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So, wenn wir es so gut haben, was soll dann das
Gemeckere gegen neue Tunnel im Berliner
Schwemmsand. Was soll eigentlich das Sinnieren über dieses Thema hier auf diesen
Seiten? Wer jeden Tag damit zu fahren hat,
sagt sich: ob das Ding nun irgendwo obenlang
oder durch einen Tunnel oder sonstwie durch
die Gegend gondelt - Hauptsache es fährt
überhaupt was. Was erfahrungsgemäß nicht
immer der Fall ist. Denn wo etwas funktionieren soll, ist der Fehlerteufel nicht weit. Aber
das ist schon wieder ein anderes Thema.
Versetzen wir uns einmal in den nicht täglichen Benutzer. Also in den Touristen, der
zum ersten mal in den Schlund abtaucht. Oder
in den - Sekt, Blumen, Konfettii! - hartgesottenen Automobilisten, der angesichts von
Schneefall oder ähnlich verwunderlichen Dingen spontan auf die Idee kommt, mal was
anderes zu versuchen, zum Beispiel U-Bahn fahren.
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U-Bahn-Tunnel, Nürnberg. Foto: I. Köhler |
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Sie alle begeben sich nun also in diese neue,
seltsame, geheimnisvolle Welt, Es beginnt
mit den allgemeinen Tücken der unübersichtlichen Großstadt. „,lst das die U-Bahn zum
Zoo?" „Ja". „Na, dann können wir ja einsteigen. Wo fahrt die Bahn denn eigentlich hin?“
„Nach Ruhleben." „Wissen Sie, wir wollen
nämlich zum Alexanderplatz? „Na, dann sind
sie aber in die verkehrte Richtung eingestiegen." „Ach so? Dann müssen wir ja wieder
raus. Warum sagen Sie das nicht gleich? Komm
Herbert, wir müssen raus. Nee, sind die unfreundlich hier. Huch, jetzt fährt das Ding
schon wieder. Da müssen wir noch eine Station warten. Warum sagt einem das keiner, das
man hier nicht zum Alexanderplatz kommt?
Hier soll sich mal einer zurechtfinden.“
Das war eines der Probleme. Kennt einer
das Gefühl, wenn man in Prag oder Budapest
die langen Rolltreppen in den Metros sowjetisch/russischer Bauart in die Erde taucht?
Wer das nicht dank Gewöhnung bereits abgelegt hat, dem wird anfangs recht mulmig.
Denn ein Ende der hinabgleitenden Kette von
Treppenstufen ist nicht zu sehen. Ob das gut
geht? Und kommt man hier wieder raus? Gut,
die Probleme hat man in Berlin nicht unbedingt. Denn so tief sind die Tunnel hier nicht.
Können es nicht sein aufgrund der Bodenbeschaffenheit. Sehr zum Leidwesen der
betonverarbeitenden Industrie, kann vermutet werden. Jedenfalls ist der Hemmeffekt gegenüber
dem Unbekannten da unten in der Tiefe zuweilen auch zu verzeichnen. Und sei es nur,
das man nicht weiß, wer da hinter den vielen
Pfeilern und Ecken steht. Andererseits weckt
gerade das Ungewisse Neugier. Neugier auf
mehr. Womit wir uns dem im Titel versprochenen Thema, dem Mythos nähern.
Mythos: Person, Sache, Begebenheit, die
(aus meistverschwommenen, irrationalen Vorstellungen heraus) glorifziert wird,
legendären Charakter hat; auch: falsche Vorstellung,
„Ammenmärchen"; rnythisch: sagenhaft, erdichtet.
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Labyrinth? Katakombe? - Zwischengeschoß im Berliner U-Bahnhof Alexanderplatz Foto: I. Köhler |
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Vor einigen Jahren machten zwei angebliche U-Bahner für einige Tage von sich reden
mit einer hübschen Geschichte von „Honeckers Atombunker", den sie am Alex entdeckt
hätten. Er stellte sich als halbfertiger U-Bahnhof mit einigen Luftschutzräumen heraus.
