International

Europaweite Bahnreformen als Fitnessprogramm fürs 21. Jahrhundert

Die Eisenbahn konnte als erstes modernes Verkehrsmittel im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen beispiellosen Erfolg verbuchen. Mit der Einführung und Durchsetzung des Autos und des Verkehrsflugzeugs kam jedoch die Kehrtwende hin zu einem anhaltenden Rückgang des Eisenbahnverkehrs. Um diesen Rückgang zu stoppen, hat die EU den Regelungsrahmen des Eisenbahnsektors mit den drei „Eisenbahnpaketen“ von 2001, 2004 und 2007 grundlegend geändert.

Frankreich: Karte Fahrradbeförderung
Diese Karte zeigt die Hauptstrecken, auf denen Fahrradbeförderung im Tagesverkehr möglich ist. Die Strecken sind im Kursbuch angegeben und saisonal veränderlich. Quelle: SNCF

Der Schwerpunkt der derzeitigen Reform liegt auf der europaweiten Öffnung der Netze für den Schienengüterverkehr. Mit den ersten beiden Eisenbahnpaketen sollten die Grundlagen für den „modal shift“ gelegt werden, die Verlagerung des Gütertransports von der Straße auf die Schiene. Die nationalen Monopole sollten sich dem Wettbewerb stellen, die Netze geöffnet und die Modernisierung des jahrzehntelang vernachlässigten Eisenbahnnetzes in Europa eingeleitet werden.

Der Erfahrungsbericht der EU-Kommission hat gezeigt, dass der Erfolg der Reform maßgeblich von der Geschwindigkeit abhängt, mit der die einzelnen Mitgliedstaaten ihren Markt geöffnet haben. Die Länder, die sich schon vor Jahren auf die EU-weite Öffnung der Netze für den Eisenbahn-Güterverkehr vorbereitet hatten, verzeichnen einen gewaltigen Zuwachs. So stieg der Schienentransport von Gütern in Großbritannien um 60 %, in den Niederlanden um 42,5 %, in Polen um mehr als 30 % und in Deutschland um 25 %. In Frankreich, wo der Zugang erst seit dem 1. Januar 2007 möglich war, sank er im selben Zeitraum um 28 %.

Dass die Öffnung der Eisenbahnnetze für den Güterverkehr trotzdem nicht den gewünschten Verlagerungseffekt und auch keine nachhaltige Wiederbelebung des Schienenverkehrs gebracht hat – der Straßengüterverkehr hat nämlich ebenfalls stark zugenommen –, hängt zwar auch von der Gestaltung des Eisenbahnsektors ab, ist aber in erster Linie das Ergebnis eines unfairen und die umweltfreundliche Eisenbahn diskriminierenden Wettbewerbs insbesondere gegenüber der Straße.

Wettbewerbsverzerrung durch fehlende oder nur geringe Lkw-Maut

Lkw-Maut in Europa
Lkw-Maut in Europa. Die Grafik zeigt, dass die Lkw-Maut in der Schweiz fünfmal so hoch ist wie in Deutschland. Sie gilt zudem auf allen Straßen (nicht nur auf Autobahnen) und für alle Lkw bereits ab 3,5t. Quelle: McKinsey 2005

Für den Eisenbahnsektor in Europa ist zwingend vorgeschrieben, dass auf allen Schienenstrecken für alle Züge in Form der Trassenpreise eine Maut erhoben werden muss. Für den schärfsten und am meisten emittierenden Konkurrenten, die Straße, wird die Maut aber meist nur auf Autobahnen und in der Regel nur für Lkw ab 12 t erhoben. Ihre Höhe ist begrenzt, die externen Kosten dürfen derzeit nicht internalisiert werden und die Mauterhebung ist freiwillig. Demgegenüber ist in der Schweiz der modal shift gelungen. Dort gibt es ein Lkw-Fahrverbot am Wochenende und in der Nacht. Die Lkw- Maut ist fünfmal so hoch wie die in Deutschland und gilt auf allen Straßen und für alle Lkw über 3,5t.

