Als der Tunnel am 6. Mai l994 von der englischen Königin und von
Frankreichs Präsident Mitterrand eingeweiht wurde, war dies keinesfall
die Tunneleröffnung im eigentlichen Sinne. Es braucht(e) noch etwas Zeit,
ehe der Zugverkehr so richtig in Fahrt kommt: Mit Shuttlezügen, beladen
mit Lkw und Pkw, mit hochgeschwinden "Eurostar"-Personenzügen oder mit
Güterzügen. Gleich mehrfach nämlich hatte sich die Betriebsaufnahme
verzögert, so daß Tag für Tag Konventionalstrafen fällig wurden, die sich
seit dem 16. Juni 1993 immerhin auf ein paar hundert Millionen Mark
summierten. Nicht zuletzt diese Begleitumstände, die ins Geld gehen, sind
es, die Argwohn und Kritik wecken. Es ist daher durchaus von klärendem
Vorteil, die historischen Auslöser solcher Vorbehalte zum Visier der
Betrachtung zu machen.
55mal abgelehnt.
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Science fiction 1923: Bernhard Kellermanns Roman Der Tunnel Umschlaggestaltung von G. Salter |
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In 170 Jahren wurde das Projekt eines Tunnels unter dem Ärmelkanal 55mal vom britischen
Parlament abgelehnt, während auf der französischen Seite so gut wie
immer Zustimmung erfolgte. Dennoch gab es eine Reihe konkreter Projekte,
den Tunnelbau in Angriff zu nehmen.
Am weitesten war man 1882/83 vorgedrungen: Auf französischer Seite betrug
damals der Tunnelvortrieb 1.839 Meter, auf britischer Seite waren
bereits 1.850 Meter vorangetrieben. Dann wurden die Arbeiten eingestellt:
Das britische Kriegsministerium hatte den Abbruch mit einer militärischen
Begründung durchgesetzt. Die „splendid isolation" konnte zumindest
verkehrstechnisch weitere 112 Jahre erhalten werden. Erst die Europäische
Union sorgte dafür, daß der Ärmelkanal keine natürliche Barriere mehr
ist. "Dies Bollwerk vor weniger beglückter Länder Neid" ist spätestens
seit 1994 nicht nur Literatur- sondern auch Verkehrsgeschichte.
Nun ist Lyrik kein Argument; "Lieder“, wie sie einst Shakespeare
verfaßte, spiegeln Iediglich gesellschaftliche Sichtweisen. Sie bieten damit
aber einen Ansatz auch für die Betrachtung der Gegenwart. Und hier gilt: Der
Eurotunnel entspricht nicht erkennbar gesamtgesellschaftlichen Bedürfnissen.
Es handelt sich hier um ein Projekt, das in erster Linie die Zentren Paris
und London stärken, die dazwischen liegenden Regionen entwerten, teilweise
auch zerstören wird. Vor allem wird der Eurotunnel zusätzlichen Verkehr
produzieren. Dies ist nur zum Teil ein Ergebnis der technischen Seite des
Projekts. Bereits die Kapazität des Tunnels ist auf das Dreifache der
derzeitigen Fährkapazitäten ausgelegt. Und diese Steigerung des
Verkehrsaufkommens muß zumindest zu einem großen Teil erreicht werden,
wenn die finanzielle Seite der Eurotunnel Planung aufgehen soll.
Der Mensch als Ware?
Die Verkürzung der eigentlichen Überquerungszeit ist bescheiden: Auf der
schnellsten und mit dem Chunnel vergleichbaren Fährverbindung Calais - Dover
benötigen herkömmliche Fährboote 75 Minuten. Die Fährgesellschaften
beabsichtigen, ebenfalls im Stunden-Shuttle-Rhythmus zu fahren, indem die
Kapazitäten der beiden Gesellschaften Stena Sealink und P&O koordiniert werden.
Der Shuttle-Verkehr im Eurotunnel beansprucht als reine Reisezeit 35
Minuten, rund die Hälfte der entsprechenden Fährverbindung.
Die Be- und Entladungsprozeduren sind bei beiden Systemen ähnlich aufwendig.
