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Im Februar 2011 geschah in Berlin etwas
Unerwartetes: Der Volksentscheid über ein
„Gesetz für die vollständige Offenlegung
von Geheimverträgen zur Teilprivatisierung
der Berliner Wasserbetriebe“ bekam
genügend Stimmen. Dieser Erfolg des
„Berliner Wassertisches“ animierte die Eisenbahn-
und Verkehrsgewerkschaft (EVG,
ehemals Transnet und GDBA), zusammen
mit anderen Organisationen einen Monat
später den „Berliner S-Bahn-Tisch“ zu
gründen und den großen Unmut über die
Zustände bei der Berliner S-Bahn für ein
ähnliches Volksbegehren zu nutzen – eine
erfolgversprechende Strategie.
Aber schnell zeigte sich, dass viele vom
S-Bahn-Tisch formulierte Ziele nicht geeignet
waren, sie in ein Gesetz zu bringen.
Forderungen, Netz und Betrieb nicht zu
trennen oder auf eine Ausschreibung des
S-Bahn-Verkehrs für die Zeit nach 2017 zu
verzichten, konnten in einem Landesgesetz
nicht untergebracht werden. Hinzu kommt,
dass in einem Berliner Gesetz keine Regelungen
für die in Brandenburg liegenden
S-Bahn-Strecken getroffen werden können.
So musste man sich am Ende auf drei Punkte
beschränken, die nicht im Widerspruch zu
anderen gesetzlichen Regelungen stehen
und die zumindest in Berlin umsetzbar sein
könnten:
- Offenlegung der Verträge
- Anforderungen an einen neuen Verkehrsvertrag
(Aufsichtspersonal auf jedem
S-Bahnhof, besetzte Fahrkartenschalter
auf Umsteigebahnhöfen, Anzahl der im
Einsatz befindlichen Wagen, Strafzahlungen
für defekte Aufzüge)
- Tarifliche Entlohnung aller Beschäftigten
Das sind Forderungen, die auch aus Fahrgastsicht
zu begrüßen sind. Aber die Initiatoren
des Berliner S-Bahn-Tisches, neben der
EVG u. a. auch attac Berlin, Bahn für Alle mit
Winfried Wolf, Pro Bahn Berlin-Brandenburg,
DKP, Jusos, Piratenpartei und einzelne Bezirksverbände
der Partei Die Linke, werben
für das Volksbegehren unter dem Motto:
„Rettet unsere S-Bahn! Stoppt Privatisierung
und Ausplünderung!“ und „Für eine bezahlbare
S-Bahn“.
Erfüllt der Gesetzentwurf diese Forderungen?
Zwischen dem Selbstverständnis der Initiative
und dem, was das vorgelegte Gesetz
bewirken kann, liegen Welten. Eine „Privatisierung“,
was auch immer damit gemeint sei,
wird durch das Gesetz nicht ausgeschlossen,
ein Verbleib des ganzen S-Bahn-Betriebes
und -Netzes in der Hand der DB AG nicht
erreicht, eine Ausschreibung und Vergabe,
wie sie nach EU-Recht erforderlich ist, nicht
verhindert. Die Initiatoren werben für ihren
Gesetzentwurf mit „Anti-Privatisierung“,
aber dazu steht nichts darin. Sie nennen es
„Gesetz zur Beendigung des Chaos bei der
Berliner S-Bahn“, aber alle wichtigen strukturellen
Veränderungen, die dazu beitragen
könnten, sind nicht Thema dieses Gesetzes.
Auch das Anliegen einer „bezahlbaren
S-Bahn“, also sozial-verträglicher Tarife, fehlt.
Im Gesetzentwurf steht nichts Falsches,
aber der Anspruch der Initiatoren, das Chaos
zu beenden und zur Zukunftssicherung
der Berliner S-Bahn beizutragen, wird nicht
einlöst.
Wichtige Themen bleiben ausgespart
Warum darf die Deutsche Bahn mit dem
Netz und den Stationen Gewinne machen,
die nicht reinvestiert werden müssen? Warum
konnte die Deutsche Bahn die Berliner
S-Bahn personell und finanziell „ausquetschen“,
bis der Betrieb zusammenbrach?
Warum hat die Bundesregierung nicht
gegensteuert, sondern beteiligt sich nun
sogar noch am „Ausquetschen“, indem sie
der Bahn jährlich 500 Millionen Euro für die
Sanierung des Bundeshaushaltes abnimmt,
der vorher mit 5 Milliarden Euro für die staatliche
Förderung der Autoindustrie in Gestalt
einer Abwrackprämie belastet wurde? Warum
denken die Länder Berlin und Brandenburg
nicht ernsthaft darüber nach, die Infrastruktur
und den Fahrbetrieb der S-Bahn
in eine Landeseisenbahngesellschaft zu
überführen?
All das sind Zukunftsfragen, zu deren
Lösung das Volksbegehren nichts beiträgt.
