Signal • Serie
Seitens mancher Ansager im Radio wird zuweilen in Interviews ein Zeitvertreib in Form sogenannter Assoziationsspiele angeboten. Greifen wir diese Marotte einmal auf Was füllt der verehrten Leserin oder dem geneigten Leser alles so ein, wenn das Wort Großstadt fällt? Spätestens an zweiter oder dritter Stelle wird wohl die U-Bahn oder Metro auftauchen. Wie kommt das? lm Gespräch mit Dresdner Verwandtschaft, das sich irgendwann zwangsläufig auch um allgegenwärtige Verkehrsprobleme dreht, fällt mit an Wahnsinn grenzender Wahrscheinlichkeit der Satz: ,Ihr habt es gut. Ihr habt ja wenigstens eine U-Bahn.
1. Jan 1996
So, wenn wir es so gut haben, was soll dann das Gemeckere gegen neue Tunnel im Berliner Schwemmsand. Was soll eigentlich das Sinnieren über dieses Thema hier auf diesen Seiten? Wer jeden Tag damit zu fahren hat, sagt sich: ob das Ding nun irgendwo obenlang oder durch einen Tunnel oder sonstwie durch die Gegend gondelt - Hauptsache es fährt überhaupt was. Was erfahrungsgemäß nicht immer der Fall ist. Denn wo etwas funktionieren soll, ist der Fehlerteufel nicht weit. Aber das ist schon wieder ein anderes Thema. Versetzen wir uns einmal in den nicht täglichen Benutzer. Also in den Touristen, der zum ersten mal in den Schlund abtaucht. Oder in den - Sekt, Blumen, Konfettii! - hartgesottenen Automobilisten, der angesichts von Schneefall oder ähnlich verwunderlichen Dingen spontan auf die Idee kommt, mal was anderes zu versuchen, zum Beispiel U-Bahn fahren.
Sie alle begeben sich nun also in diese neue, seltsame, geheimnisvolle Welt, Es beginnt mit den allgemeinen Tücken der unübersichtlichen Großstadt. „,lst das die U-Bahn zum Zoo?" „Ja". „Na, dann können wir ja einsteigen. Wo fahrt die Bahn denn eigentlich hin?“ „Nach Ruhleben." „Wissen Sie, wir wollen nämlich zum Alexanderplatz? „Na, dann sind sie aber in die verkehrte Richtung eingestiegen." „Ach so? Dann müssen wir ja wieder raus. Warum sagen Sie das nicht gleich? Komm Herbert, wir müssen raus. Nee, sind die unfreundlich hier. Huch, jetzt fährt das Ding schon wieder. Da müssen wir noch eine Station warten. Warum sagt einem das keiner, das man hier nicht zum Alexanderplatz kommt? Hier soll sich mal einer zurechtfinden.“
Das war eines der Probleme. Kennt einer das Gefühl, wenn man in Prag oder Budapest die langen Rolltreppen in den Metros sowjetisch/russischer Bauart in die Erde taucht? Wer das nicht dank Gewöhnung bereits abgelegt hat, dem wird anfangs recht mulmig. Denn ein Ende der hinabgleitenden Kette von Treppenstufen ist nicht zu sehen. Ob das gut geht? Und kommt man hier wieder raus? Gut, die Probleme hat man in Berlin nicht unbedingt. Denn so tief sind die Tunnel hier nicht. Können es nicht sein aufgrund der Bodenbeschaffenheit. Sehr zum Leidwesen der betonverarbeitenden Industrie, kann vermutet werden. Jedenfalls ist der Hemmeffekt gegenüber dem Unbekannten da unten in der Tiefe zuweilen auch zu verzeichnen. Und sei es nur, das man nicht weiß, wer da hinter den vielen Pfeilern und Ecken steht. Andererseits weckt gerade das Ungewisse Neugier. Neugier auf mehr. Womit wir uns dem im Titel versprochenen Thema, dem Mythos nähern.