Tatsächlich stehen sich eineinhalb bis zwei Stunden Überquerungszeit im
Fährbetrieb einer bis eineinhalb Stunden Überquerungszeit im
Chunnel-Betrieb gegenüber. Nun ist jedoch der Komfortverlust bei einer
Chunnel-Fahrt im Vergleich zur Fähre groß: Mindestens 20 Minuten werden
die Passagiere in einer Röhre unter dem Meer transportiert. Einschließlich
der Be- und Entladungszeit handelt es sich um gut eine Stunde.
Im Fall des Pkw-Verkehrs, was die bei weitem überwiegende Transportart sein
wird, bleiben die Passiere in der Regel die ganze Zeit in ihrem Pkw. Der
Mensch wird zum Transportgut, zur Ware. Individuelle Reaktionen und
Bedürfnisse - zumal solche von weniger euro-genormten Menschen wie Kindern
oder Seniorinnen und Senioren sind in der Chunnel-Welt ausgeklammert.
Allein, wenn dieser Komfortverlust berücksichtigt wird, erscheint die
zeitliche Einsparung von rund einer halben Stunde - bei Reise- und
Transportentfernungen, die sich meist auf viele Stunden belaufen als eine
zu vernachlässigende Größe.
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Eurostar - Hochgeschwindigkeitszug bei der Erprobung (1994) im neuen Londoner Bahnhof Waterloo International. Foto: European Passenger Service Ltd./British Rail International, Frankfurt/Main |
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Tunnel oder Fähre?
Die Fährgesellschaften jedenfalls zeigen für die Schwächen des
Chunnel-Projekts Sensibilität, d. h. ihr Profit-Instinkt läßt sie auf
adäquate Weise für den kommenden harten Konkurrenzkampf rüsten. Sie
reduzierten ihre Belegschaften drastisch, trotzten Streiks und intensivierten
die Arbeit der Fährbesatzungen, so daß sie die Preise der Fährpassagen
spürbar senken können bzw. für einen Preiskrieg gerüstet sind. Gleichzeitig
investieren sie in den Kauf neuer Luxusfährschiffe, womit die längere Zeit
auf dem Schiff gegenüber der Tunnelfahrt zum Vorteil des längeren zeitlichen
Genusses von Komfort, Luxus und Reiseerlebnis geraten könnte.
Nicht verschwiegen werden soll, daß die Konkurrenz zwischen Eurotunnel und
Fähren auf beiden Seiten die Sicherheit untergräbt: Bereits die
Fährkatastrophe auf dem Schiff „Herald of Free Enterprice" am 6. März 1987,
die 187 Menschenopfer forderte und für die Chunnel-Betreiber
gewissermaßen „wie bestellt" kam, wird von gewerkschaftlichen Kreisen auch
auf gerne Sparmaßnahmen dieser Fährgesellschaft in Erwartung der
Chunnel-Konkurrenz zurückgeführt. Über die Sicherheit des Chunnel-Betriebs
werden Ingenieure mit Aussagen zitiert wie: „Bei Feuer füllt sich der
Tunnel wie ein Ofenrohr mit erstickendem Rauch."
Alles im Gruß?
Es wird sich herausstellen, wie sauber gearbeitet wurde. Doch gab es
Hinweise, daß massenhaft aus der DDR Ostseesand exportiert und dem Beton
beigemischt wurde - derselbe Sand, der sich im Fall der
Reichsbahn-Betonschwellen als alkalihaltig erwies und selbige zerbröseln
ließ. Dies wird noch von den Beschuldigungen des christdemokratischen
niederländischen Europaparlamentariers J. L. Janssen van Raay übertroffen.
Dieser erhob 1991 den Vorwurf, beim Bau des Chunnel sei chemischer und
sogar radioaktiver Abfall verbuddelt worden. Der gefährliche Abfall soll
sich in den Betonkonstruktionen und im Fundament des Bauwerks befinden.
