Signal • Serie

Spreetunnel anno 1895

Inmitten von Lärm, Abgasen, Industrieflächen und Häuserschluchten finden sich innerhalb des urbanen Gebildes, das sich zusammengenommen Berlin nennt, einige Ruhe versprechende grüne Flecken. Einer davon ist der Treptower Park. Durchquert man ihn entlang der Spree, schweift der Blick auch gelegentlich zum anderen Ufer des Flußlaufes. Ein markanter Blickfang ist der Turm der Stralauer Dorfkirche, erbaut von 1459 bis 1464. Wenn der Spaziergänger etwa auf Höhe des Kirchturms angekommen ist, sollte er einen Moment ìnnehalten - und seine Phantasie bemühen. Können Sie sich vorstellen, daß an genau dieser Stelle der erste dem Öffentlichen Verkehr dienende Bahntunnel in Berlin die Spree unterquerte?

Straßenschild

Die wenigen Eingeweihten wissen Bescheid, wobei auch davon die wenigsten auf Anhieb die genaue Stelle lokalisieren können. auf Treptower Seite sind fast alle Spuren verwischt. Vielleicht ist auf der anderen Seite des Wassers etwas zu finden? Dazu müssen wir erst einmal zur Treptower Spreebrücke zurück. Auf der anderen Seite des Wasser bringt uns der 147er Bus nach Alt-Stralau. Und siehe, da gibt es eine "Tunnelstraße". Das verblichene und nicht mehr vollständige Schild eines einstigen Glas-Bier-Geschäfts verkündete bis vor kurzem über seinen blinden Fensterhölen: "Zum Spreetunnel". Dann hört es aber auch schon auf. Es sei den, der Mittelstreifen in Alt-Stralau läßt sich mit reichlich Phantasie als das indentifizieren, was er einmal war: die Zufahrt zu besagtem Tunnel.

Von diesem durch den „Stralauer Fischzug“ bekannt gewordenen Halbinselchen hinüber zu den Parkanlagen in Treptow gab es also einen Tunnel. An anderen weitaus exponierteren Stellen hat es bis heute noch nicht einmal zu einer Brücke gereicht. Wieso hat man sich ausgerechnet hier unter dem Wasser durchgegraben?

Spree
Blick vom Treptower Park nach Stralau, in der Achse des ehemaligen Spreetunnels.

Blenden wir zurück in das Jahr 1891. Da gab es schon die auch nicht unbekannte Firma AEG. Dort tätig war neben vielen anderen hellen Köpfen ein Herr D. Kolle. Selbiger präsentierte dem Verein für Eisenbahnkunde am 8. Dezember 1891 ein Projekt für eine nach Londoner Vorbildin großer Tiefenlage zu bauende Tunnelbahn. Dieses Projekt wurde auch den städtischen Behörden vorgelegt mit dem Ersuchen um eine Baugenehmigung. Damit befand man sich in guter Gesellschaft. Denn auch Siemens & Halske und die Thomson-Houston-International­-Electric-Company hatten innerstädtische Schnellbahnpläne vorgelegt, mit unterschiedlichen Trassierurgs­merkmalen allerdings. Durchsetzen konnte sich aus verschiedenen Gründen Siemens mit seinen Hochbahnplänen.

Der Bau von Tunneln im Berliner Sand war zunächst den meisten Entscheidungsträgern suspekt. Aus guten Gründen, bliebe fairerweiser anzumerken. Baustadtrat Hobrecht, der gerade eine brauchbare Kanalisation hinbekommen hatte, war einer der stärksten Gegner. Die Abwasserkanäle im Boden zu versenken, galt in seinen Augen schon als der Gipfel des Machbaren. Diese soeben mit erheblichem Aufwand hergestellten Bauten sollten nicht noch durch weitere „Wühltätigkeit“ gefährdet werden. Auch Werner von Siemens propagierte die technisch einfacheren Hochbahnpläne aus seinem Hause. In New York wurde mittlerweile die Machbarkeit solcher Anlagen bewiesen. Zu den Tunnelprojekten der AEG bemerkte er: „Unsere Urväter haben insofern eine schlechte Wahl getroffen, als sie sich an einem Platz niedergelassen haben, wo der Grundwasserstand sehr hoch liegt. An einem solchen Orte sollte eigentlich keine Stadt angelegt werden. Kein Baumeister wird so sein und im Grundwasser eine Eisenbahn ausführen wollen“.

