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Solange der Faktor Zeit keine Rolle spielte und Verkehrströger Füße,
Pferde, Ochsenkarren und Pferdekutschen waren, gab es wenig Grund zum
Bau von Tunneln. Täler wurden durchschritten und Berge möglichst umgangen.
Es war die industrielle Revolution, die eine radikale Wende herbeiführte.
Die (Arbeits-) Zeit wurde zum Maß aller weltlichen Dinge, und neue
Verkehrstechnologien dynamisierten diese Zeitbestimmtheit. Aber reicht
dieses muster auch für die Neuzeit, wenn durch enormen technischen
Aufwand zwar kürzere Wege entstehen, diese jedoch kaum mehr zu
nennenswerten Kürzungen von Gesamt-Wegezeiten führen?
Wasserwege und Eisenbahn
Nicht Eisenbahnen, sondern Kanäle stellten die erste Revolution im
Transportsektor dar. Da waren zunächst die 8.000 km langen Kanäle,
durch die mehr als 100 Jahre lang die ersten massengefertigten Waren
im Mutterland der industriellen Revolution, in England. geschaukelt wurden.
Wasserstraßen kennen eine ausgesprochene Abneigung gegen Steigungen und
Gefälle. Waren diese unvermeidlich, so mußten sie mit aufwendigen
(und zeitraubenden) Schleusen überwunden werden. Ein möglichst ebener
Verlauf des Verkehrsweges erforderte, was Höhen und Tiefen betrifft,
zugleich die Begradigung der Natur, also Tunnel und Brücken. Dabei war es,
von einem rein technischen Standpunkt aus gesehen, noch gleichgültig, ob
diese Wasserwege geradlinig oder der "krummen" Natur folgend verliefen.
Ein Dreivierteljahrhundert nach dem Kanalbau entwickelte sich der
Eisenbahnbau; in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden Schienenwege
zu den vorherrschenden Verkehrstrassen. Diese gestatteten zwar bescheidene
Steigungen, jedoch keine engen Radien.
Der Tunnel als Fortsetzung der Brücke mit anderen Mitteln
Kanäle und Eisenbahnen, die Verkehrstechniken der industriellen Revolution,
begünstigten, daß die mathematische Erkenntnis, wonach die kürzeste
Verbindung zwischen zwei Punkten die Gerade ist, die
Verkehrswege-Ingenieurkunst bestimmte. Von nun an galt, daß die zwischen
einer solchen
Gerade liegende Natur nach Möglichkeit zu
überwinden - anstatt zu umgehen - wäre. Nun erst wurden Brücken und Tunnel
zu einem massenhaften Phänomen: beide bedingen sich gegenseitig: der Tunnel
ist die Fortsetzung der Brücke mit anderen Mitteln. Ausgangspunkt dieses
Verkehrswegebaus mit Brücken und Tunneln war nicht mehr das absolute
Erfordernis. z. B. einen Fluß zu queren, sondern Zeitdiktat. Statt der
einmaligen Querung eines Flusses konnte es nun Sinn machen, diesen gleich
dutzendfach zu überbrücken, den krummnen Flußverlauf ignorierend die Gerade
einzuhalten.
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Tunnelröhre der Berliner U8: das Dunkel, Schlange und Phallus, die Bewegung hin und her... Foto: M. Heller |
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Der berühmteste Kanal Großbritanniens, der Llangollan Canal in Wales,
verfügt über ein Aquädukt über den River Ceirog, das geradewegs in einen
Wassertunnel übergeht und kurz darauf in dem wohl weltweit berühmtesten
Pontcysyllte Aqueduct mündet, das in Kirchturmhöhe über ein Tal und über
den Fluß Dee hinwegführt. Ich empfand es im letzten Sommer durchaus
beeindruckend, als das „narrow boat" diese Passage nahm. Andere Zeitgenossen
scheinen hierbei von ausgesprochen erhabenen Gefühlen bewegt zu werden.
