Die Schweiz schrumpft – zumindest für all
jene, die im Zug unterwegs sind. Die Fahrzeit
zwischen Bern und Brig halbiert sich
nahezu auf 61 Minuten, wenn der Lötschbergbasistunnel
nach 13 Jahren
Bauzeit in Betrieb genommen
wird und den Zügen
Spitzengeschwindigkeiten
von 250 Stundenkilometern
ermöglicht.
Das wird auch den europäischen
Bahnverkehr deutlich
beschleunigen. Etwa eine
Stunde schneller als bisher
werden die Züge aus Deutschland
ihre Ziele in Norditalien
erreichen. Die Alpen, seit jeher
das Nadelöhr im Verkehr
zwischen Nord und Süd, werden
dank des 35 Kilometer
langen Tunnels durchlässiger.
Nicht erst die Klimadebatte
der letzten Monate zeigt,
dass die Schweizer – anders
als ihre Nachbarn – mit der
umweltfreundlichen Bahn auf das richtige
Verkehrmittel gesetzt haben. 64 Prozent
der wichtigsten Fahrtziele in der südlichen
Schweiz werden durch den Tunnel schneller
mit der Bahn als mit dem Auto erreichbar
sein. Derzeit sind es 18 Prozent.
Dass sich die Schweizer teure Tunnel und
damit einen schnelleren und leistungsstärkeren
Bahnverkehr leisten können, verdanken
sie einer klugen Weichenstellung, die
die Bevölkerung der Politik 1994 durch eine
Volksabstimmung abgerungen hat. Die von
Lkw-Lawinen geplagten Bewohner forderten,
dass die Folgekosten des klimafeindlichen
Straßenverkehrs berücksichtigt und
die Subventionen für die Straße gekappt
werden.
Seit nunmehr fünf Jahren gibt es deshalb
die Leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe
(LSVA), die fünfmal so hoch ist wie die
deutsche Lkw-Maut. Die Berechungsgrundlage
für ihre Höhe folgte dabei einer einfachen
Frage: Welche Kosten verursacht der
Lkw-Verkehr für Mensch und Natur?
Die Abgabe gilt auf allen Straßen und für
alle Lkw. Deshalb gibt es im Alpenstaat keine
Verlagerung von großen auf kleine Lkw
oder von Autobahnen auf Bundesstraßen.
800 Millionen Euro hat die Eidgenossenschaft
im Jahr 2005 dadurch eingenommen.
Das Geld wurde, wie in den Vorjahren auch,
vor allem in den Lötschbergbasistunnel und
in die Gotthardachse (geplante Fertigstellung
im Jahr 2015) investiert. Damit die Effekte
dieser Milliardeninvestition nicht verpuffen,
wurden in der Schweiz ein Baustopp
für alpenquerende Autobahnen verfügt sowie
ein Wochenend- und Nachtfahrverbot
für LKW angeordnet.
Während in der EU der Güterverkehr auf
der Straße seit 1995 um 38 Prozent zugenommen
hat, ging die Zahl der Fahrten auf
Schweizer Straßen im Nord-Süd-Verkehr
um 14 Prozent zurück, landesweit um insgesamt
acht Prozent. Das liegt zum einen
daran, dass durch kluge Logistik Leerfahrten
der Lkw vermieden werden. Zum anderen
findet die gewünschte Verlagerung auf die
Bahn statt:
Vor Einführung der Maut fand beispielsweise
der Mineralöltransport zu 70 Prozent
auf der Straße statt, heute zu 70 Prozent auf
der Schiene. Effizienz und Verlagerung ließen
die Kosten beim Verbraucher lediglich
um ein halbes Prozent steigen, obwohl die
mautbedingte Verteuerung des Lkw-Verkehrs
20 Prozent betrug. Dass eine ökologische
Verkehrswende für Wirtschaft und
Verbraucher unbezahlbar wird, ist damit
bewiesenermaßen ein Trugschluss.
Der Lötschbergtunnel ist aber nicht nur
Vorreiter bei der Verkehrsverlagerung, er
ist auch technologisch innovativ, weil er
ausschließlich mit dem Europäischen Zugsicherungs-
und Signalsystem ERTMS (European
Rail Traffic Management System)
ausgestattet ist (vgl. SIGNAL 3/2006). Im
Lötschbergtunnel gibt es keine Signale. Die
Informationen werden von sogenannten
Balisen, die sich zwischen den Schienensträngen
befinden, wie beim Mobilfunk in
die Lokomotive übertragen. Der Zugführer
weiß nun genau, wann, wo und wie schnell
er fahren darf. Beachtet er die Informationen
nicht und fährt etwa in einer Kurve zu
schnell, so wird der Zug automatisch abgebremst.
Deshalb ist das neue System auch
sicherer. Zudem ist es wegen der fehlenden
Signale auch kostengünstiger beim Bau und
in der Unterhaltung.
Auch die Kapazität wird
durch ERTMS erhöht, so dass
Engpässe in den Knoten und
Flaschenhälsen auf den Zufahrtstrecken
zum Tunnel
ohne kostenaufwändige
Neubauten beseitigt werden
können.
Mit ERTMS im Lötschbergtunnel
werden nur solche
Eisenbahnunternehmen
die schnelle Alpenquerung
nutzen können, die ihre Lokomotiven
mit der neuen
Technik ausgestattet haben.
Deshalb gibt es nicht nur einen
ökologischen, sondern
auch einen technologischen
Quantensprung.
Um die technologischen
Potenziale zu nutzen und
den Klimawandel zu bekämpfen, brauchen
die EU und ihre Mitgliedsstaaten das Rad
nicht neu zu erfinden. Sie müssten nur anerkennen,
dass die klugen Schweizer ein Erfolgsmodell
vorgelegt haben, das den unfairen
Wettbewerb zu Lasten der Schiene beseitigt
und die finanzielle Unterstützung der
umweltschädlichen Transporte beendet.
Würde das Schweizer Modell auf Europa
übertragen, könnten in zehn Jahren die
transeuropäischen Eisenbahnverbindungen
fertig gestellt und die Verlagerung tatsächlich
gelungen sein.
Deutschland, als EU-Ratspräsident und
Möchtegern-Vorreiter im Kampf gegen
den Klimawandel, könnte mit gutem Beispiel
vorangehen und die bestehende
Lkw-Maut auf alle Straßen und auf alle
Lkw verbindlich ausweiten. Die Einnahmen
könnten zur Sanierung und zum
Ausbau von Schienenprojekten verwendet
werden. Denn wenn die Nachbarn der
Schweiz weiter untätig bleiben, verlieren
sie den Anschluss und das ehemalige Nadelöhr
Alpen würde zum schnellsten und
leistungsstärksten Teil des europäischen
Schienengüterverkehrs zwischen Nordsee
und Mittelmeer werden.
Michael Cramer, MdEP
Verkehrspolitischer Sprecher der Fraktion Grüne/EFA im Europäischen Parlament
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