Im März 1993 wurden diese Vorwürfe präzisiert. Das WDR-Wirtschaftsmagazin
Plusminus berichtete - teilweise auf Recherchen desselben Parlamentariers
gestützt in der Betonkonstruktion des Tunnels seien 100.000 Tonnen
hochgiftige "Flugasche", die eigentlich als Sondermüll auf spezielle
Deponien hätte verbracht werden sollen, „verarbeitet" worden. Der Sondermüll
sei zuvor als „Beton-Additiv“ deklariert worden. Das Magazin gab Kostengründe
für die Beimengungen an. „Die Industrie wollte Kosten sparen, denn die
Entsorgung des Sondermülls ist teuer."
Solche Einwände erinnern an ein kühnes Projekt, das ein Jahrhundert
früher realisiert wurde: die Brücke über den Tay in Schottland. Diese
Brücke wurde eineinhalb Jahre nach ihrer feierlichen Einweihung, bei der
die Fachwelt versicherte, es bestehe „keinerlei Zweifel an ihrer
Stabilität“ (Times), am 29. Dezember 1879. in einer stürmischen Nacht
mitsamt einem vollbesetzten Zug in die Tiefe gerissen. „Mit dieser
Katastrophe“, so Peter Sager, „dreiunddreißig Jahre vor dem Unter
gang der Titanic, war für die Viktorianer mehr als eine Brücke
zusammengebrochen. Ihr
Glaube an die Technik, dieser unbegrenzte Fortschrittsglaube, war
dahin, Brücke und Eisenbahn, die beiden Symbole der Technik, lagen im Tay.“
Der Untersuchungsbericht dieses Unglücks stellte dann verblüffend lapidare
Faktoren zusammen, die mit ausschlaggebend für das Unglück waren und die sich
alle auf den Nenner „Profitgier" reduzieren lassen. So war das verwendete
Eisen von derart minderer Qualität, daß bereits beim Guß Bruchstellen auftraten,
die mit einer Mischung aus Bienenwachs und Ruß, die wie Gußeisen aussah,
vertuscht wurden. Bei der Konstruktion wurde lediglich die statische
Belastbarkeit, nicht jedoch die auf die Brücke einwirkenden Windkräfte,
berücksichtigt. Aufgrund des schlechten Materials flogen bei jeder
Bahnüberquerung Eisenteile aus dem Brückengestänge, was der Brückenwärter
erst nach der Katastrophe zu Protokoll gab.
Immer noch wird der Tay-Brücken-Einsturz der Nachwelt als Gottesurteil
oder Naturkatastrophe präsentiert. Im deutschsprachigen
Raum muß dafür vor allem Theodor Fontanes
Gedicht „Die Brücke am Tay“ herhalten, obwohl der Kehrreim am Schluß
der Strophen eine an unmißverständliche Sprache spricht.
Tunnel der langen Wege?
Der Eurotunnel bewirkt eine enorme Konzentration des Verkehrs auf eine
einzige Route: 25 Milliarden Mark sind ein starkes Argument, alle weiteren
Verkehrs- und viele andere Investitionen auf diese Strecke zu
konzentrieren. So ist von einer Verbindung, die vor der Eröffnung des
Eurotunnels für wichtig gehalten wurde, heute kaum mehr die Rede: Es war
ursprünglich geplant, die Eurostar-Züge London - Paris außer zu den beiden
Hauptstädten fast nirgendwohin, - aber nach Euro-Disneyland zu führen. - Oder
in den Worten des Verkehrswissenschaftlers Walter Molt: „Das große Europa
verspricht viel Freiheit der Bewegung... Die Entwicklung des Verkehrs gestattet.
an den Produktions- und Konsumtionsweisen der Zentren teilzunehmen. Das ist
der neue Wohlstand.“
Wenngleich die ersten Hochgeschwindigkeitszüge nun zwischen London und
Paris verkehren, für die Freiheit der Bewegung liegen die Probleme an anderer
Stelle: Euro-Disneyland selbst offenbarte sich im Herbst 1994 als am Rande des
Ruins.
Riesige Flächen an beiden Chunnel-Enden mußten planiert werden. Allein der
direkte Landschaftsverbrauch der beiden Verladestationen fraß 1.100 Hektar.
Neue, große Autobahnen bzw. Hochgeschwindigkeitsstrecken schließen sich
daran an, so eine neue sechsspurige Autobahn durch die südenglische
Grafschaft Kent.