Lange Zeit hielten und halten sich Legenden,
wonach es in der Zeit des „Dritten Reichs“‘
unterirdische Verbindungen zwischen wahlweise: Reichskanzlei, Führerbunker,
Reichstag und wahlweise: Nord-Süd-S-Bahn, U-
Bahn-Linie A und U-Bahn-Linie C gegeben
hätte. Ein Martin Bormann (rechte Hand Hitlers) soll angeblich durch einen solchen
Tunnel entkommen sein, um sich unter südlicher
Sonne seines verkorksten Lebens zu freuen.
Der Fund von dessen Leiche im Berliner Sand
in den siebziger Jahren änderte an den Legenden nichts. Ebensowenig der Umstand, das in
Berlins Boden, dessen Beschaffenheit zumindest den Spezialisten auf diesem Gebiet
notwendigerweise bekannt ist, solche Gänge nie
nachgewiesen wurden. Und das bei anhaltender Bautätigkeit allerorten. Ganz Verwegene
wollten ihre Zuhörer glauben machen, zwischen dem Wehrmachtskommando in
Wünsdorf und wieder wahlweise verschiedenen
zentralen Orten hätte es eine geheime U-
Bahn-Verbindung gegeben. Wieso hat die nie
jemand gefunden? Angeblich soll die NVA in
Wildpark einen unterirdischen Bahnhof besessen haben. Wieso ist in dieser gewiß nicht
gerade entlegenen Gegend niemandem ein
Hinweis darauf aufgefallen? Ein Anschlußgleis, Belüftungen, Notausstiege? Nichts da.
Aber Legenden leben lange.
Ein reizvolles Thema für Phantasiebegabte
offenbar. An der Oberfläche ist alles klar und
eindeutig, Aber wie sieht es darunter aus? Da
kann man seine dichterischen Fähigkeiten
schon einmal erproben. Denn für den nicht
unmittelbar Beteiligten ist es ja kaum möglich, die Geschichten nachzuprüfen.
So entstehen die an oben genannten Beispielen vorgeführten Storys und Legenden. Und sorgen
für den lebendigen Mythos.
Jeniffer Toths authentische Geschichten
über die Tunnelmenschen in New York, in
dieser Serie schon besprochen, faszinieren
den Leser nun wieder auf andere Weise. Kann
denn das, was da beschrieben wird, tatsächlich möglich sein? Man gerät in Versuchung,
auch hier vieles dem Reich der Phantasie
zuzuordnen. Fakt ist: es gibt sie, die Tunnelmenschen unter New Yorks Straßen.
Die Erbauer der Bahnen um die Jahrhundertwende taten das ihre, um den Gängen
unter dem Pflaster mystisches Flair zu verleihen, Die im Geschmack der Zeit gefällige
Ausgestaltung der Anlagen orientierte sich
vielfach an mittelalterlichen Bauten, vornehmend denjenigen wehrhaften Charakters. Und
was soll man von der geheimnisvollen Figur
halten, die unter der Hochbahnrampe am Nollendorfplatz demnächst wieder Wasser speit?
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U-Bahn, Mythen und Dämonen: Der Nickelmann-Brunnen von Westphal unter der Hochbahnrampe der Berliner U-Bahnhofs Nollendorfplatz. Foto: I. Köhler |
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Was verbirgt sich noch alles hinter den
Türen und Wänden in den unterirdischen Verkehrsadern? Man kann sich noch vieles dazu
ausdenken. Manchmal gibt es ja auch Überraschungen. Für die Öffentlichkeit jedenfalls,
und Zeitungen wollen ja auch leben. Da sackt
doch in der Heerstraße ein Bürgersteig weg.
