Signal • Serie
Schon beim Lesen der Überschrift werden Scharen von Verkehrsexperten und solchen, die sich dafür halten, den rhetorischen Waffenschein heraus kramen. Eine spezielle Art von Verkehrsbauten, die einst als Lösung innerstädtischer Verkehrsprobleme propagiert wurde, erwies sich in manch einem (nicht in jedem!) Fall als unnötig, kontraproduktiv und vor allem als Milliardengrab. Und als Gelegenheit für Gegner und Befürworter, öffentlich mit Denkmodellen zu schwadronieren, deren Niveau eine beachtliche Breite nach oben und unten aufweist.
1. Dez 1995
Seit es Städte gibt, gibt es infolge der damit verbundenen kommunikativen und technologischen Prozesse auch darin stattfindenden Verkehr (um Mißverständnisse auszuschließen: Verkehr im Sinne von Ortsveränderung). Seitdem verknüpfen sich damit Leidenschaften entfachende Probleme unterschiedlicher Qualität. Mit zunehmender Technisierung vor allem im Laufe unseres Jahrhunderts wachsen mit den entstehenden Bequemlichkeiten (daraus folgend: wachsender Individualverkehr) hieraus resultierende Belästigungen und in gleichem Maße der Widerstand gegen das hemmungslose Ansteigen der Zahl der im allgemeinen umweltbelastenden und Fläche schluckenden Fortbewegungsmittel. Bereits im vergangenen Jahrhundert wurde die einzige Möglichkeit zur Bewältigung der Zahl von Ortsveränderungen in der Schaffung zusätzlicher Verkehrsebenen gesehen. Neben dem technisch einfacheren Bau von Hochbahnen wurde der Bau von Tunnelstrecken propagiert. Verschiedene europäische Hauptstädte, London und Paris beginnend, später auch Budapest und Berlin spielten hier eine Vorbildrolle. Heute ist die Bewältigung der Verkehrsströme in derartigen Metropolen ohne die unterirdischen Schienenwege nicht mehr denkbar. Gleichzeitig bildete sich damit ein gewisser Mythos heraus. Denn wer fortan von Großstadtleben sprach, meinte auch die U- Bahnen oder Metros, die das Bild mitprägten und auf den gelegentlichen Benutzer eine eigentümliche Faszination ausüben.
Die Überlegungen für solche Tunnelprojekte waren auch in mittelgroßen deutschen Städten bald Teil der Verkehrsplanung. Zu beachten hierbei ist aber, daß vor den allerorten eingetretenen Kriegszerstörungen die Städte durchweg beengt waren und bei Erhaltung des Stadtbildes der einzige Ausweg zur Bewältigung großer Verkehrsströme mittels öffentlicher Verkehrsmittel tatsächlich in unterirdischen Verkehrswegen zu sehen war. Diese Situation änderte sich nach 1945 erheblich. Die Zerstörungen des zweiten Weltkrieges wurden als einmalige Gelegenheit zur Neugestaltung der Städte und zur Durchsetzung unkonventioneller Ideen begriffen. Die zum Teil drastischen Vorstellungen von Corbusier und anderen sahen Städte nicht mehr als über Jahrhunderte gewachsene Struktur, sondern als Projektionsfläche für Materie gewordene Geometrie. Damit einher ging die Planung von Verkehrssystemen, die dem Vorbild einiger Metropolen folgend, unterirdische Verkehrswege als Gipfel der Urbanität begriffen. Angesichts der im zunehmenden Oberflächenverkehr erstickenden Stadträume ein offenbar logischer Gedanke.
Viele westdeutsche Städte wurden in diesem Sinne mit U-Bahnen als eigenständiges System, meistjedoch mit der zur „Stadtbahn" aufgewerteten Straßenbahn, in innerstädtischen Tunneln fahrend, beglückt. München und Nümberg wurden mit klassischen U-Bahnen nach Berliner und Hamburger Vorbild ausgestattet bei gleichzeitiger Einschränkung der Straßenbahnnetze an der Oberfläche. Allerdings kam es nicht zu den bitteren Konsquenzen wie in Berlin (-West) und Hamburg. Die Tendenz aber bleibt. Denn mit Eröffnung einer U-Bahn glaubte man, an der Oberfläche mehrere Straßenbahntrassen eliminieren zu können und den Platz dem Straßenverkehr freizumachen. Das Ergebnis ist bekannt: die zusätzlichen Flächen für „des Deutschen liebstes Kind" wurden als Angebot wahrgenommen, die Nutzung privater Kraftfahrzeuge auf ein mittlerweile bedenkliches Maß zu steigern und die nicht mehr sichtbaren öffentlichen Verkehrswege mit Nichtachtung zu strafen. Dazu kam noch, daß die Flächenerschließung infolge der aufwendigen Tunnelstrecken nicht die Qualitäten eines oberirdischen Systems mit kurzen Zugangswegen aufweisen konnte. Die zur Bündelung starker Verkehrsströme über größere Distanzen im Grunde sinnvollen U- oder Stadtbahnen kamen als „Straßenbahnkiller" unnötigerweise in Mißkredit. Bis heute passen ein sinnvolles Nebeneinander mehrerer Verkehrsträger und damit mögliche Ausweichmöglichkeiten für das gesamtstädtische Verkehrssystem nicht um die gängigen Denkklischees, die nur ein "entweder - oder" kennen.