Deshalb hat sich der Berliner Fahrgastverband
IGEB entschlossen, das Volksbegehren
des Berliner S-Bahn-Tisches wohlwollend
zu begleiten, aber nicht aktiv zu unterstützen.
Auch Deutscher Bahnkundenverband,
BUND und VCD haben von einer Unterstützung
abgesehen.
Das Verfahren
Bis 15. Dezember 2011 müssen 20 000 Unterschriften
zusammenkommen, damit das
laufende Volksbegehren in die dann folgende
Volksabstimmung münden kann. Dafür sind
dann 172 000 Unterschriften innerhalb von
vier Monaten nötig. Bei dessen Erfolg kommt
es zum Volksentscheid in der Wahlkabine.
Weitere Infos unter www.s-Bahn-tisch.de
Der Gesetzestext, über den im Volksbegehren abgestimmt wird, lautet:
Gesetz zur Beendigung des Chaos bei der Berliner S-Bahn
§ 1 Offenlegung der Verträge
Alle Verträge, Beschlüsse und Nebenabreden, die im Zusammenhang mit dem Abschluss des jeweils
gültigen Verkehrsvertrages zwischen dem Land Berlin und der S-Bahn Berlin geschlossen werden, sind
innerhalb von zehn Werktagen nach Unterzeichnung vorbehaltlos auf den Internetseiten des Landes
Berlin offen zu legen. Bereits geschlossene Verträge in diesem Bereich sind ebenfalls innerhalb von
zehn Werktagen nach Inkrafttreten dieses Gesetzes auf gleiche Weise zu veröffentlichen.
§ 2 Anforderungen an den Verkehrsvertrag
In jedem neuen Verkehrsvertrag für den S-Bahnverkehr ist sicherzustellen, dass
- während der Betriebszeit auf jedem S-Bahnhof Aufsichtspersonal anwesend ist,
- innerhalb des Tarifbereichs AB an jedem Umsteigebahnhof zu anderen U- oder S-Bahn-Linien ein
mit Personal besetzter Fahrkartenschalter mindestens 10 Stunden täglich geöffnet ist,
- die Zahl der in Einsatz befindlichen Wagen und Sitzplatzkapazitäten mindestens wieder auf das
Niveau des Jahres 2005 – von vor Ausbruch der S-Bahn-Krise – angehoben wird, dabei muss die
Zahl der im Einsatz befindlichen Wagen zu den im Fahrplan ausgewiesenen Fahrplankilometern im
gleichen Verhältnis stehen wie 2005,
- die Anzahl der betriebsfähigen und im Einsatz befindlichen Wagen und Sitzplatzkapazitäten täglich
um 7.00 Uhr auf der Internet-Seite des Betreibers neben der Soll-Zahl einschließlich einer zwanzigprozentigen
Reserve veröffentlicht wird,
- die Zugbehängung für alle Linien im Detail und auch für die zusätzlichen Zuggruppen in der Hauptverkehrszeit
in der Wagenanzahl festgelegt ist,
- zur Gewährleistung der Zielsetzung der Barrierefreiheit bei Ausfällen von Aufzügen und Fahrtreppen,
die über einem vom Land Berlin zu definierenden Durchschnitt liegen, eine Vertragsstrafe
seitens des Betreibers an das Land Berlin als Maluszahlung zu leisten ist, soweit diese Einrichtungen
sich in S-Bahnhöfen innerhalb des Landes Berlin befinden. Die Definition des oben erwähnten
Durchschnitts hat in Zusammenarbeit mit den Fahrgast- und den Behindertenverbänden zu erfolgen.
Die Anforderungen aus Satz 1 Nr. 1, 2, 5 und 6 sind innerhalb eines Jahres, die Anforderungen aus Satz
1, Nr. 3 und 4 innerhalb von zwei Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes in den bestehenden Verkehrsvertrag
einzuarbeiten und umzusetzen. Über den Stand der Einarbeitung und Umsetzung ist von der
federführenden Senatsverwaltung halbjährlich ein Bericht zu veröffentlichen.
§ 3 Tarifliche Entlohnung
In jedem neuen Verkehrsvertrag für den S-Bahnverkehr ist sicherzustellen, dass die Entlohnung und
Sozialstandards der beim Leistungserbringer beschäftigten Mitarbeiter, einschließlich der Leiharbeitnehmer,
mindestens denen der einschlägigen, repräsentativen Tarifverträge in der jeweils gültigen
Fassung entspricht. Die Tarifverträge müssen mit einer tariffähigen Gewerkschaft abgeschlossen sein.
Es ist sicherzustellen, dass diese Bedingungen auch auf alle Subunternehmer angewendet werden.
§ 4 Inkrafttreten
Dieses Gesetz tritt am Tag nach der Verkündung im Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin in Kraft. Berliner Fahrgastverband IGEB
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