Mythos: Person, Sache, Begebenheit, die (aus meistverschwommenen, irrationalen Vorstellungen heraus) glorifziert wird, legendären Charakter hat; auch: falsche Vorstellung, „Ammenmärchen"; rnythisch: sagenhaft, erdichtet.
Vor einigen Jahren machten zwei angebliche U-Bahner für einige Tage von sich reden mit einer hübschen Geschichte von „Honeckers Atombunker", den sie am Alex entdeckt hätten. Er stellte sich als halbfertiger U-Bahnhof mit einigen Luftschutzräumen heraus. Lange Zeit hielten und halten sich Legenden, wonach es in der Zeit des „Dritten Reichs“‘ unterirdische Verbindungen zwischen wahlweise: Reichskanzlei, Führerbunker, Reichstag und wahlweise: Nord-Süd-S-Bahn, U- Bahn-Linie A und U-Bahn-Linie C gegeben hätte. Ein Martin Bormann (rechte Hand Hitlers) soll angeblich durch einen solchen Tunnel entkommen sein, um sich unter südlicher Sonne seines verkorksten Lebens zu freuen. Der Fund von dessen Leiche im Berliner Sand in den siebziger Jahren änderte an den Legenden nichts. Ebensowenig der Umstand, das in Berlins Boden, dessen Beschaffenheit zumindest den Spezialisten auf diesem Gebiet notwendigerweise bekannt ist, solche Gänge nie nachgewiesen wurden. Und das bei anhaltender Bautätigkeit allerorten. Ganz Verwegene wollten ihre Zuhörer glauben machen, zwischen dem Wehrmachtskommando in Wünsdorf und wieder wahlweise verschiedenen zentralen Orten hätte es eine geheime U- Bahn-Verbindung gegeben. Wieso hat die nie jemand gefunden? Angeblich soll die NVA in Wildpark einen unterirdischen Bahnhof besessen haben. Wieso ist in dieser gewiß nicht gerade entlegenen Gegend niemandem ein Hinweis darauf aufgefallen? Ein Anschlußgleis, Belüftungen, Notausstiege? Nichts da. Aber Legenden leben lange.
Ein reizvolles Thema für Phantasiebegabte offenbar. An der Oberfläche ist alles klar und eindeutig, Aber wie sieht es darunter aus? Da kann man seine dichterischen Fähigkeiten schon einmal erproben. Denn für den nicht unmittelbar Beteiligten ist es ja kaum möglich, die Geschichten nachzuprüfen. So entstehen die an oben genannten Beispielen vorgeführten Storys und Legenden. Und sorgen für den lebendigen Mythos.
Jeniffer Toths authentische Geschichten über die Tunnelmenschen in New York, in dieser Serie schon besprochen, faszinieren den Leser nun wieder auf andere Weise. Kann denn das, was da beschrieben wird, tatsächlich möglich sein? Man gerät in Versuchung, auch hier vieles dem Reich der Phantasie zuzuordnen. Fakt ist: es gibt sie, die Tunnelmenschen unter New Yorks Straßen.
Die Erbauer der Bahnen um die Jahrhundertwende taten das ihre, um den Gängen unter dem Pflaster mystisches Flair zu verleihen, Die im Geschmack der Zeit gefällige Ausgestaltung der Anlagen orientierte sich vielfach an mittelalterlichen Bauten, vornehmend denjenigen wehrhaften Charakters. Und was soll man von der geheimnisvollen Figur halten, die unter der Hochbahnrampe am Nollendorfplatz demnächst wieder Wasser speit?
Was verbirgt sich noch alles hinter den Türen und Wänden in den unterirdischen Verkehrsadern? Man kann sich noch vieles dazu ausdenken. Manchmal gibt es ja auch Überraschungen. Für die Öffentlichkeit jedenfalls, und Zeitungen wollen ja auch leben. Da sackt doch in der Heerstraße ein Bürgersteig weg. Der Bauherr wußte es auch vorher, ein halbfertiges Stück U-Bahn-Tunnel aus den dreißiger Jahren war darunter. Solche Vorleistungen gibt es viele im Berliner Boden (jeder Pirat vergräbt sein Geld irgendwo). Was gab es da nicht alles zu hören und zu lesen. Das unbekannte Unterirdische zog wieder einmal alle in den Bann.