Dabei rechnet sich die halbe Stunde Zeitersparnis schon nicht mehr für
Reisende und Transporteure aus Deutschland, den Niederlanden und Belgien,
die das Ziel London oder gar Mittelengland, Schottland und Irland haben.
Diese würden normalerweise in das niederländische Hoek van Holland oder
in die belgisehen Fährhafen Ostende und Zeebrügge fahren, um von hier aus
den Ärmelkanal zu überqueren. Durchaus vorstellbar ist nun, daß
auch dieser Verkehr in Zukunft die bedeutend längere Anfahrt auf den dann
massiv ausgebauten Verkehrswegen nach Calais in Kauf nehmen wird, z. B. wenn
die Fährverbindungen sich verschlechtern. In der Gesamtzeitbilanz hat sich
dann allerdings der angeführte Zeitvorteìl der schnellen Chunnel-Querung von
Calais nach Folkestone völlig im britischen Nebel aufgelöst.
Dasselbe gilt, umgekehrt, für Menschen, die in Großbritannien leben und
deren Reiseziel Europa ist. Sofern diese nicht in London oder in einer der
Städte leben, die mit den wenigen neuen Hochgeschwindigkeitszügen verbunden
sind, wird der Eurotunnel diesen - also der überwältigenden Mehrheit der
Kontinent-Besucher von den Britischen Inseln - keinerlei Reisezeitverkürzung
bringen. Selbst eine Großstadt wie Leeds wird nach der Eurotunnel-Eröffnung
über keine kürzere Eisenbahnverbindung nach Paris oder Brüssel verfügen als
zuvor.
Der Tunnel - ein Finanzloch?
Es gibt etwa eine halbe Million Kleinaktionäre, die sich, mit Blick auf
den EG-Binnenmarkt und geblendet von den auf Glanzpapier gedruckten
Werbeprospekten der Chunnel
Company, Aktien dieser Gesellschaft zulegten. Womit wir bei einem neuen
Aspekt, dem des „missing-link Business". sind. Wenn man nur vorsichtig die
bisher bekannten Investitionssummen, die zur Schließung besagter „missing
links" genannt werde, addiert, dann ergibt dies eine reine Bausumme von
über 100 Milliarden Mark - noch nicht eingerechnet die Folgeinvestitionen
(u. a. für neue Verkehrswege- zusätzlichen Verkehr- mehr Kfz). Es handelt
sich hier - neben dem Agrarbusiness - um die profitabelsten Projekte
der EU. Dies gilt besonders dann, wenn ein Finanzierungsmodell gefunden
wird, bei dem das Unternehmerrisiko auf ein Heer von Kleinanlegern verteilt
wird. Ein solches Modell ist der Europatunnel oder die britisch-französische
Gesellschaft gleichen Namens.
Die Firma Eurotunnel ist eine Aktiengesellschaft, die faktisch von 208
internationalen Banken kontrolliert wird. Diese Banken gewähren der Firma
Eurotunnel in erster Linie die Kredite - und sie verdienen an diesen
Krediten außerordentlich gut. Der private Charakter der Gesellschaft erlischt
nach 55 Jahren: dann geht sie in das Eigentum des französischen und
britischen Staates über. Was auf den ersten Blick vernünftig aussieht,
könnte sich als Danaer-Geschenk erweisen. Bei Projekten dieser Dimension stehen
ziemlich genau nach einem halben Jahrhundert große Erhaltungsinvestitionen
an - die dann wieder von den Steuerzahlern zu tragen sein werden.
Genauso hatte es sich im Eisenbahnbau verhalten. Alle großen Eisenbahnen
waren private Gründungen gewesen. Und alle waren sie nach rund einem halben
Jahrhundert gegangen. Die einen wurden dann verstaatlicht, womit die großen
Ersatzinvestitionen von den Steuerzahlenden finanziert wurden - so geschehen
in Europa. Die anderen, die privat oder überwiegend privat blieben, wurden
bereits im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts auf eine Marktnische im
Verkehrssektor verwiesen - so in Nordamerika.
