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Je mehr sich die Europäische Union herausbildet, desto mehr erweist
sich, daß das versprochene Mehr an Freiheit vor allem Warenfreiheit meint
und daß es darüber hinaus vor allem um die Freiheit des Handels der großen
Unternehmen geht. Es entwickelt sich eine großräumig funktionierende
Ökonomie mit einer arbeitsteiligen Produktion, die über tausende Kilometer
hinweg kooperiert und korrespondiert, gleichzeitig jedoch regionale
Wìrtschaftsstrukturen zerschlägt. Wenn Waren den in ihnen enthaltenen
Wert auf einem tausende Kilometer entfernt liegenden Markt realisieren
sollen, wenn Zulieferungen just in time - dann, wenn sie im
Produktionsprozeß benötigt werden von oft weit entfernt liegenden
Betrieben am Ort der Verarbeitung eintreffen sollen, oder wenn sich
Entscheidungsträger über große Entfernungen hinweg
zu einer Konferenz treffen wollen, dann wer
den geradlinige Verkehrswege erwünscht. Nun stehen den Eurokraten und
Freihändlern für eine solche Verkehrspolitik oft Berge, Meere und
einheimische „Minderheiten“ im Weg. Dann gilt es, fehlende
Verbindungsstücke - „missing links" - zu schließen und ein Klima zu
schaffen. bei dem Widerstand pazifiziert, korrumpiert oder plattgemacht
wird.
Bereits 1984 bildete sich eine Chefrunde aus zwei Dutzend der
bedeutendsten europäischen Konzerne, ein „Round table der Europäischen
Industrie“. Ihr wesentliches Ziel war und ist das Missing-link-Programm.
Mitte der neunziger Jahre ist das erste dieser Projekte zur Schließung
verkehrspolitischer Engpässe vollendet, bei anderen sind gewaltige
Baumaßnahmen in Gang und weitere befinden sich noch im konkreten Stadium
der Planung.
Das Missing-link-Programm
- Der Tunnel unter dem Ärmelkanal wurde offiziell am 6. Mai 1994 eröffnet
und mit ihm erstmals eine feste Verbindung zwischen der britischen Insel
und Kontinentaleuropa hergestellt.
- Über die Pyrenäen werden zwei Hochgeschwindigkeitsstrecken (Madrid Bordeaux
und Narbonne - Barcelona) und neue Hochleistungsstraßen gebaut. Darunter die
Straße, die durch das Aspe-Tal führt und einen großen Tunnel am Somport-Paß
erfordert.
- Mehrere Tunnel in der Schweiz und in Österreich und in Italien sollen die
Gebirgsmassen als Freihandels-Hindernis beseitigen, getreu der alten
Forderung: „Nieder mit den Alpen - freier Blick aufs Mittelmeer“. In
Österreich und Italien ist dies der mehr als 50 Kilometer lange
Brennerbasis-Tunnel, der an dieser Stelle fast ganz Österreich untertunnelt.
In der Schweiz ist das der knapp 50 Kilometer lange Tunnel unter dem
Gotthard und ein 29 Kilometer langer Tunnel am Lötschberg; Projekte, die
als Ne Eisenbahn Alpentraversale (NEAT)
zusammengefaßt werden.
- Schließlich mißfiel den Protagonisten der Warenfreiheit der
Umstand, daß Dänemark aus zu vielen Inseln besteht und daß mißlicherweise
die Eiszeit einen tiefen Graben zwischen Dänemark und dem übrigen
Skandinavien gerissen hatte. Hier entsteht mit „Scan-link“ eine gewaltige
Brückenund Tunnelkonstruktion. Kopenhagen und Malmö sollen auf diese
Weise zu der neuen Stadt „Örestad" Zusammenwachsen.
So unterschiedlich nach Art und so unterschiedlich weit fortgeschritten
diese Projekte sind, die dazu geäußerte Kritik ist in der Regel
vergleichbar. Sie bewegt sich auf drei Ebenen: einer ökologischen, einer
ökonomischen und einer demokratischen.
Mit Beton gegen die Natur?
Ökologische Einwände führen zunächst krete Umweltzerstörungen an, die der
Bau solcher Großprojekte , der sich meist über ein Jahrzehnt und länger
erstreckt, anrichtet, beispielsweise die gigantischen Mengen an Abraum; die
Zerstörung von Dörfern, Wohnraum und Natur. Sie nennen spezifische
Probleme: So könnte Scan-Link das bereits erheblich gefährdete Ökosystem
Ostsee zum Kippen bringen. Der Tunnel Aspe-Tal wird den letzten
Pyrenäen-Bären den Lebensraum nehmen. Darüber hinaus, so die
Umweltschützer dort, diene die hier geplante Schnellstraße vor allem
den Giftmüllexporten in die spanische Deponie Sabinánigo.
Vor allem gilt für alle Projekte: Sie werden eine enorme Zunahme von
Verkehr mit sich bringen. Scan-link z. B. soll den Lkw-Transitverkehr
durch Dänemark verzehnfachen. Der größte Teil dieser Verkehrszunahme
wird „künstlicher Verkehr“ sein; Verkehr, der nicht primär wichtige
Bedürfnisse befriedigt, sondern durch Verkehrswege entsteht, die ihre
Kosten nicht decken und subventioniert werden. Mehr Verkehr heißt mehr
Abgase, mehr Krankheiten, Zunahme des Waldsterbens, mehr Muren (Niedergang
von Gebirgsböden begünstigt durch die Schwächung der Baumwurzeln).