Schienenmaut
Schienenmaut in Europa. Die Grafik zeigt, dass die Bahntrassen-Preise in der EU stark variieren, wobei gerade jene Länder hohe Gebühren für die Schiene erheben, in denen die Autobahnnutzung für Lkw kostenlos ist. Quelle: Europäische Verkehrsministerkonferenz 2005

Das Europäische Parlament (EP) hat mit der Zustimmung zu meinem Bericht zur „Durchführung des ersten Eisenbahnpakets“ im Juli 2007 die unfairen Rahmenbedingungen bestätigt, faire Wettbewerbsbedingungen für die Schiene verlangt und die Schweizer Maut zum Vorbild erhoben. Die Anträge der Konservativen – allen voran der deutschen CDU-Abgeordneten –, die unfairen Rahmenbedingungen zu streichen, wurden von einer großen Mehrheit im EP zurückgewiesen. Außerdem wurde die Kommission aufgefordert, gegen eine Förderpraxis vorzugehen, nach der im Verkehrsbereich EUFördermittel von den Mitgliedstaaten fast ausnahmslos für die Straße verwendet werden. Das Parlament forderte deshalb, dass bei der Ko-Finanzierung durch die EU „mindestens 40 Prozent der Mittel der Schiene zugute kommen“.

Bessere Fahrgastrechte für Bahnreisende auf Langstrecken

Das dritte Eisenbahnpaket, mit dem u. a. die EU-weiten Fahrgastrechte geregelt werden sollten, wurde zwischen den Delegationen des EP und des Rates zäh verhandelt, weil der Rat sie nur auf den grenzüberschreitenden Zugverbindungen gelten lassen wollte. Das würde bedeuten, dass u. a. für Fahrgäste desselben Zuges unterschiedliche Rechte gelten. Wäre z. B. der Zug zwischen Köln und Brüssel verspätet, hätten nur die Fahrgäste einen Anspruch auf Entschädigung, die von Aachen nach Lüttich oder Brüssel fahren. Diejenigen, die nur von Brüssel nach Lüttich oder von Köln nach Aachen unterwegs sind, gingen leer aus. Mit dem gefundenen Kompromiss wurde zwar das Ansinnen des EP verfehlt, dass die Fahrgastrechte auf allen Strecken gelten. Sie gelten nun aber auf allen Langstrecken – ein erster Schritt, um die Fahrgastrechte europaweit zu verankern.

Zwei Jahre nach der Veröffentlichung tritt die Verordnung in Kraft. Die Anwendung kann jedoch bis zu drei Mal um jeweils 5 Jahre ausgesetzt werden. Für diese Fristverlängerung müssen die Eisenbahnunternehmen bei ihren Regierungen einen Antrag stellen, der von der EU-Kommission zu genehmigen ist. Die Grünen/EFA hatten wesentlich kürzere Fristen gefordert, um die Bahnen rasch zu einer höheren Dienstleistungsqualität zu verpflichten.

Den Fahrgästen werden bei Verspätungen von einer Stunde 25 % und von zwei Stunden 50 % des Fahrpreises erstattet. Für kürzere Distanzen sind zunächst noch die Mitgliedstaaten verantwortlich, denen es jedoch auch erlaubt ist, die Standards zu erhöhen. Neben der Entschädigungsregelung beinhaltet das Paket auch die Pflicht, an den meisten Bahnhöfen europaweite Auskünfte zu erteilen und Fahrkarten lösen zu können.

Fahrradmitnahme im Fernverkehr mit Schlupfloch

Die Fahrradmitnahme auch in Hochgeschwindigkeitszügen, die das EP mit einer sehr großen Mehrheit gefordert hatte, steht zwar im Artikel 4b des normativen Teils der Verordnung. Sie lässt aber ein Schlupfloch, weil die Fahrradmitnahme nur dann möglich sein soll, wenn „es leicht zu handhaben ist, den Eisenbahntransport nicht beeinträchtigt und die Züge es erlauben“.

Ob die DB AG sich auch weiterhin international blamieren will, wird sich zeigen. Denn nicht nur 60 % der Fahrgäste sprechen sich für die Fahrradmitnahme auch in Hochgeschwindigkeitszügen aus. Auch die Franzosen machen den Deutschen vor, dass „es leicht zu handhaben ist (und) den Eisenbahntransport nicht beeinträchtigt“. Die Fahrradmitnahme im TGV von Stuttgart nach Paris ist nämlich schon heute möglich, im ICE von Frankfurt nach Paris hingegen nicht.

In Zukunft wird es auch vom öffentlichen Druck der Fahrgäste und ihrer Verbände auf die Eisenbahnunternehmen und die Regierungen abhängen, inwieweit sich Fahrgastrechte europaweit etablieren und die Behandlung der Fahrgäste als „Beförderungsfälle“ nicht nur in der Schweiz der Vergangenheit angehört, sondern auch in der Europäischen Union.

Michael Cramer, MdEP
Verkehrspolitischer Sprecher der Fraktion Grüne/EFA im Europäischen Parlament

aus SIGNAL 5/2007 (Oktober/November 2007), Seite 25-26

 

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