Die Luftschutzräume, die in den Berliner U-Bahnhöfen Siemensdamm und Pankstraße integriert wurden, faszinieren bei gelegentlicher Erwähnung. Spektakulär ins Bild gerückt wurden im Vorfeld des Baues der geplanten Tiergartentunnel die Ende der dreißiger Jahre begonnenen Bauten im Zuge der Straße des 17. Juni und im Spreebogen. Legenden ließen sich hier kaum stricken, da tatsächlich schon einiges an Beton im Boden versenkt wurde. Was jetzt wieder mühselig und teuer entfernt werden muß.
Blickt man auf der U8 kurz vor Hermannplatz aus dem Zug, kann sich kaum einer der überwältigenden Wirkung der umfangreichen Gleisanlagen in diesem Bereich entziehen, die in dieser Dimension oberirdisch keinerlei Reiz hätten. Die gelegentlich veröffentlichten Schnittdarstellungen solcher „Maulwurfbaue" verstärken diesen Eindruck noch. Das alles, verbunden mit dem Reiz des Unsichtbaren strahlt weit ab, bis in die entlegenste Gegend. Wenn auf der Ansichtskarte eine Treppe sichtbar wird, markiert mit dem blauen „U", weiß der Betrachter: aha, große, große Großstadt. Das täuscht, mittlerweile kann es sich auch um die Fußgängerzone von Mühlheim/Ruhr oder Bochum handeln. Aber man macht sich den Nimbus, der das „U" umgibt, zunutze. Irgendwo im Unterbewußtsein der Leute, die Entscheidungen zum Bau der Tunnel treffen, sitzt das mit Sicherheit fest. Es finden sich für die Öffentlichkeit natürlich andere, sachliche, nachvollziehbare Gründe. Dagegen sagt auch keiner was. Den neuerdings gern bemühten Psychozirkus, der mitunter als Argument gegen Tunnel bemüht wird, braucht man dazu nicht unbedingt. Wo die U-Bahnen in der Innenstadt fahren, kann man sich kaum vorstellen, wie es noch ohne sie geht. In den Außenbezirken sieht es dann aber schon etwas anders aus. Das alles ist hinreichend diskutiert und immer noch Streitthema. Dessen ungeachtet: der Mythos bleibt. Und er gehört wohl dazu wie bei jeder Art von mechanisierter Fortbewegung. Was rankt sich nicht alles um Autos und ganz spezielle Bauarten hiervon. Das gehört wohl zur gesellschaftlichen Anerkennung solcher Gegenstände. Lassen wir also auch der U-Bahn ihre Geschichten.
Jedoch die Aura, die U-Bahnen als die einzige Lösung aller städtischen Verkehrsprobleme umhüllt, verstellt den Blick auf einige Realitäten - vor allem in finanzieller Hinsicht. Es muß nun einmal sehr genau überlegt werden, ob für die zu erzielenden Effekte tatsächlich die Lösung „Tunnel" unausweichlich ist, oder ob es auch etwas bescheidener geht. Mit verantwortungsvoller Bescheidenheit macht man aber leider keine Schlagzeilen, vor allem nicht in der Hauptstadt aller Deutschen - oder wie das heißt. Geheimnisträchtiges und zugleich Bombastisches zu produzieren, das ist halt die reizvollere Variante. - Und ist auch besser geeignet, Bewunderung zu erzeugen: „Ihr habt‘s gut...“.
In der nächsten SIGNAL-Ausgabe lesen Sie:
Ivo Köhler
aus SIGNAL 9-10/1995 (Januar 1996), Seite 19-20