Das Kapital für die Eurotunnel-Gesellschaft wurde im wesentlichen über
Kleinaktionäre aufgebracht. Die renommiertesten Banken der Welt und führende
Wirtschaftszeitungen gaben ihre Namen dafür her, den Argumenten Glauben zu
schenken. Aber heute ist sicher, daß an den Prognosen bezüglich der finanziellen
Perspektiven etwas nicht gestimmt hat: Der ursprünglich vorgesehene
Finanzrahmen wurde gesprengt, statt 6 wurden über 25 Milliarden DM investiert.
Hinsichtlich der ersten Dividendenzahlungen bilanzierte die Financial
Times 1990 ernüchtert: „Inzwischen wurde der Zeitpunkt erster
Dividendenzahlungen hinausgezögert.“ Es gilt als sicher, daß das Unternehmen
bis Anfang des nächsten Jahrhunderts keinerlei Dividende zahlen wird. Die
Schweizer Handelszeitung geht davon aus, daß die Tunnelgesellschaft
„frühestens 1998 aus der Verlustzone kommen kann, wenn die bisher
vorgelegten Zahlen stimmen“, und spricht von einer „ernsten Lage" der
Gesellschaft. Die Financial Times äußerte im November 1993 sibyllinisch,
der „Tunnel braucht einen guten Start"
- wenn nicht alles in einem Desaster enden solle.
Desaster für wen? S0 vage die Dividendenaussichten sind, so präzise ist
bekannt, daß die Gesellschaft in allen Jahren ihrer 53jährigen Existenz
Zinsen an die Kredit-Banken zahlen wird. Dabei sind Spitzenjahre vorgesehen,
in denen die Gesellschaft über 1,5 Milliarden Mark für den Schuldendienst
an die kreditgebenden Banken abführen muß. Noch 20 Jahre nach Inbetriebnahme
soll dieser Schuldendienst sich auf eine Milliarde Mark jährlich belaufen.
Die Banken dürften auf diese Art an der Eurotunnel-Company insgesamt rund
50 Milliarden Mark oder das Doppelte der Bausumme verdienen. Dieser
Schuldendienst muß erst erwirtschaftet sein, bevor Devidenden ausbezahlt
werden.
Als im Oktober 1991 und ein weiteres Mal Ende 1993 die Baukosten erhöht
werden mußten und die Finanzierung des Projektes fraglich erschien,
drohten die fünf britischen und fünf französischen Baukonzerne, die den
Eurotunnel realisieren, ernstlich mit einem Baustopp. Eine dadurch oder
auf andere Art ausgelöste Pleite des Projekts würde jedoch „nur" in der
Verstaatlichung der Eurotunnel-Company münden also in einer Konstellation,
die typisch für den Eisenbahn-Gründerboom Mitte des 19. Jahrhunderts war:
Privatiers beginnen mit dem Bau neuer Verkehrswege. Hunderttausende Aktionäre
Finanzieren diese Privatiers steigen aus, der Staat übernimmt notgedrungen.
Einen Großteil der „Sanierungskosten" zahlen die Kleinaktionäre. Spätere Verluste
des - nunmehr staatlichen - Projekts bezahlen dann die Steuerzahlerinnen und
Steuerzahler.
Solche nicht nur für Aktienbesitzer trübe Aussichten ließen den Kurs der
Aktie inzwischen erheblich in den Keller gehen. Dafür gibt es für
Aktienbesitzer andere Hoffnungen. Sofern sie mindestens hundert Anteilscheine
gekauft haben, winkt das unvergängliche Erlebnis, binnen eines Jahres nach
Inbetriebnahme des Tunnels mit einem auf ihren Namen zugelassenen Pkw einmal
den Chunnel hin und sogar wieder zurück durchfahren zu dürfen. Eine
bezeichnende Notiz im Kleingedrucklen besagt, daß diese „Natural-Dividende"
nur für eine Pkw-Passage. nicht jedoch für eine Passage mit einem Reisezug Gültigkeit
habe.
Was wird, wenn der Eurotunnel nun fertiggebaut ist, aber dauerhaft nicht
die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllt?