Auch die unterirdische Führung der „klassischen" Straßenbahn ohne Installation eines eigenständigen U-Bahn-Netzes ist eine uralte Überlegung. Schon zur Kaiserzeit wollte man in der Berliner Innenstadt Tunneltrassen für die Straßenbahn installieren und damit die anteilig in Seitenstraßen parallel laufenden Linien bündeln. Teils als Ergänzung, teils in Konkurrenz zur wachsenden U-Bahn. Besonders um die Leipziger Straße, in der sich die meisten Straßenbahnlinien bündelten, führten die private Große Berliner Straßenbahn und die Siemens'sche Hoch- und Untergrundbahn erbitterte Kämpfe. Mit dem Ergebnis, daß sich die Straßenbahngesellschaft mit ihrem Monopol auf „die Leipziger" durchsetzte und die heutige U2 in zahlreichen Kurven durch Seitenstraßen geführt wurde. Das Verkehrsproblem Leipziger Straße war damit nicht gelöst, die Pläne für den Straßenbahntunnel wurden als betriebstechnologisch unpraktikabel zu den Akten gelegt. Wenn heute alte Beschreibungen und Ansichten dem verkehrsreichsten Berliner Areal, dem Potsdamer Platz, eine gewisse urbane Romantik andichten, so muß nüchtern angemerkt werden: das Verkehrschaos war dem heutigen ebenbürtig.
Zwei Straßenbahntunnel waren zu dieser Zeit schon Realität: der bereits zuvor behandelte Stralauer Spreetunnel, als Versuchsbau errichtet und dann durch eine eigens hierfür eingerichtete Straßenbahn bedient, sowie der Lindentunnel. Der entstand, weil des Kaisers Paraden in der Straße Unter den Linden durch die querende Straßenbahn gestört wurden bzw. die Betreiber der Linien sich gewiß auch durch die Paraden gestört fühlten. Das letzte Mal wurde er 1951 befahren, seitdem war er über lange Jahre der Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich. Derzeit ist hier eine Ausstellung von Ben Wargin zu besichtigen, übrigens mit einer Original-Straßenbahn auf der Rampe!
Die Stadt kam in den Tagen des „Dritten Reichs" zu Tramtunneln. Die Anfahrt der bestellten Jubler zu den „Reichsparteitagen" war Aufgabe der hierzu ertüchtigten Straßenbahn zum Stadion. Um den Betrieb effektiv auf diese Aufgabe abstimmen zu können, wurden die Zufahrtstrecken ab 1938 teilweise unterirdisch geführt, Der Zustrom zu diesem Bereich ist heute naturgemäß nicht mehr derart groß. Zwei der drei Tunnelstrecken sind stillgelegt, sie werden zum Teil noch als Lager und Abstellgleis genutzt. Der verbliebene Tunnel wird von der Linie 7 bis Bayemstraße befahren - mit einem Solo-Wagen in etwa halbstündigem Abstand. Das verbliebene Netz hat unter dem Bau der U-Bahn gelitten - ganz nach (West-) Berliner Muster.
