Signal • Serie
Vier Mammutbauwerke sollen dem Verkehr zwischen Nordeuropa und Italien neue Wege durch die Alpen bahnen. Während allerdings die Chancen für den Brenner-Basistunnel zusehends schwinden, wetteifern Frankreich und die Schweiz, welches der übrigen Vorhaben am schnellsten realisiert wird: der Mont-Cenis-Basistunnel oder AIpTransit mit der Neuen Eisenbahn-AlpentransversaleIl (NEAT) unter Gotthard und Lötschberg. Anstatt die Proiekte zu koordinieren, wollen die jeweiligen Regierungen sie mit Blick auf den erhofften Konkurrenzvorteil binnen gut eines Jahrzehnts realisieren. Für immer mehr Schweizer wird AlpTransit - so der offizielle Proiektname iedoch zum Alptraum. Experten befürchten aufgrund mangelnder Rentabilität und hoher Zinsbelastung ein finanzielles Desaster. Deshalb ist das letzte Wort über die NEAT wohl noch nicht gesprochen, auch wenn sie die Eidgenossen 1992 per Volksentscheid befürworteten.
1. Sep 1995
Die Idee, die Schweizer Alpen mit neuen Eisenbahntunneln zu durchqueren, ist mehr als dreißig Jahre alt. Eine 1963 eingesetzte Eidgenössische Kommission untersuchte fünf Varianten. Im Gegensatz zu den vorhandenen Strecken am Gotthard und Lötsehberg sollten sie das Gebirge am Fuße durchqueren. Bekannt wurden die Entwürfe als sogenannte Basistunnel. Im Auftrag des Bundesrates legten die SBB 1975 ein Bauprojekt für die Gotthard-Basisdurchquerung vor, das aber zunächst nicht weiter verfolgt wurde. Erst Mitte der achtziger Jahre, als Lastkraftwagen und Autos hunderttausender Touristen in unendlichen "Transit-Kolonnen“ durch Alpentäler und das Nadelöhr Gotthard-Straßentunnel zwängten, wurden erneut Planungen für verschiedene Basistunnel auf ihre Realisierbarkeit hin untersucht. Schließlich blieb nach Zweckmäßigkeits - und Umweltverträglichkeitsprüfungen sowie Kosten/Nutzenanalysen die Doppelvariante Gotthard- und Lötschbergtunnel übrig, eben die „Neue Eisenbahn-Alpentransversale“.
Daraufhin forderten vor allem Gegner des Projekts eine Volksabstimmung, nur knapp kamen die vorab benötigten 50.000 Unterschriften zusammen. Mit 63,6 Prozent der abgegebenen Stimmen entschieden sich die Schweizer am 26. und 27. September 1992 klar für die NEAT, wobei sie den Kostenrahmen für beide Tunnels zusammen ausdrücklich auf die damals veranschlagten 14,9 Milliarden Franken (plus Teuerung entsprechend der Inflationsrate) begrenzten.
NEAT soll sicherstellen, daß die Schweiz auch im nächsten Jahrtausend ihrer klassischen Rolle als Transitland gerecht werden kann. Alleine auf der Gotthardachse Basel - Chiasso könnten künftig bis zu 50 Millionen Tonnen Güter jährlich direkt von Grenze zu Grenze transportiert werden, zudem wäre die Alpenrepublik in das europäische Hochgeschwindigkeitsnetz eingebunden. Heute rollen rund die Hälfte der auf der Schiene transportierten Güter zwischen Nord- bzw. Mitteleuropa und Italien durch die Schweiz, ca. 18 von 35 Millionen Tonnen im Jahr. Dank restriktiver Maßnahmen wie 28-Tonnen-Limit, Nacht- und Sonntagsfahrverbot für Lkw konnte sich die Eisenbahn hier, anders als in Österreich und Frankreich, deutlich als wichtigster Verkehrsträger behaupten. Trotzdem: der Lkw-Transit schwoll binnen drei Jahrzehnten lawinenartig an, von lächerlichen 30.000 Tonnen (1965) auf zweieinhalb Millionen Tonnen.
