Signal • Serie

Männer Tunnel

Oder: Weshalb die Berggöttin zürnt


Winfried Wolf

1. Jun 1995

Solange der Faktor Zeit keine Rolle spielte und Verkehrströger Füße, Pferde, Ochsenkarren und Pferdekutschen waren, gab es wenig Grund zum Bau von Tunneln. Täler wurden durchschritten und Berge möglichst umgangen. Es war die industrielle Revolution, die eine radikale Wende herbeiführte.

Die (Arbeits-) Zeit wurde zum Maß aller weltlichen Dinge, und neue Verkehrstechnologien dynamisierten diese Zeitbestimmtheit. Aber reicht dieses muster auch für die Neuzeit, wenn durch enormen technischen Aufwand zwar kürzere Wege entstehen, diese jedoch kaum mehr zu nennenswerten Kürzungen von Gesamt-Wegezeiten führen?

Wasserwege und Eisenbahn

Nicht Eisenbahnen, sondern Kanäle stellten die erste Revolution im Transportsektor dar. Da waren zunächst die 8.000 km langen Kanäle, durch die mehr als 100 Jahre lang die ersten massengefertigten Waren im Mutterland der industriellen Revolution, in England. geschaukelt wurden.

Wasserstraßen kennen eine ausgesprochene Abneigung gegen Steigungen und Gefälle. Waren diese unvermeidlich, so mußten sie mit aufwendigen (und zeitraubenden) Schleusen überwunden werden. Ein möglichst ebener Verlauf des Verkehrsweges erforderte, was Höhen und Tiefen betrifft, zugleich die Begradigung der Natur, also Tunnel und Brücken. Dabei war es, von einem rein technischen Standpunkt aus gesehen, noch gleichgültig, ob diese Wasserwege geradlinig oder der "krummen" Natur folgend verliefen.

Ein Dreivierteljahrhundert nach dem Kanalbau entwickelte sich der Eisenbahnbau; in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden Schienenwege zu den vorherrschenden Verkehrstrassen. Diese gestatteten zwar bescheidene Steigungen, jedoch keine engen Radien.

Der Tunnel als Fortsetzung der Brücke mit anderen Mitteln

Kanäle und Eisenbahnen, die Verkehrstechniken der industriellen Revolution, begünstigten, daß die mathematische Erkenntnis, wonach die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten die Gerade ist, die Verkehrswege-Ingenieurkunst bestimmte. Von nun an galt, daß die zwischen einer solchen Gerade liegende Natur nach Möglichkeit zu überwinden - anstatt zu umgehen - wäre. Nun erst wurden Brücken und Tunnel zu einem massenhaften Phänomen: beide bedingen sich gegenseitig: der Tunnel ist die Fortsetzung der Brücke mit anderen Mitteln. Ausgangspunkt dieses Verkehrswegebaus mit Brücken und Tunneln war nicht mehr das absolute Erfordernis. z. B. einen Fluß zu queren, sondern Zeitdiktat. Statt der einmaligen Querung eines Flusses konnte es nun Sinn machen, diesen gleich dutzendfach zu überbrücken, den krummnen Flußverlauf ignorierend die Gerade einzuhalten.

Tunnelröhre der Berliner U8: das Dunkel, Schlange und Phallus, die Bewegung hin und her... Foto: M. Heller

Der berühmteste Kanal Großbritanniens, der Llangollan Canal in Wales, verfügt über ein Aquädukt über den River Ceirog, das geradewegs in einen Wassertunnel übergeht und kurz darauf in dem wohl weltweit berühmtesten Pontcysyllte Aqueduct mündet, das in Kirchturmhöhe über ein Tal und über den Fluß Dee hinwegführt. Ich empfand es im letzten Sommer durchaus beeindruckend, als das „narrow boat" diese Passage nahm. Andere Zeitgenossen scheinen hierbei von ausgesprochen erhabenen Gefühlen bewegt zu werden. Aus einem neueren Bericht: „Ich kenne keine Strecke auf dieser Erde, wo das Erdinnere und der Himmel, wo graben und fliegen so eng beieinander liegen." (Detlef Hofmann, in: Tunnel - Orte des Durchbruchs, Marburg 1992, S. 34).

Vergleichbare Argumente, wie sie für den traditionellen Brücken- und Tunnelbau in der industriellen Revolution vorgebracht wurden, trafen beispielsweise für Tunnel unter dem Ärmelkanal so lange zu, wie die im Fährverkehr angewandten Techniken extrem aufwendig, zeitraubend und bezüglich der Sicherheit unzureichende waren. Davon allerdings kann heute keine Rede mehr sein, denn Fähren sind ebenso sicher und unsicher wie schnelle Unterwasser-Shuttle-Züge. Insbesondere verkürzt der Eurotunnel nicht die Gesamtsumme all jener Reisezeiten, bei denen eine Kanalquerung erforderlich ist, und schon gar nicht rechnet er sich unter den gegebenen und absehbaren Umständen, wenn die im Tunnelbau verausgabte Zeit in diese Rechnung mit einbezogen wird. Und durchaus ähnlich verhält es sich bei einem U-Bahn­-Projekt, wie dem der umstrittenen U5-Verlängerung in Berlin. Einem reinen Fahrzeitgewinn von höchstens vier Minuten würden bei einer Realisierung dieser U-Bahnstrecke zwischen Alexanderplatz und dem geplanten Lehrter Fernbahnhof Zeitverluste für längere Fußwege zu den wenigen Bahnhöfen und Umsteige-Zeitverluste gegenüberstehen. Hingegen könnten Straßenbahnen, die viel billiger als U-Bahnen zu bauen wären, der neuen Berliner Innenstadt viele Haltestellen und Direktverbindungen in viele Richtungen bringen. Dadurch ergäben sich kurze Fußwegzeiten und weitaus weniger Zeitverluste durch Umsteigevorgänge.

