Die Idee, die Schweizer Alpen mit neuen Eisenbahntunneln zu durchqueren, ist mehr als dreißig
Jahre alt. Eine 1963 eingesetzte Eidgenössische Kommission untersuchte fünf Varianten. Im
Gegensatz zu den vorhandenen Strecken am Gotthard und Lötsehberg sollten sie das Gebirge am
Fuße durchqueren. Bekannt wurden die Entwürfe als sogenannte Basistunnel. Im Auftrag des
Bundesrates legten die SBB 1975 ein Bauprojekt für die Gotthard-Basisdurchquerung vor, das aber
zunächst nicht weiter verfolgt wurde. Erst Mitte der achtziger Jahre, als Lastkraftwagen und Autos
hunderttausender Touristen in unendlichen "Transit-Kolonnen“ durch Alpentäler und das Nadelöhr Gotthard-Straßentunnel zwängten, wurden erneut Planungen für verschiedene Basistunnel auf ihre Realisierbarkeit hin
untersucht. Schließlich blieb nach Zweckmäßigkeits - und Umweltverträglichkeitsprüfungen sowie
Kosten/Nutzenanalysen die Doppelvariante Gotthard- und Lötschbergtunnel übrig, eben die „Neue Eisenbahn-Alpentransversale“.
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Foto: SBB |
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Daraufhin forderten vor allem Gegner des Projekts eine Volksabstimmung, nur knapp kamen die vorab
benötigten 50.000 Unterschriften zusammen. Mit 63,6 Prozent der abgegebenen Stimmen entschieden
sich die Schweizer am 26. und 27. September 1992 klar für die NEAT, wobei sie den Kostenrahmen für
beide Tunnels zusammen ausdrücklich auf die damals veranschlagten 14,9 Milliarden Franken
(plus Teuerung entsprechend der Inflationsrate) begrenzten.
NEAT soll sicherstellen, daß die Schweiz
auch im nächsten Jahrtausend ihrer klassischen Rolle als Transitland gerecht werden kann. Alleine auf
der Gotthardachse Basel - Chiasso könnten künftig bis zu 50 Millionen Tonnen Güter jährlich direkt von
Grenze zu Grenze transportiert werden, zudem wäre die Alpenrepublik in das europäische
Hochgeschwindigkeitsnetz eingebunden. Heute rollen rund die Hälfte der auf der Schiene transportierten
Güter zwischen Nord- bzw. Mitteleuropa und Italien durch die Schweiz, ca. 18 von 35 Millionen Tonnen
im Jahr. Dank restriktiver Maßnahmen wie 28-Tonnen-Limit, Nacht- und Sonntagsfahrverbot für Lkw
konnte sich die Eisenbahn hier, anders als in Österreich und Frankreich, deutlich als wichtigster
Verkehrsträger behaupten. Trotzdem: der Lkw-Transit schwoll binnen drei Jahrzehnten lawinenartig an,
von lächerlichen 30.000 Tonnen (1965) auf zweieinhalb Millionen Tonnen.
Die Nachbarstaaten freilich sehen nicht ein, weshalb sich weitaus mehr dicke Brummer über den
österreichischen Brenner oder durch den französischen Montblanc-Tunnel quälen, nur weil Bern die in
der EU geltenden Beschränkungen auf 38 oder 40 Tonnen nicht akzeptiert. Obwohl im Transitvertrag
durch eine Vielzahl von Ausnahmeregelungen bereits verwässert, steht das 28-Tonnen-Limit unter
Beschuß seitens der Europäischen Union. Sie beharrt zwar nicht mehr auf der kurzfristigen Einrichtung
eines „40-Tonnen-Korridors“, fordert aber, in einem ersten Schritt wenigstens das schweizerische
Mittelland für schwere zu öffnen.
Europapolitische Dimension - NEAT nach Annahme der "Apeninitiative"
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Vortrieb eines Sondierstollens am Gotthard. Foto: SBB |
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Eines der zugkräftigsten Argumente pro NEAT war, daß die Schweiz nur dann am 28-Tonnen-Limit festhalten
könne, wenn sie zusätzliche Kapazitäten auf der Schiene bereitstelle. In einer weiteren Volksabstimmung
am 20. Februar 1994 nahmen die Eidgenossen dann die sogenannte Alpeninitiative an. Danach muß der
Gütertransit über die Alpen bis zum Jahr 2004 komplett auf die Bahn verlagert werden. Entsprechend
wurde die schweizerische Bundesverfassung um Artikel 36 quater ergänzt. Dieser bestimmt u. a. auch:
"... Die Transitstraßen-Kapazität im Alpengebiet darf nicht erhöht werden. Ausgenommen sind
Umfahrungsstraßen zur Entlastung von Ortschaften vom Durchgangsverkehr“.