Der Bauherr wußte es auch vorher, ein halbfertiges Stück U-Bahn-Tunnel aus den
dreißiger Jahren war darunter. Solche Vorleistungen gibt es viele im Berliner Boden (jeder
Pirat vergräbt sein Geld irgendwo). Was gab
es da nicht alles zu hören und zu lesen. Das
unbekannte Unterirdische zog wieder einmal
alle in den Bann.
Die Luftschutzräume, die in den Berliner
U-Bahnhöfen Siemensdamm und Pankstraße
integriert wurden, faszinieren bei gelegentlicher Erwähnung. Spektakulär ins Bild
gerückt wurden im Vorfeld des Baues der geplanten Tiergartentunnel die Ende der
dreißiger Jahre begonnenen Bauten im Zuge der
Straße des 17. Juni und im Spreebogen. Legenden ließen sich hier kaum stricken, da
tatsächlich schon einiges an Beton im Boden
versenkt wurde. Was jetzt wieder mühselig
und teuer entfernt werden muß.
Blickt man auf der U8 kurz vor Hermannplatz aus dem Zug, kann sich kaum einer der
überwältigenden Wirkung der umfangreichen
Gleisanlagen in diesem Bereich entziehen,
die in dieser Dimension oberirdisch keinerlei
Reiz hätten. Die gelegentlich veröffentlichten Schnittdarstellungen solcher
„Maulwurfbaue" verstärken diesen Eindruck noch. Das
alles, verbunden mit dem Reiz des Unsichtbaren strahlt weit ab, bis in die entlegenste
Gegend. Wenn auf der Ansichtskarte eine
Treppe sichtbar wird, markiert mit dem blauen „U", weiß der Betrachter: aha, große,
große Großstadt. Das täuscht, mittlerweile kann
es sich auch um die Fußgängerzone von Mühlheim/Ruhr oder Bochum handeln. Aber man
macht sich den Nimbus, der das „U" umgibt,
zunutze. Irgendwo im Unterbewußtsein der
Leute, die Entscheidungen zum Bau der Tunnel treffen, sitzt das mit Sicherheit fest. Es
finden sich für die Öffentlichkeit natürlich
andere, sachliche, nachvollziehbare Gründe.
Dagegen sagt auch keiner was. Den neuerdings gern bemühten Psychozirkus, der
mitunter als Argument gegen Tunnel bemüht
wird, braucht man dazu nicht unbedingt. Wo
die U-Bahnen in der Innenstadt fahren, kann
man sich kaum vorstellen, wie es noch ohne
sie geht. In den Außenbezirken sieht es dann
aber schon etwas anders aus. Das alles ist
hinreichend diskutiert und immer noch Streitthema. Dessen ungeachtet: der Mythos bleibt.
Und er gehört wohl dazu wie bei jeder Art von
mechanisierter Fortbewegung. Was rankt sich
nicht alles um Autos und ganz spezielle Bauarten hiervon. Das gehört wohl zur
gesellschaftlichen Anerkennung solcher Gegenstände. Lassen wir also auch der U-Bahn ihre
Geschichten.
Jedoch die Aura, die U-Bahnen als die
einzige Lösung aller städtischen Verkehrsprobleme umhüllt, verstellt den Blick auf
einige Realitäten - vor allem in finanzieller
Hinsicht. Es muß nun einmal sehr genau überlegt werden, ob für die zu erzielenden Effekte
tatsächlich die Lösung „Tunnel" unausweichlich ist, oder ob es auch etwas bescheidener
geht. Mit verantwortungsvoller Bescheidenheit macht man aber leider keine
Schlagzeilen, vor allem nicht in der Hauptstadt aller
Deutschen - oder wie das heißt. Geheimnisträchtiges und zugleich Bombastisches zu
produzieren, das ist halt die reizvollere Variante. - Und ist auch besser geeignet,
Bewunderung zu erzeugen: „Ihr habt‘s gut...“.
In der nächsten SIGNAL-Ausgabe lesen Sie:
Bereits erschienen:
Ivo Köhler
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