne Eisenbahn Alpentraversale (NEAT) zusammengefaßt werden.
  • Schließlich mißfiel den Protagonisten der Warenfreiheit der Umstand, daß Dänemark aus zu vielen Inseln besteht und daß mißlicherweise die Eiszeit einen tiefen Graben zwischen Dänemark und dem übrigen Skandinavien gerissen hatte. Hier entsteht mit „Scan-link“ eine gewaltige Brückenund Tunnelkonstruktion. Kopenhagen und Malmö sollen auf diese Weise zu der neuen Stadt „Örestad" Zusammenwachsen.

So unterschiedlich nach Art und so unterschiedlich weit fortgeschritten diese Projekte sind, die dazu geäußerte Kritik ist in der Regel vergleichbar. Sie bewegt sich auf drei Ebenen: einer ökologischen, einer ökonomischen und einer demokratischen.

Mit Beton gegen die Natur?

Ökologische Einwände führen zunächst krete Umweltzerstörungen an, die der Bau solcher Großprojekte , der sich meist über ein Jahrzehnt und länger erstreckt, anrichtet, beispielsweise die gigantischen Mengen an Abraum; die Zerstörung von Dörfern, Wohnraum und Natur. Sie nennen spezifische Probleme: So könnte Scan-Link das bereits erheblich gefährdete Ökosystem Ostsee zum Kippen bringen. Der Tunnel Aspe-Tal wird den letzten Pyrenäen-Bären den Lebensraum nehmen. Darüber hinaus, so die Umweltschützer dort, diene die hier geplante Schnellstraße vor allem den Giftmüllexporten in die spanische Deponie Sabinánigo.

Vor allem gilt für alle Projekte: Sie werden eine enorme Zunahme von Verkehr mit sich bringen. Scan-link z. B. soll den Lkw-Transitverkehr durch Dänemark verzehnfachen. Der größte Teil dieser Verkehrszunahme wird „künstlicher Verkehr“ sein; Verkehr, der nicht primär wichtige Bedürfnisse befriedigt, sondern durch Verkehrswege entsteht, die ihre Kosten nicht decken und subventioniert werden. Mehr Verkehr heißt mehr Abgase, mehr Krankheiten, Zunahme des Waldsterbens, mehr Muren (Niedergang von Gebirgsböden begünstigt durch die Schwächung der Baumwurzeln).

Auf der Brennerautobahn werden heute bereits an einem durchschnittlichen Tag mehr als 50 Tonnen Kohlenmonoxid, Stickoxide, Kohlenwasserstoff, Ruß und Blei emittiert - 60 Prozent davon resultieren aus dem Transitverkehr. Müttern im österreichischen Wipptal wird empfohlen, ihren Babies keine Muttermilch zu geben. Die topographische Struktur der Alpen und Pyrenäen führt dazu, daß die Lärmemissionen einen fünfmal breiteren „Teppich" über die Landschaft legen als im Fall einer vergleichbar belasteten Autobahn in ebenem Gelände. Dieser Lärm läßt einzelne Tierarten ständig auf der Flucht sein, so daß diese tödlich bedroht sind.

Was kostet Europa?

Die ökonomische Kritik hat zunächst die Baukosten im Visier: Scan-link wird rund 15 Milliarden Mark teuer kommen. Beim Ärmelkanaltunnel, beim Brennerbasistunnel und beim NEAT-Projekt werden jeweils 25 Milliarden Mark vergraben werden. Insgesamt sollen für das Missing-link-Programm in den neunziger Jahren weit mehr als 100 Milliarden Mark ausgegeben werden. Würden solche Kosten ernsthaft dem Verkehr zugerechnet, müßte sich dieser derart verteuern, daß nur noch ein Bruchteil davon stattfände. Doch gerade hier setzen die Verfechter der Marktwirtschaft dieselbe außer Kraft, indem sie diese Projekte massiv - u. a. durch Gelder der europäischen Union subventionieren. Die Theorie, ein Mehr an Verkehr bringe ein Mehr an Wohlstand oder ein Florierender Wirtschaftsregion, durch die der Verkehr brause, mit sich, gilt längst als irrig: „Wir werden entlang der Transitroute Eis und Würstchen an Schweden und Deutsche verkaufen“, schrieben die dänischen Scan­link-Gegnerinnen und -Gegner an die Deutsche Bank, die sich für das Tunnel-Projekt Puttgarden-Rodby stark macht.

Anti-Verkehrs-Plebiszite?

Schließlich gibt es Kritik, diese Projekte verletzten elementare Grundsätze der Demokratie. Die Bevölkerung in unmittelbar betroffenen Gebieten wird wenig nach ihrer Meinung gefragt. Oft werden einzelne kleinere Nationalstaaten förmlich erpreßt so wurde und wird massiver Druck der EU-Bürokratie auf die Schweiz, auf Österreich und Dänemark ausgeübt, damit diese ihre Umweltschutzbedingungen abschwächen, die Lkw-Verkehrsrestriktionen aufheben und besagten Missing-link-Projekten zustimmen. An anderer Stelle z. B. bei vergleichbaren Projekten in Spanien und Portugal wird derart massig Geld der EU oder von am Bau beteiligten Konzernen eingesetzt, daß schlicht von Korruption gesprochen werden muß.

Gelingt es jedoch, das jeweilige Mammutprojekt in der Bevölkerung breit zu diskutieren oder kommt es gar zu Abstimmungen, so bringen diese überraschende Ergebnisse: In Schweden droht derzeit das Scan­link-Projekt wegen massiver Kritik in der Bevölkerung zu scheitern, obwohl bereits rund die Hälfte der vorgesehenen Summe verbaut wurde. In der Schweiz brachte eine erste Volksabstimmung zunächst nur eine knappe Zustimmung zu NEAT. In einer zweiten Abstimmung im Jahr 1994 erhielt die Position eine knappe Mehrheit, die verlangt, daß die Restriktionen beibehaiten und Lkw-Transit-Verkehre ganz auf Schienen gezwungen werden. In Brüssel hieß es darauf, damit habe sich die Schweiz „völlig isoliert“.

„Der Aufstand der Seßhaftigkeit muß in die Rechtsordnung eingefügt werden." formulierte der Verkehrswissenschaftler Werner Molt. "Ohne freie Zustimmung der Bewohner eines Gebiets darf es keinen Weg oder Durchgang geben. Das ist nicht das Ende der Bewegung, sondern das Ende des Mobilitätszwangs; nicht das Ende des öffentlichen Wohls, sondern der Anfang des Vorrangs des Dialogs vor der Gewalt der zentralen Macht."

Der Autor

Dr. phil. Winfried Wolf (45) ist Diplompolitologe, Publizist und Mitglied des Deutschen Bundestages in der PDS-Fraktion. Seine Arbeitsthemen sind Verkehrspolitik und Weltwirtschaft.

Veröffentlichungen:
Berlin - Weltstadt ohne Auto (1994),
Festung Europa (1994),
Sackgasse Autogesellschatt (3. Auflage 1993),
Die autofreie Stadt (1993),
Eisenbahn und Autawahn (3. Auflage 1992),
500 Jahre Conquista Die Dritte Welt im Würgegriff (1992),
Neues Denken oder Neues Tanken? - DDR-Verkehr 2000 (1990),
Autokrìeg - Konzerne rüsten für die Zukunft (1986).

In der nächsten SIGNAL-Ausgabe lesen sie:

weitere Folgen:

Winfried Wolf

aus SIGNAL 1/1995 (Februar 1995), Seite 12-13

 

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