Bemerkenswerterweise sieht sich die EU ausgerechnet durch die Annahme der AlpenInitiative in ihrer
Haltung gegen die rigide Gewichtsbegrenzung für Lkw gestärkt. Zum einen lasse sich nur mit einer
höheren Nutzlast die Gesamtzahl der Lastzüge reduzieren. Zum anderen seien die Schienenwege so
auszubauen, daß sie die Huckepack-Beförderung schwererer und größerer Lastkraftwagen als bisher
erlauben.
Der Bundesrat in Bern verweist auf die Bedeutung der NEAT für die „Integration der schweizerischen
Bahninfrastruktur in das künftige europäische Hochleistungsbahn und Güterfernverkehrsnetz". Der Bau
der Neuen Alpentransversale setze ein europapolitisches Signal, da er zeige, daß sich die Schweiz trotz
EU-Skepsis nicht von Europa abkapseln will. Im Transitabkommen mit der Europäischen Union
verpflichtet sich das Land, die Güterkapazität drastisch zu erhöhen. Nach Fertigstellung des
Gesamtprojekts AlpTransit (NEAT inclusive Zulaufstrecken) soll Sie 69 Millionen Tonnen pro Jahr
betragen. Diese Menge entspricht etwa dem gesamten heutigen Transportvolumen zwischen Nordeuropa
und Italien (auf Schiene wie Straße) und der Hälfte des für die Jahre 2010/2015 prognostizierten! Mit
der NEAT - so der Bundesrat - würden die Verkehrsströme immerhin so kanalisiert, daß sie
„umweltverträglich und energiesparend mit der Bahn bewältigt werden“ können.
Überkapazität und Finanzdesaster?
Anscheinend stichhaltige Argumente - aber: werden die Prognosen tatsächlich eintreffen? Ist das
Projekt nicht schon deshalb überdimensioniert, weil auch Frankreich und Österreich
(selbst bei Verzicht auf den Brenner-Basistunnel) ihre Kapazitäten für den alpenquerenden
Verkehr erweitern? Wie ist es um die Finanzierung bestellt, zumal der durch die Volksabstimmung
vorgegebene Kostenrahmen sicher überschritten wird?
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Karte: SBB |
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Fest steht jedenfalls, daß die neuen Tunnelstrecken nicht vor 2005 in Betrieb gehen. Die
Umsetzung der Alpen-Initiative bis zum Jahr 2004 zwingt jedoch zu Zwischenlösungen. Durch den
Ausbau vorhandener Strecken wollen die Schweizerischen Bundesbahnen und die
Bern-Lötschberg-Simplon-Bahn (BLS) den 40-Tonnen-Brummern schon vorher einen
leistungsfähigen „Huckepack-Koridor“ anbieten:
- Auf der Gotthardlinie schaffen die SBB zusätzliche Kapazitäten. Dies geschieht u. a. durch
Erweiterung der Rangierbahnhöfe, die Einführung des Gleiswechselbetriebs, ferngesteuerte
Sicherungsanlagen, ein neues Zugfunksystem und den Ausbau der Stromversorgung.
- Auf der Lötschberg-Simplon-Achse steht die Profilerweiterung des Lötschbergtunnels
und der Simplon-Südrampe im Vordergrund.
Danach können hier auch Lkw mit bis zu vier Metern Eckhöhe befördert werden.
Die Ausbaumaßnahmen erfordern auf beiden Routen zusammen Investitionen von etwa eineinhalb
Milliarden Franken. Dadurch soll sich die Kapazität für Huckepacksendungen (Sattelauflieger,
Wechselbehälter) und die „Rollende Landstraße“ (komplette Lkw) weit mehr als verdoppeln, von
derzeit 200.000 auf 470.000 Sendungen pro Jahr.
Mit dem Huckepack-Korridor pressen die Bahnen allerdings, wie es das Fachblatt Schweizer
Eisenbahn-Revue formuliert, auf den bestehenden Bergstrecken „die letzten Tropfen der Zitrone heraus“.