Tunneleinfahrt
Der westliche Tunnelmund in Treptow. Postkarte um 1900

Wie stets bei Novitäten, wurden zahlreiche Probleme ins Feld geführt, die statt auf Lösbarkeit überprüft zu werden, umgehend als Argument gegen die Realisierung solcher Projekte herhalten mußten. Neben den Problemen durch Grundwasser und Schwemmsand sah man die Möglichkeit der Entstehung von Bauwerksschäden durch Erschütterungen oder Setzungen. Diese Befürchtungen waren nicht aus der Luft gegriffen, betrachtet selbst heute man die jüngsten Ergebnisse der Verlängerung der U8. Einzige Möglichkeit, die damaligen Bedenken aus dem Weg zu räumen und die Machbarkeit der Pläne zu beweisen, war der Bau einer Demonstrationsanlage. Diese wurde von der Stadt nach langen Verhandlun­gen schließlich auch genehmigt, sollte aber außerhalb der Innenstadt liegen. Die von den städtischen Behörden schließlich gebilligte Anlage sollte am Treptower Park unter dem Spreebett vorgetrieben werden und danach als tote Strecke sich selbst überlassen werden.

Nachdem somit diesem Versuch der Weg geebnet war, mußte zunächst das nötige Kapital für ein derartiges Vorhaben aufgebracht werden. Nach Erteilung der Genehmigung zum Bau des Versuchstunnels wurde noch 1894 die „Gesellschaft für den Bau von Untergrundbahnen (G.m.b.H.)" gegründet. Beteiligt waren die AEG, die Baufirma Philipp Holzmann & Co. (Frankfurt/Main), die Deutsche Bank, die Berliner Handels-Gesellschaft, die Nationalbank für Deutschland, die Firma Gebrüder Sulzbach sowie die Bankhäuser Delbrück, Leo & Co. und Jakob Landau. Als Geschäftsführer wurden Regierungs- und Baurat Schnebel sowie Ingenieur W. Lauter (Direktor bei Philipp Holzmann & Co.) berufen.

Tunnel
Ansichten von der Tunnelbahn unter der Spree in Treptow bei Berlin, 15 m tief unter der Spree, 450 m lang, Fahrzeit 2 Minuten. Postkarten um 1900

Allerdings sollte die Brauchbarkeit des Tunnels auch durch einen regelmäßigen Bahnbetrieb nachgewiesen werden. Dazu wurde eine den Berliner Osten unter Einbeziehung des Tunnels erschließende Straßenbahnlinie projektiert. Ingenieur Peine ersuchte 1894 beim Magistrat um baldige Genehmigung für die Linie, um die Bahn noch vor Eröffnung der Gewerbeausstellung 1896 in Betrieb nehmen zu können. Die Ausstellung fand im Treptower Park statt, so daß der Tunnel eine enorme Attraktion hätte darstellen können. Geplant wurde eine durchgehende Linie Warschauer Straße - Vor dem Stralauer Thore - Dorfstraße Stralau - Spreetunnel - Parkallee - Köpenicker Landstraße - Bouchéweg - Kistholzweg - Lohmühlenstraße - Brücke über den Schiffahrtskanal - Wiener Straße - Görlitzer Bahnhof. Zum Bau der Brücke im Zuge der Wiener Straße wollte das Konsortium einen entsprechenden Beitrag leisten. Vom Görlitzer Bahnhof sollte die Linie dann noch weitergeführt werden über Grünauer, Reichenberger, Ritter-, Junker- und Markgrafenstraße bis Behrenstraße. Von der Warschauer Straße wollte Peine die Strecke später bis Küstriner Platz weiterführen. Die gesamte Streckenlänge war mit 13,6 km veranschlagt. Auch der Fahrpreis von 10 Pf. stand schon fest.