In der Bundesrepublik wurden in den sechziger Jahren zahlreiche Tunnelprojekte aufgelegt, die sich heute allenfalls als funktional fragwürdige Torsi mit unübersehbaren Folgekosten präsentieren. Am ehrgeizigsten und bestimmt gut gemeint war wohl das Projekt der Stadtbahn Rhein-Ruhr, Hier sollte ein das ganze Ruhrgebiet überziehendes U-Bahn-/ Stadtbahn-System entstehen. Der Blick ins Portemonnaie zwang schon bald zur Option auf einen Mischbetrieb mit den existenten Straßenbahnnetzen. Neben Kahlschlag in selbigen ist heute ein Stückwerk zu begutachten, das die gewünschten durchgängigen Verbindungen nicht bieten kann und dazu noch durch den Einsatz grundverschiedener Wagentypen technologische Probleme bringt. Es ist schon ein seltsamer Anblick, in einem Bahnhof zu stehen, der Berliner Anlagen in der Länge noch überbietet und dann kommt darin ein halbvoller Sechsachstriebwagen zum Halten. Besonders delikat sind die Anlagen, die einen Hochbahnsteig für die breiteren und nur für solche Anlagen einsetzbaren Stadtbahnwagen B aufweisen und dann einen niedrigeren für die konventionellen schmalen Wagen. Derartige Bahnhöfe waren als Provisorium gedacht, aber so etwas hält ja bekanntlich am längsten. Die über den Tunneln zu bewundernden, überall gleichen, sterilen Fußgängerzonen sind nur mit einer gesunden Portion Lokalpatriotismus als anziehend zu empfinden. Das Fehlen jedes oberirdischen Verkehrsweges läßt manche dieser Bereiche mit Ladenschluß reichlich veröden.
Eine andere Qualität weist da schon die Stuttgarter Stadtbahn auf. Nachdem die ursprünglichen Pläne für eine reinrassige U-Bahn in Richtung „Stadtbahn" korrigiert wurden (Sie wissen schon: das liebe Geld), entstand hier innerhalb von etwa 20 Jahren mit bemerkenswerter Konsequenz ein funktionierendes Netz, das die Vorteile von Straßenbahn- und U- Bahn-Systemen in sich vereint und den Stadtraum auch mit einer gewissen Dichte erschließt. Es besteht noch Gemeinschaftsbetrieb mit der altbekannten Straßenbahn, hier auch mit den Mischbahnsteigen. Es dürfte aber nur noch eine Frage der Zeit sein, bis ein einheitliches System besteht. Man hatte sich generell für Hochbahnsteige auch im Straßenland entschieden: zu einer Zeit nämlich, als von Niederflurwagen ernsthaft noch keine Rede war. Bedenklich ist nur die Begrenzung der Bahnsteiglänge auf Zweiwagenzüge. Kapazitätserweiterungen im Sinne eines zum ÖPNV tendierenden Modal Split sind damit Grenzen gesetzt.
Der Zustieg ist also in der Schwabenmetropole flächendeckend erleichtert worden bei Einsatz von konventionellen Hochflurfahrzeugen. Dieses Netz sollte auch konsequent bis zu Ende ausgebaut werden. ln solcher Qualität handelt es sich jedoch um eine Ausnahme, während in anderen Städten nur das erwähnte Stückwerk bei gleichzeitiger Zerstörung oder Einschränkung bestehender Netzstmkturen zu verzeichnen ist.
Interessante Gegensätze bieten die Nachbarstädte Mannheim und Ludwigshafen. deren Straßenbahnnetze eine betriebliche Einheit darstellen. Ludwigshafen wurde - gefördert durch die ortsansäsige BASF - mit einem innerstädtischen Tunnelsystem beglückt, die Straßenbahn ist in der City an der Oberfläche nicht mehr zu finden. Den betriebstechnologischen Vorteilen, wie geringerer Fahrzeugbedarf, steht ein erhöhter logistischer Aufwand entgegen. Abgesehen von den unerläßlichen Wartungsarbeiten, der Notwendigkeit stets einsatzbereiter Rettungssysteme und der Sicherungstechnik (Fahren auf Sicht wie an der Oberfläche ist nicht zulässig) muß eine gesonderte Tunnel-Leitstelle rund um die Uhr besetzt werden, so daß der personelle Aufwand sogar noch steigt. Ab einer gewissen Größe des Verkehrsaufkommens mag dies gerechtfertigt sein (siehe Stuttgart), in diesem Fall dürfte aber das rechte Maß nicht gegeben sein. Die Nutzung außerhalb der Hauptverkehrszeiten ist eher spärlich, da es zu große Hemmungen gibt, sich in den Tunnel hinabzubegeben. Kommentar eines Einheimischen: „Auf dem Zentralfriedhof von Chicago ist um diese Zeit mehr los". Anders dagegen das benachbarte Mannheim: die Realisiemng ähnlicher Vorhaben verhinderten die knappen Kassen (mit Ausnahme eines kurzen Tunnels in einem mehr peripheren Bereich). In diesem Fall hatte der Zwang zum Sparen bzw, das Fehlen eines edlen Spenders sein Gutes. Denn die weitläufigen Mannheimer Fußgängerbereiche werden bestens durch die oberirdisch geführte Straßenbahn erschlossen. Man sieht, wo man ist und auch, was in den Schaufenstern liegt. Hier wird ein hervorragendes Beispiel geboten, daß man wirklich nicht um jeden Preis in den Untergrund verschwinden sollte.