Experten befürchten außerdem Engpässe auf den Zulaufstrecken. Die europaweit durch
Rentabilitätsgutachten bekannt gewordene Studiengesellschaft und Finanz-Consulting
„Coopers & Lybrand“ dagegen kommt zu dem Schluß, die vorhandenen Schienenkapazìtäten
reichten bei entsprechendem Ausbau bis ins Jahr 2022, sie ließen den Transport von knapp 40
Millionen Tonnen jährlich zu. Coopers & Lybrand zufolge gibt es für NEAT überhaupt keine
zeitliche Dringlichkeit.
Zwar gilt das nur unter der Prämisse, daß ein
Großteil des Alpentransits weiterhin den Umweg durch Frankreich oder Österreich nimmt, doch
dürfte es zumal nach Fertigstellung des Mont-Cenis-Basistunnels kaum gelingen, alle bisherigen
Umwegtransporte zu verhindern. Insgesamt drohen riesige Überkapazitäten. Ohnehin ist äußerst
zweifelhaft, ob die bis 2010/2015 vorhergesagte Verdoppelung der Gütermengen im Verkehr
Nordeuropa - Italien wirklich eintritt, denn bereits seit 1990 bleibt die Zunahme hinter den
Erwartungen zurück.
Nun zeichnet sich beim Festhalten am Bau beider NEAT-Linien ein Finanzdebakel ab. Die
Rentabilität der Tunnel am Gotthard und Lötschberg bezeichnet selbst die „Finanzdelegation der
eidgenössischen Räte“ in ihrem Bericht vom März 1995 als derart ungewiß, daß im schlimmsten
Fall bis zum 50, Betriebsjahr mit einer kumulierten Schuldenlast von 300 Milliarden Schweizer
Franken gerechnet werden (Bieler Tageblatt vom 27. März 1995)
Trotzdem beharrt der Schweizer Bundesrat auf beiden Neubaustrecken. Finanziert werden sollen sie
mit Krediten und zusätzlich durch eine
auf fünfzehn Jahre befristete Erhöhung des „Treibstoffzolls“ (entspricht der deutschen Mineralölsteuer) um zehn Rappen
pro Liter. - Gegen diese Maßnahme laufen nicht bloß die Verbände der Automobilisten Sturm.
Finanzierungsmodellen für Verkehrsprojekte mißtraut das Schweizer Stimmvolk zutiefst, da sie sich
schon beim Nationalstraßennetz und beim Fahrplan- und Schiennetzkonzept "Bahn 2000“ als Makulatur
erwiesen haben. Angesichts der hier vorgenommenen Abstriche dürfte die jetzt vorgeschlagene
NEAT-Sonderfinanzierung bei einem Volksentscheid kaum eine Mehrheit finden.
Positionen von VCS und Grünen
Der Verkehrsclub der Schweiz (VCS) hat sich 1992 für die NEAT ausgesprochen, sofern flankierende
Maßnahmen sicherstellen, daß die Lkw-Transporte auf die Schiene verlagert werden und das
Projekt „ökologisch optimirt" wird. Ersterer Punkt ist mit der Annahe der Alpeninitiative erfüllt; über die
umweltverträglichste Trassierung bestimmter Abschnitte wird noch gestritten (so in den Kantonen
Schwyz, Uri, Wallis). Um das schwer kalkulierbare finanzielle Risiko zu mindern, befürwortet der VCS
jetzt, vorerst nur eine NEAT-Achse in Angriff zu nehmen. Sowohl ökologische Kriterien - u. a.
Landverbrauch, Lärrnernission, geringere Abraurnmengen - als auch finanzielle Gesichtspunkte sprechen
für die Priorität zugunsten der Lötschbergachse. Nach Auffassung des VCS kann nur der Lötschberg
etwa gleichzeitig mit dem Mont-Cenis-Basistunnel (Verbindung Lyon - Milano) fertiggestellt sein.
Andernfalls könnten die Mont-Cenis-Betreiber Transittransporte aus der Schweiz abziehen. Und
dann - so der VCS - „sind die Chancen klein, diesen Verkehr wieder zurückzuholen. Überkapazitäten
bei den neuen Bahntunneln verringern die Chance, die neue Bahninfrastruktur je rentabel zu machen und
bedrohen damit indirekt auch die Finanzen des übrigen Verkehrs“.
Insgesamt wird der Verkehrswert der Gotthard-Achse allerdings höher eingeschätzt. Sie käme in
stärkerem Maße als die Lötschberg-Linie auch Reisenden innerhalb der Schweiz zugute, da sie die
bevölkerungsreichen Großräume um Zürich, Winterthur und St. Gallen mit denen um Bellinzona und
Lugano verbinden würde. Die EU neigt ebenfalls dazu, das Gotthard-Projekt vorzuziehen, für sie zählen
vor allem die hier kürzeren Gütertransportzeiten.