Die Bauarbeiten für den Tunnel begannen irn Sommer 1895 im Treptower Park. Allerdings konnte der Vortrieb des Tunnels erst ab Februar 1896 erfolgen, da sich die Anlieferung des Brustschildes verzögerte. Im Herbst 1896 wurde der Bau vorläufig eingestellt. Es war ein Drittel der Tunnelröhre fertig. Man wollte zunächst Einigkeit herstellen über den Verlauf der im Anschluß an den Tunnel betreibenden Straßenbahn. Das auf 160 Meter Länge fertiggestellte Teilstück konnte durch die Besucher der Gewerbeausstellung besichtigt werden, die sich davon überzeugen konnten, daß die kontrovers diskutierten Tunnelpläne durchaus ernst gemeint waren. Die Weiterführung der Arbeiten an der eigentlichen Tunnelröhre erfolgte im September 1897. Sie konnten im Januar 1898 abgeschlossen werden. Während dieser letzten Bauphase wurde ein täglicher Vortrieb von durchschnittlich 1,5 Meter erbracht. Größere Hindernisse, wie Steine oder Baumstämme, traten zur Erleichterung der Unternehmen nicht auf. Problematisch war die Herstellung des am Stralauer Ufer liegenden Teilstücks, das auf 80 Meter Länge in einer scharfen Krümmung liegt.

In Glasers Annalen für Gewerbe und Bauwesen konnte am 15. März 1899 Regierungs- und Baurath Schnebel mitteilen: „Der Spreetunnel ist nunmehr vollständig fertiggestellt und wird im kommenden Frühjahre mit der durch denselben zu führenden Straßenbahn von Berlin (Schlesischer Bahnhof) nach Treptow dem Betriebe übergeben werden. Der Spreetunnel ist der erste in Deutschland mit dem Brustschild vorgetriebene Tunnel; er ist meines Wissens auch der erste Tunnel auf der Welt, der in ganzer Länge in schwimmendem Gebirge unter einem Flußlaufe erbaut ist und zugleich auf einem wesentlichen Theil seiner Länge in einer scharfen Krümmung liegt.“

Nachdem der bisherige Lauf der Dinge durch Verzögerungen bestimmt wurde, ging die Betriebsaufnahme schneller über die Bühne, als von Herrn Schnebel erwartet. Am 16. September 1899 erfolgten erste Probefahrten. Der Linienbetrieb durch den Tunnel wurde am 18. Dezember gleichen Jahres aufgenommen. Die für den Betrieb dieser Linie ins Leben gerufenen „Berliner Ostbahnen“ setzten auf der Strecke Schlesischer Bahnhof - Treptow 14 Trieb- und 17 Beiwagen einer speziellen Bauart ein, die mit flachen Dächern dem Tunnelbetrieb angepaßt waren. Einer dieser Triebwagen aus einer späteren Serie ist noch heute, allerdings im letzten Zustand als Turmlore, als historisches Fahrzeug erhalten. Der Betriebshof für die Tunnelhahn wurde rechts hinter der Tunnelrampe auf dem Grundstück Tunnelstraße 12 errichtet. Bei einem Brand im Jahre 1912 wurde er zum Teil zerstört. Das Grundstück wird heute durch das Bezirksamt Friedrichshain genutzt. Ein Gebäudeflügel erinnert noch an die Vergangenheit dieses Areals.

Die Erfahrungen des Spreetunnels machten deutlich klar, daß Schildvortrieb oder bergmännische Bauweise für den Tunnelbau im Schwemmsand nach dem damaligen technologischen Stand ungeeignet war. Die Menge des geförderten Erdreichs überstieg deutlich den Rauminhalt der Tunnelröhre. Der Sand war infolge seiner fließenden Konsistenz ständig in den Tunnel nachgerutscht. Die zur Kontrolle über Setzungen des Bodens über der Tunneltrasse aufgestellte Mauer war eingestürzt. Die Druckluft in der Überdruckkammer suchte sich ihren Weg durch das Flußbett nach oben, so daß der Eindruck entstand, die Spree fange an, zu kochen. In der Folgezeit Wurde Statt dessen die offene „Berliner Bauweise“ entwickelt und perfektioniert. Das eigentliche Ziel dieses Bauwerkes war aber erreicht: unterirdische Verkehrswege in Berlin können gebaut und betrieben werden. Schnebel konnte sich des Erfolgs der Fertigstellung des unter seiner Leitung ausgeführten Baues nicht lange erfreuen: er starb infolge Überanstrengung.

Die denkbar einfache Sicherungstechnik mittels Signalstab bescherte der Bahn sehr schnell einen Spitznamen, unter dem sie ausgesprochen populär wurde: „Knüppelbahn“. Das Prinzip wird bei der Straßenbahn in Störungsfällen noch heute genutzt: in den Tunnel (bzw. eingleisigen Abschnitt) einfahren darf nur der Zug, der einen nur einmal vorhandenen Signalstab erhalten hat. Der Stab mutierte zum „Knüppel“, der Bahnbetrieb zur erwähnten Knüppelbahn. Die Verwahrung des „Knüppels“ oblag Wärtern, die an den Tunnelrampen in kleinen Wellblechbuden ihren Dienst taten.