Die Nachbarstaaten freilich sehen nicht ein, weshalb sich weitaus mehr dicke Brummer über den österreichischen Brenner oder durch den französischen Montblanc-Tunnel quälen, nur weil Bern die in der EU geltenden Beschränkungen auf 38 oder 40 Tonnen nicht akzeptiert. Obwohl im Transitvertrag durch eine Vielzahl von Ausnahmeregelungen bereits verwässert, steht das 28-Tonnen-Limit unter Beschuß seitens der Europäischen Union. Sie beharrt zwar nicht mehr auf der kurzfristigen Einrichtung eines „40-Tonnen-Korridors“, fordert aber, in einem ersten Schritt wenigstens das schweizerische Mittelland für schwere zu öffnen.
Eines der zugkräftigsten Argumente pro NEAT war, daß die Schweiz nur dann am 28-Tonnen-Limit festhalten könne, wenn sie zusätzliche Kapazitäten auf der Schiene bereitstelle. In einer weiteren Volksabstimmung am 20. Februar 1994 nahmen die Eidgenossen dann die sogenannte Alpeninitiative an. Danach muß der Gütertransit über die Alpen bis zum Jahr 2004 komplett auf die Bahn verlagert werden. Entsprechend wurde die schweizerische Bundesverfassung um Artikel 36 quater ergänzt. Dieser bestimmt u. a. auch: "... Die Transitstraßen-Kapazität im Alpengebiet darf nicht erhöht werden. Ausgenommen sind Umfahrungsstraßen zur Entlastung von Ortschaften vom Durchgangsverkehr“.
Bemerkenswerterweise sieht sich die EU ausgerechnet durch die Annahme der AlpenInitiative in ihrer Haltung gegen die rigide Gewichtsbegrenzung für Lkw gestärkt. Zum einen lasse sich nur mit einer höheren Nutzlast die Gesamtzahl der Lastzüge reduzieren. Zum anderen seien die Schienenwege so auszubauen, daß sie die Huckepack-Beförderung schwererer und größerer Lastkraftwagen als bisher erlauben.
Der Bundesrat in Bern verweist auf die Bedeutung der NEAT für die „Integration der schweizerischen Bahninfrastruktur in das künftige europäische Hochleistungsbahn und Güterfernverkehrsnetz". Der Bau der Neuen Alpentransversale setze ein europapolitisches Signal, da er zeige, daß sich die Schweiz trotz EU-Skepsis nicht von Europa abkapseln will. Im Transitabkommen mit der Europäischen Union verpflichtet sich das Land, die Güterkapazität drastisch zu erhöhen. Nach Fertigstellung des Gesamtprojekts AlpTransit (NEAT inclusive Zulaufstrecken) soll Sie 69 Millionen Tonnen pro Jahr betragen. Diese Menge entspricht etwa dem gesamten heutigen Transportvolumen zwischen Nordeuropa und Italien (auf Schiene wie Straße) und der Hälfte des für die Jahre 2010/2015 prognostizierten! Mit der NEAT - so der Bundesrat - würden die Verkehrsströme immerhin so kanalisiert, daß sie „umweltverträglich und energiesparend mit der Bahn bewältigt werden“ können.
Anscheinend stichhaltige Argumente - aber: werden die Prognosen tatsächlich eintreffen? Ist das Projekt nicht schon deshalb überdimensioniert, weil auch Frankreich und Österreich (selbst bei Verzicht auf den Brenner-Basistunnel) ihre Kapazitäten für den alpenquerenden Verkehr erweitern? Wie ist es um die Finanzierung bestellt, zumal der durch die Volksabstimmung vorgegebene Kostenrahmen sicher überschritten wird?
Fest steht jedenfalls, daß die neuen Tunnelstrecken nicht vor 2005 in Betrieb gehen. Die Umsetzung der Alpen-Initiative bis zum Jahr 2004 zwingt jedoch zu Zwischenlösungen. Durch den Ausbau vorhandener Strecken wollen die Schweizerischen Bundesbahnen und die Bern-Lötschberg-Simplon-Bahn (BLS) den 40-Tonnen-Brummern schon vorher einen leistungsfähigen „Huckepack-Koridor“ anbieten:
Die Ausbaumaßnahmen erfordern auf beiden Routen zusammen Investitionen von etwa eineinhalb Milliarden Franken. Dadurch soll sich die Kapazität für Huckepacksendungen (Sattelauflieger, Wechselbehälter) und die „Rollende Landstraße“ (komplette Lkw) weit mehr als verdoppeln, von derzeit 200.000 auf 470.000 Sendungen pro Jahr.