Merkwürdiges geschah in Duisburg. Nach über 20 Jahren Bauzeit wurden dort im Jahre 1992 innerstädtische Tunnelanlagen in Betrieb genommen, die offensichtlich mit aller Gewalt fertig werden mußten, da sie nun einmal begonnen wurden. Es gab zuvor Trassen durch Fußgängerbereiche, die niemanden ernsthaft stören konnten und sich hervorragend in das Stadtbild einpaßten (sofern man von Stadtbild sprechen kann). Vielleicht war es aber auch der Schmerz über einen großen Prestige-Verlust, Denn von 1933 bis 1955 fuhr die Straßenbahn am Hauptbahnhof schon einmal einem (wenn auch kurzen) Tunnel, was ja seinerzeit etwas außergewöhnliches war. Dann mußte sie einer neuen Stadtautobahn weichen, die jetzt diese Betonröhre nutzt. Nachdem die Straßenbahn - nicht zu ihrem Nachteil - in diesem Bereich wieder ans Licht kam, kann man jetzt endlich wieder auf eine „moderne", sprich übermäßig teure, Trassierung stolz sein.
Die Reihe der Beispiele ließe sich beliebig fortsetzen. Es gibt durchaus Systeme, die durch unterirdische Führung einen reibungslosen Betrieb der Straßenbahnnetze überhaupt noch möglich machen, Auch hier darf aber der bittere Hinweis nicht fehlen, daß letztendlich vor einem ausufernden Individual- und Frachtverkehr an der Oberfläche geflüchtet wird. Will man ÖPNV-Netze unter den gegenwärtigen Verhältnissen am Leben erhalten, braucht es nun auch einmal pragmatische Lösungen. In manch einem Fall läßt sich aber unschwer zu Beton erstarrter Größenwahn ausmachen. Und GVFG-Gelder ließen sich zuweilen mit den Tunneln weitaus effizienter verpulvern. Zugunsten kleinerer und wirksamer, aber unspektakulärer Maßnahmen wäre möglicherweise weniger Geld geflossen. Die Zeche haben sowohl überschuldete Kommunen als auch am Tropf hängende und damit wirtschaftlich unbewegliche, wie auch politisch abhängige Verkehrsbetriebe zu zahlen. Daß ökologische Folgen sowohl durch übertriebenen Tunnelbau als auch durch den in der Folge weiter wachsenden Individualverkehr eine weitere Kehrseite der Medaille sind, dürfte eigentlich schon Allgemeingut sein. Angesichts von solchem Pseudo-Umweltschutz wie dem Shell-Boykott kann man diese Gebetsmühle aber offenbar gar nicht oft genug in Gang setzen.
Wie so vieles andere auch, bedarf das Phänomen unterirdisch geführter Straßenbahnen einer sehr differenzierten Betrachtung. ln bestimmten Einsatzfällen, wie beengten historischen Stadträumen, oder wenn es darum geht stark belastete Knotenpunkte zu entwirren, wird man um Verkehrslösungen in der zweiten Ebene nicht herumkommen, Wenn aber jemand Pläne vorlegt, nach denen auf weit gegliederten Flächen oder sogar bei neuen Stadtvierteln die Gleise in den Tunnel sollen, damit sie um Gottes willen keiner sieht; wenn funktionierende Systeme zugunsten von Prestigeobjekten zerstört werden, wäre es schon die Pflicht des gemeinen Steuerzahlers, die Damen und Herren Politiker und Planer zu fragen: „He, Sie da; ja, Sie mit der Aktentasche und dem Spaten. Was vergraben Sie denn da? Was machen Sie denn hier mit meinem Geld?“.
Straßenbahn-/Stadtbahntunnel in Deutschland in Betrieb:
Bielefeld, Bochum, Bonn, Dortmund, Düsseldorf, Duisburg, Essen, Gelsenkirchen, Frankfurt/M.,
Hannover, Kassel, Köln, Ludwigshafen, Mannheim, Mühlheim/R., Nürnberg, Schwerin, Slullgart
Stillgelegte Anlagen befinden sich in Berlin, Duisburg und Nürnberg.
In der nächsten SIGNAL-Ausgabe lesen Sie:
nächste Folge:Ivo Köhler
aus SIGNAL 8/1995 (Dezember 1995), Seite 21-23