Ausfahrt
Der östliche Tunnelmund in Stralau. Postkarte um 1900: Dorfstraße (Untergrundbahn)

Die Berliner Ostbahnen erweiterten ihren Betrieb in den folgenden Jahren, es entstand ein Netz mit Linien nach Baumschulenweg, Niederschöneweide, Johannisthal, Oberspree, Friedrichsfelde und Köpenick. Der Betrieb der Spreetunnel-­Linie selbst dümpelte in den folgenden Jahren vor sich hin und war aufgrund der verkehrlich geringen Bedeutung dieser Strecke alles andere als gewinnbringend. Dazu kamen Alterserscheinungen, die im Laufe der Zeit den Betrieb zusätzlich fragwürdig machten. Insbesondere die Verbindungen der eisernen Tübbings rosteten durch und ließen Wasser durch. Der Straßenbahnbetrieb durch den Tunnel (mittlerweile durch die BVG vorgenommen) wurde schließlich am 15. Februar 1932 eingestellt. Die Pumpenanlage des Tunnels wurde aber in Betrieb belassen, so daß er begehbar blieb. Während der Olympiade 1936 wurde der Tunnel auch noch einmal für Fußgänger freigegeben. Die Zugänge des Tunnels wurden während des Zweiten Weltkrieges als Luftschutzräume genutzt. Durch Bombenabwürfe und weitere Alterung der Tübbings ließ sich während der Kriegszeit ein unvermindertes Eindringen von Grundwasser nicht vermeiden, was auch durch das Einziehen von Trennwänden nicht mehr aufzuhalten war. Die vollgelaufenen Rampen wurden nach Kriegsende zugeschüttet.

Die vollständig notwendige Instandsetzung des Tunnels wäre finanziell und technisch kaum machbar gewesen, auch war kaum eine verkehrstechnische Notwendigkeit erkennbar. Bei der Umgestaltung der Anlagen im Treptower Park im Jahre 1968 wurden die freigelegten Tübbings der Zufahrt entfernt. In der Flucht der einstigen Tunnelzufahrt befindet sich heute ein erhöhtes Rasenrondell, so daß für den aufmerksamen Betrachter die Lage der Rampe noch sichtbar ist. In den 70er und 80er Jahren wurde gelegentlich in Pressebeiträgen an den Spreetunnel erinnert. Es waren auch Vorschläge zu hören, den Tunnel wieder freizulegen und als Touristenattraktion erneut nutzbar zu machen. Da er seit den vierziger Jahren aber völlig unter Wasser steht, kann davon ausgegangen werden, daß insbesondere der hohe Anteil an Eisenkonstruktion vollständig erneuert werden müßte. Verkehrstechnisch wäre er wie schon in den zwanziger und dreißiger Jahren bedeutungslos. Lassen wir es bei dem, was seinen eigentlichen Reiz ausmacht: ein Stück Erinnerung an Vergangenes und ein Stück Geheimnis unter dem Wasser der Spree. Vielleicht wäre es zumindest denkbar, im Treptower Parkin geeigneter Weise an den Standort der Tunnelröhre zu erinnern und damit an einen bemerkenswerten Teil der Berliner Technik- und Verkehrsgeschichte.

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Bereits erschienen:

Fotos: Sammlung I. Köhler
Literatur:
Bauer (Hrsg.): Straßenbahn-Archive Bd. 5; Berlin 1987
Kammer: Ohne "Knüppel" ging´s nicht: in: BZ am Abend 25.5.1979
Saitz: Tunnel der Welt-Welt der Tunnel; Berlin 1988
Saitz: Der Verkehr der großen Städte; Berlin 1983
Seydel: Der Straßenbahntunnel zwischen Stralau und Treptow; in: Verkehrsgeschichtliche Blätter 1/1981
Schnebel: Der Spreetunnel zwischen Stralau und Treptow bei Berlin; in: Glasers Annalen für Gewerbe und Bauwesen,15. März 1899

Ivo Köhler

aus SIGNAL 7/1995 (November 1995), Seite 11-13

 

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