Mit dem Huckepack-Korridor pressen die Bahnen allerdings, wie es das Fachblatt Schweizer Eisenbahn-Revue formuliert, auf den bestehenden Bergstrecken „die letzten Tropfen der Zitrone heraus“. Experten befürchten außerdem Engpässe auf den Zulaufstrecken. Die europaweit durch Rentabilitätsgutachten bekannt gewordene Studiengesellschaft und Finanz-Consulting „Coopers & Lybrand“ dagegen kommt zu dem Schluß, die vorhandenen Schienenkapazìtäten reichten bei entsprechendem Ausbau bis ins Jahr 2022, sie ließen den Transport von knapp 40 Millionen Tonnen jährlich zu. Coopers & Lybrand zufolge gibt es für NEAT überhaupt keine zeitliche Dringlichkeit.
Zwar gilt das nur unter der Prämisse, daß ein Großteil des Alpentransits weiterhin den Umweg durch Frankreich oder Österreich nimmt, doch dürfte es zumal nach Fertigstellung des Mont-Cenis-Basistunnels kaum gelingen, alle bisherigen Umwegtransporte zu verhindern. Insgesamt drohen riesige Überkapazitäten. Ohnehin ist äußerst zweifelhaft, ob die bis 2010/2015 vorhergesagte Verdoppelung der Gütermengen im Verkehr Nordeuropa - Italien wirklich eintritt, denn bereits seit 1990 bleibt die Zunahme hinter den Erwartungen zurück.
Nun zeichnet sich beim Festhalten am Bau beider NEAT-Linien ein Finanzdebakel ab. Die Rentabilität der Tunnel am Gotthard und Lötschberg bezeichnet selbst die „Finanzdelegation der eidgenössischen Räte“ in ihrem Bericht vom März 1995 als derart ungewiß, daß im schlimmsten Fall bis zum 50, Betriebsjahr mit einer kumulierten Schuldenlast von 300 Milliarden Schweizer Franken gerechnet werden (Bieler Tageblatt vom 27. März 1995)
Trotzdem beharrt der Schweizer Bundesrat auf beiden Neubaustrecken. Finanziert werden sollen sie mit Krediten und zusätzlich durch eine auf fünfzehn Jahre befristete Erhöhung des „Treibstoffzolls“ (entspricht der deutschen Mineralölsteuer) um zehn Rappen pro Liter. - Gegen diese Maßnahme laufen nicht bloß die Verbände der Automobilisten Sturm. Finanzierungsmodellen für Verkehrsprojekte mißtraut das Schweizer Stimmvolk zutiefst, da sie sich schon beim Nationalstraßennetz und beim Fahrplan- und Schiennetzkonzept "Bahn 2000“ als Makulatur erwiesen haben. Angesichts der hier vorgenommenen Abstriche dürfte die jetzt vorgeschlagene NEAT-Sonderfinanzierung bei einem Volksentscheid kaum eine Mehrheit finden.
Der Verkehrsclub der Schweiz (VCS) hat sich 1992 für die NEAT ausgesprochen, sofern flankierende Maßnahmen sicherstellen, daß die Lkw-Transporte auf die Schiene verlagert werden und das Projekt „ökologisch optimirt" wird. Ersterer Punkt ist mit der Annahe der Alpeninitiative erfüllt; über die umweltverträglichste Trassierung bestimmter Abschnitte wird noch gestritten (so in den Kantonen Schwyz, Uri, Wallis). Um das schwer kalkulierbare finanzielle Risiko zu mindern, befürwortet der VCS jetzt, vorerst nur eine NEAT-Achse in Angriff zu nehmen. Sowohl ökologische Kriterien - u. a. Landverbrauch, Lärrnernission, geringere Abraurnmengen - als auch finanzielle Gesichtspunkte sprechen für die Priorität zugunsten der Lötschbergachse. Nach Auffassung des VCS kann nur der Lötschberg etwa gleichzeitig mit dem Mont-Cenis-Basistunnel (Verbindung Lyon - Milano) fertiggestellt sein. Andernfalls könnten die Mont-Cenis-Betreiber Transittransporte aus der Schweiz abziehen. Und dann - so der VCS - „sind die Chancen klein, diesen Verkehr wieder zurückzuholen. Überkapazitäten bei den neuen Bahntunneln verringern die Chance, die neue Bahninfrastruktur je rentabel zu machen und bedrohen damit indirekt auch die Finanzen des übrigen Verkehrs“.