Aus einem neueren Bericht: „Ich kenne keine Strecke auf dieser Erde, wo das
Erdinnere und der Himmel, wo graben und fliegen so eng beieinander liegen."
(Detlef Hofmann, in: Tunnel - Orte des Durchbruchs, Marburg 1992, S. 34).
Vergleichbare Argumente, wie sie für den traditionellen Brücken- und
Tunnelbau in der industriellen Revolution vorgebracht wurden, trafen
beispielsweise für Tunnel unter dem Ärmelkanal so lange zu, wie die im
Fährverkehr angewandten Techniken extrem aufwendig, zeitraubend und
bezüglich der
Sicherheit unzureichende waren. Davon allerdings kann heute keine Rede
mehr sein, denn Fähren sind ebenso sicher und unsicher wie schnelle
Unterwasser-Shuttle-Züge. Insbesondere verkürzt der Eurotunnel nicht die
Gesamtsumme all jener Reisezeiten, bei denen eine Kanalquerung erforderlich
ist, und schon gar nicht rechnet er sich unter den gegebenen und absehbaren
Umständen, wenn die im Tunnelbau verausgabte Zeit in diese Rechnung mit
einbezogen wird. Und durchaus ähnlich verhält es sich bei einem U-Bahn-Projekt,
wie dem der umstrittenen U5-Verlängerung in Berlin. Einem reinen
Fahrzeitgewinn von höchstens vier Minuten würden bei einer Realisierung
dieser U-Bahnstrecke zwischen Alexanderplatz und dem geplanten Lehrter
Fernbahnhof Zeitverluste für längere Fußwege zu den wenigen Bahnhöfen und
Umsteige-Zeitverluste gegenüberstehen. Hingegen könnten Straßenbahnen, die
viel billiger als U-Bahnen zu bauen wären, der neuen Berliner Innenstadt
viele Haltestellen und Direktverbindungen in viele Richtungen bringen.
Dadurch ergäben sich kurze Fußwegzeiten und weitaus weniger Zeitverluste
durch Umsteigevorgänge.
Bleibt die Frage: Was sind heute die Gründe für
Projekte wie Eurotunnel oder U-Bahnen oder für Großtunnel, mitten durch
Gebirgsmassive wie Gotthard oder Brenner hindurch? Weshalb kommt es zu
immer absurderen Plänen für Tunnel-Lösungen. obgleich man allerorts erklärt,
zum Schutze der Umwelt den Verkehr künftig eher reduzieren zu wollen?
Soll der zusätzliche Verkehr vielleicht nur versteckt und unsichtbar gemacht werden?
Umweltschutz 2000:
Alle werden Kellerkinder
- Da will der Landshuter Oberbürgermeister die Innenstadt untertunneln.
- Da gab es das ernsthaft verfolgte Projekt, ganz Paris mit Autobahnen zu untertunneln.
- Demnächst soll die Insel Hainan per 30 Kilometer langem Tunnel an
Festland-China „angebunden“ werden (den Bauauftrag erhielt eine britische
Firma; Baubeginn war l994, just dann, als Eurotunnel-Kapazitäten frei wurden).
- In der Schweiz gibt es das von Verkehrsminister Ogi propagierte
Projekt „Swiss-Metro", mit dem per Magnet-U-Bahnen alle wichtigen
Städte unterirdisch verknüpft werden sollen.
Im Herbst 1992 war ich zu einer Tagung eingeladen, auf der grundsätzlich
die Verlegung großer Teile des menschlichen Lebens unter Tage propagiert
wurde. Im Einladungstext des Südtiroler Ingenieurn und Architektenvereins
hieß es: „Der für die Verbauung zur Verfügung stehende Lebensraum wird
knapper... Verkehrsflächen aller Art und Lager werden in Zukunft großteils
unterirdisch angelegt. Damit wird man vor allem den Anforderungen des
Umweltschutzes gerecht.“
Während es für den Bau von U-Bahnen in
Großstädten noch den einleuchtenden Lobby-Grund gibt, damit oberirdische
Verkehrsflächen für Autos frei zu bekommen, so erscheinen die soeben
genannten Projekte bar jeder Logik und voller Ignoranz jeglichen
Kosten-Nutzen-Rechnungen gegenüber. Dies stützt die Vermutung, daß
die wirklichen Gründe für Tunnel gänzlich anderer Natur sind.