Klar gegen den gleichzeitigen Bau beider NEAT-Linien plädiert die Grüne Partei der Schweiz. Sie
spricht von einer gigantischen Fehlinvestition, da selbst eine minimale Wirtschaftlichkeit nicht zu
erwarten sei, andererseits Mittel für den sinnvollen Ausbau und Betrieb regionaler Schienenstrecken
noch weiter gekürzt würden. Unter Verweis auf das Rentabilitätsgutachten von „Coopers & Lybrand“
argumentieren die Grünen: „Die Schweiz kann sich verkehrs- und finanzpolitisch den Alleingang mit
zwei NEAT-Röhren nicht leisten. Einzig, wenn die NEAT im Rahmen einer koordinierten europäischen
Transitpolitik steht, kann ein Milliarden-Debakel verhindert werden.“ Deshalb verlangen die Grünen von
Bundesrat und Parlament,
- mit der EU über eine Koordination bzw. Etappierung aller geplanten Alpendurchstiche zu verhandeln
- abzuklären, ob die EU Garantien für Benutzung, Wirtschaftlichkeit und Finanzierung von zwei
Schweizer Alpentunneln abgibt und bereit ist, die im Transitvertrag festgehaltene
„Kostenwahrheit" auch umzusetzen.
Die Projektfinanzierung rnit Treibstoffgeldern wird von den Grünen im Prinzip bejaht. muß aber in
ein Gesamtkonzept für den öffentlichen Verkehr eingebettet sein.
Ökonomìsch wie ökologisch sinnvoll?
Wenn über Rentabilität und Baukosten debattiert wird, bleibt die Grundsatzfrage meist außen vor: Ist
ein Produktions- und Verteilungssystem, das immer mehr Verkehr erzeugt, nicht völlig verfehlt? Und
wenn schon ökonomische Freiheit respektive Liberalisierung und „Deregulierung" des Verkehrsmarkts,
dann bitteschön so konsequent, daß die Nutzer der Verkehrswege auch die Kosten derselben voll
tragen. So sehr die EU auf marktwirtschaftliche Rahmenbedingungen pocht: Ohne jegliche Subvention
würden wohl kaum mehr Schweine aus dem Oldenburgischen nach Italien gekarrt, um sie dort zu
Parmaschinken - vielleicht auch Pharma-Schinken - zu verarbeiten, der anschließend in deutschen
Delikatessengeschäften feilgeboten wird.
Neue Eisenbahntunnel helfen zwar, Alpentäler von Lkw-Karawanen zu befreien, ermuntern aber
insgesamt zu mehr Transporten, die wiederum Zufahrtswege in anderen Regionen belasten und
dort zu Aus- und Neubauten zwingen. Allein deshalb sind die ökologischen Argumente pro NEAT
höchst fragwürdig. Außerdem führt die verbesserte Standortgunst beispielsweise in den Tourismus
gebieten Wallis und Tessin zu einem erhöhten „Nutzungsdruck“, der ökologisch sensible Bereiche
gefährdet. Übrigens haben die aus Kostengründen die ursprünglich vorgesehene unterirdische Führung
bestimmter Abschnitte und Zulaufstrecken wieder fallengelassen, womit sich betroffene Kantone allen
voran Uri - aber nicht abfinden wollen. Es ist paradox: die Alpentransversale soll möglichst im Tunnel
verschwinden, trotzdem möchten die durchfahrenen Regionen von ihr wirtschaftlich profitieren.
Wird die NEAT gebaut, verdienen sich auf jeden Fall ausländische Unternehmen goldene Nasen. Viele
haben sich längst vor Ort niedergelassen und kungeln mit Politikern und Behörden, um sich ein großes
Stück vom Kuchen abzuschneiden. Eher mittelständische einheimische Betriebe kommen gegen die
auf Großprojekte spezialisierte Konkurrenz oft nicht an. Die internationalen Baukonzerne sitzen in den
Startlöchern, was Wunder auch: schließlich geht es um ein Milliardending, um ein Auftragspolster für
anderthalb Jahrzehnte.
Erst mal ist aber nur der Fortgang der Arbeiten an den Sondierstollen sichergestellt. Dafür
hat der Bundesrat Überbrückungskredite bewilligt. Über die Finanzierung des Gesamtprojekts
entscheidet voraussichtlich 1996/97 das Volk. Lehnt es die Vorschläge des Bundesrates ab,
könnte das für die NEAT de facto das Aus bedeuten.
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Konrad Koschinski
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