Bleibt die Frage: Was sind heute die Gründe für Projekte wie Eurotunnel oder U-Bahnen oder für Großtunnel, mitten durch Gebirgsmassive wie Gotthard oder Brenner hindurch? Weshalb kommt es zu immer absurderen Plänen für Tunnel-Lösungen. obgleich man allerorts erklärt, zum Schutze der Umwelt den Verkehr künftig eher reduzieren zu wollen? Soll der zusätzliche Verkehr vielleicht nur versteckt und unsichtbar gemacht werden?

Umweltschutz 2000:
Alle werden Kellerkinder

Im Herbst 1992 war ich zu einer Tagung eingeladen, auf der grundsätzlich die Verlegung großer Teile des menschlichen Lebens unter Tage propagiert wurde. Im Einladungstext des Südtiroler Ingenieurn und Architektenvereins hieß es: „Der für die Verbauung zur Verfügung stehende Lebensraum wird knapper... Verkehrsflächen aller Art und Lager werden in Zukunft großteils unterirdisch angelegt. Damit wird man vor allem den Anforderungen des Umweltschutzes gerecht.“

Während es für den Bau von U-Bahnen in Großstädten noch den einleuchtenden Lobby-Grund gibt, damit oberirdische Verkehrsflächen für Autos frei zu bekommen, so erscheinen die soeben genannten Projekte bar jeder Logik und voller Ignoranz jeglichen Kosten­-Nutzen-Rechnungen gegenüber. Dies stützt die Vermutung, daß die wirklichen Gründe für Tunnel gänzlich anderer Natur sind.

Weshalb zürnt die Berggöttin?

Lord Randolph, der Vater von Winston Churchill. gab einen Hinweis, als er 1899 in einer Stellungnahme gegen den Ärmelkanaltunnel schrieb: "Das Ansehen Englands beruht bis auf den heutigen Tag auf seiner Existenz als intakter Jungfrau (virgo intacta)." Die von der Österreichischen Staatsbahn herausgegebene Zeitung „Eurocity" titelte 1991 zum Eurotunnel: „Wie ein Inselvolk endlich seine Jungfräulichkeit verliert." (ÖBB, Eurocity, l/1991).

In Japan gab es vor kurzem ein Verbot weiblicher Präsenz in Tunneln während deren Baus und bei deren Einweihung. Als Journalistinnen dies erstmals brechen konnten, erhielten sie vom zuständigen Manager der Baufirma; Hitoshi Oishi, die Auflage, "wenigstens nicht in Röcken [zu] erscheinen“. Bei diesem bislang längsten Unterwassertunnel zwischen den Inseln Honshu und Hokkaido gab es zunächst eine Einweihungsfeier ohne Frauen. Auf Druck weiblicher Proteste wurde sechs Monate später eine zweite Einweihungsfeier durchgeführt, an der Journalistinnen teilnehmen durften. Dabei wurde strikt darauf geachtet, daß keine Bauarbeiter gleichzeitig im Tunnel waren und die Feier nicht an einem Werktag stattfand. Der Tokyoter dpa-Korrespondent schrieb damals: „Offensichtlich hatte auch die eifersüchtige Berggöttin ein freies Wochenende genommen." (Frankfurter Rundschau vom 22. Februar 1988).

Männer im Tunnelbau als symbolische Akte der Entjungferung, ein von Männer-Gehirnen entwickelter Aberglaube, wonach ihre Berggöttin eifersüchtig würde, wenn andere Frauen in dieses - ihr - Tunnel gelangten?

Nun finden sich Relikte solchen Aberglaubens aber nicht nur in Fernost sondern auch hierzulande, wo auch innerstädtische Schnellbahntunnel bei bergmännischer Bauweise weibliche Namen erhalten. Als aktuelles Beispiel seien die kürzlich eröffneten, im Schildvortrieb gebauten Tunnelröhren der Berliner U-Bahnlinie U8 genannt. Sie erhielten die Namen "wichtiger" Frauen: Die eine den der Gattin des (bei Baubeginn) Regierenden Bürgermeisters von Berlin (Diepgen) und die andere den der Reinickendorfer Bezirksbürgermeister-Gattin (Orwat).

So zeigt sich auch hier, daß die Gesellschaft im allgemeinen und die Verkehrs- und Baupolitik in der Autogesellschaft im besonderen von einem „männlichen Produktivitätsbegriff" geprägt ist. Alles Krumme, Runde, Hügelige, Bergige, Überflutete, an das andere Geschlecht erinnernde will in der männlichen Planerwelt überwunden, flach gemacht, begradigt, eingeebnet, untertunnelt, überbrückt, zugedekelt, mit Beton zugeschüttet - eben beherrscht und dem Manne gleich gemacht werden. Ist diese Verkehrswelt nur dann im Lot - richtig, gerichtet, regiert -, wenn sie sich gerade ausgerichtet und erigiert präsentiert?

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Bereits erschienen

Winfried Wolf

aus SIGNAL 3-04/1995 (Juni 1995), Seite 11-13