Weshalb zürnt die Berggöttin?
Lord Randolph, der Vater von Winston Churchill. gab einen Hinweis,
als er 1899 in einer
Stellungnahme gegen den Ärmelkanaltunnel schrieb: "Das Ansehen
Englands beruht bis auf den heutigen Tag auf seiner Existenz als intakter
Jungfrau (virgo intacta)." Die von der Österreichischen Staatsbahn
herausgegebene Zeitung „Eurocity" titelte 1991 zum
Eurotunnel: „Wie ein Inselvolk endlich seine Jungfräulichkeit
verliert." (ÖBB, Eurocity, l/1991).
In Japan gab es vor kurzem ein Verbot weiblicher Präsenz in Tunneln
während deren Baus und bei deren Einweihung. Als Journalistinnen dies
erstmals brechen konnten, erhielten sie vom zuständigen Manager der
Baufirma; Hitoshi Oishi, die Auflage, "wenigstens nicht in Röcken [zu]
erscheinen“. Bei diesem bislang längsten Unterwassertunnel zwischen den
Inseln Honshu und Hokkaido gab es zunächst eine Einweihungsfeier ohne
Frauen. Auf Druck weiblicher Proteste wurde sechs Monate später eine zweite
Einweihungsfeier durchgeführt, an der Journalistinnen teilnehmen durften.
Dabei wurde strikt darauf geachtet, daß keine Bauarbeiter gleichzeitig im
Tunnel waren und die Feier nicht an einem Werktag stattfand. Der Tokyoter
dpa-Korrespondent schrieb damals: „Offensichtlich hatte auch die
eifersüchtige Berggöttin ein freies Wochenende genommen." (Frankfurter
Rundschau vom 22. Februar 1988).
Männer im Tunnelbau als symbolische Akte der Entjungferung, ein von
Männer-Gehirnen entwickelter Aberglaube, wonach ihre Berggöttin
eifersüchtig würde, wenn andere Frauen in dieses - ihr - Tunnel gelangten?
Nun finden sich Relikte solchen Aberglaubens aber nicht nur in Fernost
sondern auch hierzulande, wo auch innerstädtische Schnellbahntunnel bei
bergmännischer Bauweise weibliche Namen erhalten. Als aktuelles Beispiel
seien die kürzlich eröffneten, im Schildvortrieb gebauten Tunnelröhren der
Berliner U-Bahnlinie U8 genannt. Sie erhielten die Namen "wichtiger"
Frauen: Die eine den der Gattin des (bei Baubeginn) Regierenden
Bürgermeisters von Berlin (Diepgen) und die andere den der Reinickendorfer
Bezirksbürgermeister-Gattin (Orwat).
So zeigt sich auch hier, daß die Gesellschaft im allgemeinen und die
Verkehrs- und Baupolitik in der Autogesellschaft im besonderen von einem
„männlichen Produktivitätsbegriff" geprägt ist. Alles Krumme, Runde,
Hügelige, Bergige, Überflutete, an das andere Geschlecht erinnernde will
in der männlichen Planerwelt überwunden, flach gemacht, begradigt,
eingeebnet, untertunnelt, überbrückt, zugedekelt, mit Beton zugeschüttet - eben
beherrscht und dem Manne gleich gemacht werden. Ist diese Verkehrswelt
nur dann im Lot - richtig, gerichtet, regiert -, wenn sie sich gerade
ausgerichtet und erigiert präsentiert?
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