Insgesamt wird der Verkehrswert der Gotthard-Achse allerdings höher eingeschätzt. Sie käme in stärkerem Maße als die Lötschberg-Linie auch Reisenden innerhalb der Schweiz zugute, da sie die bevölkerungsreichen Großräume um Zürich, Winterthur und St. Gallen mit denen um Bellinzona und Lugano verbinden würde. Die EU neigt ebenfalls dazu, das Gotthard-Projekt vorzuziehen, für sie zählen vor allem die hier kürzeren Gütertransportzeiten.
Klar gegen den gleichzeitigen Bau beider NEAT-Linien plädiert die Grüne Partei der Schweiz. Sie spricht von einer gigantischen Fehlinvestition, da selbst eine minimale Wirtschaftlichkeit nicht zu erwarten sei, andererseits Mittel für den sinnvollen Ausbau und Betrieb regionaler Schienenstrecken noch weiter gekürzt würden. Unter Verweis auf das Rentabilitätsgutachten von „Coopers & Lybrand“ argumentieren die Grünen: „Die Schweiz kann sich verkehrs- und finanzpolitisch den Alleingang mit zwei NEAT-Röhren nicht leisten. Einzig, wenn die NEAT im Rahmen einer koordinierten europäischen Transitpolitik steht, kann ein Milliarden-Debakel verhindert werden.“ Deshalb verlangen die Grünen von Bundesrat und Parlament,
Die Projektfinanzierung rnit Treibstoffgeldern wird von den Grünen im Prinzip bejaht. muß aber in ein Gesamtkonzept für den öffentlichen Verkehr eingebettet sein.
Wenn über Rentabilität und Baukosten debattiert wird, bleibt die Grundsatzfrage meist außen vor: Ist ein Produktions- und Verteilungssystem, das immer mehr Verkehr erzeugt, nicht völlig verfehlt? Und wenn schon ökonomische Freiheit respektive Liberalisierung und „Deregulierung" des Verkehrsmarkts, dann bitteschön so konsequent, daß die Nutzer der Verkehrswege auch die Kosten derselben voll tragen. So sehr die EU auf marktwirtschaftliche Rahmenbedingungen pocht: Ohne jegliche Subvention würden wohl kaum mehr Schweine aus dem Oldenburgischen nach Italien gekarrt, um sie dort zu Parmaschinken - vielleicht auch Pharma-Schinken - zu verarbeiten, der anschließend in deutschen Delikatessengeschäften feilgeboten wird.
Neue Eisenbahntunnel helfen zwar, Alpentäler von Lkw-Karawanen zu befreien, ermuntern aber insgesamt zu mehr Transporten, die wiederum Zufahrtswege in anderen Regionen belasten und dort zu Aus- und Neubauten zwingen. Allein deshalb sind die ökologischen Argumente pro NEAT höchst fragwürdig. Außerdem führt die verbesserte Standortgunst beispielsweise in den Tourismus gebieten Wallis und Tessin zu einem erhöhten „Nutzungsdruck“, der ökologisch sensible Bereiche gefährdet. Übrigens haben die aus Kostengründen die ursprünglich vorgesehene unterirdische Führung bestimmter Abschnitte und Zulaufstrecken wieder fallengelassen, womit sich betroffene Kantone allen voran Uri - aber nicht abfinden wollen. Es ist paradox: die Alpentransversale soll möglichst im Tunnel verschwinden, trotzdem möchten die durchfahrenen Regionen von ihr wirtschaftlich profitieren.
Wird die NEAT gebaut, verdienen sich auf jeden Fall ausländische Unternehmen goldene Nasen. Viele haben sich längst vor Ort niedergelassen und kungeln mit Politikern und Behörden, um sich ein großes Stück vom Kuchen abzuschneiden. Eher mittelständische einheimische Betriebe kommen gegen die auf Großprojekte spezialisierte Konkurrenz oft nicht an. Die internationalen Baukonzerne sitzen in den Startlöchern, was Wunder auch: schließlich geht es um ein Milliardending, um ein Auftragspolster für anderthalb Jahrzehnte.
Erst mal ist aber nur der Fortgang der Arbeiten an den Sondierstollen sichergestellt. Dafür hat der Bundesrat Überbrückungskredite bewilligt. Über die Finanzierung des Gesamtprojekts entscheidet voraussichtlich 1996/97 das Volk. Lehnt es die Vorschläge des Bundesrates ab, könnte das für die NEAT de facto das Aus bedeuten.
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Bereits erschienen:
Konrad Koschinski
aus SIGNAL 6/1995 (September 1995), Seite 11-14