Auf der Brennerautobahn werden heute bereits an einem durchschnittlichen
Tag mehr als 50 Tonnen Kohlenmonoxid, Stickoxide, Kohlenwasserstoff, Ruß
und Blei emittiert - 60 Prozent davon resultieren aus dem Transitverkehr.
Müttern im österreichischen Wipptal wird empfohlen, ihren Babies keine
Muttermilch zu geben. Die topographische Struktur der Alpen und Pyrenäen
führt dazu, daß die Lärmemissionen einen fünfmal breiteren „Teppich" über
die Landschaft legen als im Fall einer vergleichbar belasteten Autobahn in
ebenem Gelände. Dieser Lärm läßt einzelne Tierarten ständig auf der Flucht
sein, so daß diese tödlich bedroht sind.
Was kostet Europa?
Die ökonomische Kritik hat zunächst die Baukosten im
Visier: Scan-link wird rund 15
Milliarden Mark teuer kommen. Beim Ärmelkanaltunnel, beim Brennerbasistunnel
und beim NEAT-Projekt werden jeweils 25 Milliarden Mark vergraben werden.
Insgesamt sollen für das Missing-link-Programm in den neunziger Jahren
weit mehr als 100 Milliarden Mark ausgegeben werden. Würden solche Kosten
ernsthaft dem Verkehr zugerechnet, müßte sich dieser derart verteuern, daß
nur noch ein Bruchteil davon stattfände. Doch gerade hier setzen die
Verfechter der Marktwirtschaft dieselbe außer Kraft, indem sie diese Projekte
massiv - u. a. durch Gelder der europäischen Union subventionieren. Die
Theorie, ein Mehr an Verkehr bringe ein Mehr an Wohlstand oder ein Florierender
Wirtschaftsregion, durch die der Verkehr brause, mit sich, gilt
längst als irrig: „Wir werden entlang der Transitroute Eis und Würstchen
an Schweden und Deutsche verkaufen“, schrieben die dänischen
Scanlink-Gegnerinnen und -Gegner an die Deutsche Bank, die sich für
das Tunnel-Projekt Puttgarden-Rodby stark macht.
Anti-Verkehrs-Plebiszite?
Schließlich gibt es Kritik, diese Projekte verletzten elementare
Grundsätze der Demokratie. Die Bevölkerung in unmittelbar betroffenen
Gebieten wird wenig nach ihrer Meinung gefragt. Oft werden einzelne
kleinere Nationalstaaten förmlich erpreßt so wurde und wird massiver
Druck der EU-Bürokratie auf die Schweiz, auf Österreich und Dänemark
ausgeübt, damit diese ihre Umweltschutzbedingungen abschwächen, die
Lkw-Verkehrsrestriktionen aufheben und besagten Missing-link-Projekten
zustimmen. An anderer Stelle z. B. bei vergleichbaren Projekten in
Spanien und Portugal wird derart massig Geld der EU oder von am Bau
beteiligten Konzernen eingesetzt, daß schlicht von Korruption gesprochen
werden muß.
Gelingt es jedoch, das jeweilige Mammutprojekt in der Bevölkerung breit
zu diskutieren oder kommt es gar zu Abstimmungen, so
bringen diese überraschende Ergebnisse: In Schweden droht derzeit das
Scanlink-Projekt wegen massiver Kritik in der Bevölkerung zu scheitern,
obwohl bereits rund die Hälfte der vorgesehenen Summe verbaut wurde. In
der Schweiz brachte eine erste Volksabstimmung zunächst nur eine knappe
Zustimmung zu NEAT. In einer zweiten Abstimmung im Jahr 1994 erhielt die
Position eine knappe Mehrheit, die verlangt, daß die Restriktionen
beibehaiten und Lkw-Transit-Verkehre ganz auf Schienen gezwungen werden.
In Brüssel hieß es darauf, damit habe sich die Schweiz „völlig
isoliert“.
„Der Aufstand der Seßhaftigkeit muß in die Rechtsordnung
eingefügt werden." formulierte der Verkehrswissenschaftler Werner
Molt. "Ohne freie Zustimmung der Bewohner eines Gebiets darf es keinen
Weg oder Durchgang geben. Das ist nicht das Ende der Bewegung, sondern
das Ende des Mobilitätszwangs; nicht das Ende des öffentlichen
Wohls, sondern der Anfang des Vorrangs des Dialogs vor der Gewalt der
zentralen Macht."
Der Autor
Dr. phil. Winfried Wolf (45) ist Diplompolitologe, Publizist
und Mitglied des Deutschen Bundestages in der PDS-Fraktion. Seine
Arbeitsthemen sind Verkehrspolitik und Weltwirtschaft.
Veröffentlichungen:
Berlin - Weltstadt ohne Auto (1994),
Festung Europa (1994),
Sackgasse Autogesellschatt (3. Auflage 1993),
Die autofreie Stadt (1993),
Eisenbahn und Autawahn (3. Auflage 1992),
500 Jahre Conquista Die Dritte Welt im Würgegriff (1992),
Neues Denken oder Neues Tanken? - DDR-Verkehr 2000 (1990),
Autokrìeg - Konzerne rüsten für die Zukunft (1986).
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