So etwas ist kein böses Geläster sondern anderenorts Wirklichkeit: Nicht unter
dem Ärmelkanal, sondern zwischen den japanischen Inseln Hokkaido und Honshu
verläuft der längste Tunnel der Welt, der eine Gesamtlänge von 54 Kilometern
aufweist und bis zu 240 Meter unter dem Meeresspiegel liegt. Doch am Ende
der 21 jährigen Bauzeit und bei der feierlichen Einweihung am 10. März 1985
herrschte Ratlosigkeit: Für die ursprüngliche Funktion des Bauwerks, eine
Hochgeschwindigkeitszug-Verbindung von Tokio nach Sapporo, fehlt das Geld.
Der Verkehr zwischen den Inseln wird in erster Linie auf dem Luftweg bewältigt.
Eurotunnel
Der Tunnel unter dem Ärmelkanal besteht aus drei Röhren, die jeweils 52 Kilometer lang sind. Sie verlaufen bis zu 38 Meter unter dem Meeresboden. Durch zwei dieser Röhren führen zwei Arten von Personen-Zugverkehr (vorzugsweise im Richtungbetrieb): Der Eurostar-Hochgeschwindigkeitsverkehr zwischen London und Paris bzw. Brüssel und ein Eisenbahn-Shuttel-Zugverkehr, der ausschließlich im Tunnel pendelt und je Zug bis zu 120 Pkw und 12 Lkw befördert. Die dritte Tunnelröhre wird gemeinhin als "Service-Röhre" bezeichnet. Es handelt sich um einen Versorgungs- und Rettungstunnel. Mercedes-Benz durfte hierfür spezielle Rettungsfahrzeuge konzipieren.
Auch wenn Katrastrophen natürlich offiziell als "ausgeschlossen" gelten, wurden Szenarien für alle "denkbaren" Katastrophen- Energieausfall, Brand, Maschinenschaden, Bombenanschlag, Entführung - erarbeitet.
Die kalkulatorischen Grunddaten des Eurotunnels sind bereits vor dessen Eröffnung äußerst unsicher. Geplant war für die Hochsaison ein Verkehr der Shuttel-Züge im Zehn-Minuten-Takt. Dazu wird es auf absehbarer Zeit nicht kommen, zum einen, weil nicht ausreichend Shuttle-Züge zur Verfügung stehen. Zum anderen, weil ein solcher Takt die vorgesehene Zahl von Eurostar-Personenzügen und von Güterzügen nicht zulassen würde.
Als Preis für ein Ticket im Pkw - einmal in der Röhre hin und zurück, inclusive Insassen - war der Kampfpreis von 98 britischen Pfund oder rund 250 DM angegeben worden. Inzwischen steht fest: In der Hochsaison wird deutlich mehr verlangt, erheblich mehr als im Fährverkehr. Die Fährgesellschaften könnten die Preis möglicherweise weiter senken, und dürften dazu bereits eine "Kriegskasse" angelegt haben.
Die Fahrpreise für den Personenzug Eurostar bewegen sich in der zweiten Klasse auf dem Niveau von Flugpreisen und in der ersten Klasse deutlich unter denselben. Die Kalkulation kennt nach dem Nachteil, den Fançois Mitterrand bissig anmerkte: "Die Reisenden durchqueren Frankreich in Höchstgeschwindigkeit, den Tunnel zügig, auf der anderen Seite können sie dann tagträumen." Die Hochgeschwindigkeitstrasse in England wird frühestens 2002 fertiggestellt sein. Der Widerstand in der Grafschaft Kent ist beachtlich, zumal hie Bürgerinitativen gewöhnlich von Millonären angefürht werden, durch deren gepflegten Vorgarten die Trasse verlaufen soll (Kampfslogan: "Nicht über meinen Rasen!"). Nach Fertigstellung der neuen Trasse könnten die Fahrpreise noch einmal ähnlich nach oben schnellen wie die Reisegeschwindigkeit (und wie bei den Shuttle-Preisen erfolgt). Vorteile dieser Verkehrsart gegenüber dem Flugverkehr, auf den der Eurostar vor allem abzielt und der sich mit der Liberalisierung weiter verbilligt, sind so kaum noch erkennbar: Die Reisezeit wird von Stadtmitte Paris zu Stadtmitte London vergleichbar lang oder kurz sein. Die Tarife für den Zug werden weitgehend dennen in der Luft entsprechen.
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