Fernverkehr

Gefahr für Bahn durch Fernbusse bleibt

Zug
Ein EuroCity-Zug Richtung Berlin abfahrbereit in Dresden Hbf. Angesichts der nunmehr bereits seit vielen Jahren unattraktiven Fahrzeiten auf der Schiene hat der Fernbus in dieser Relation bereits einen Marktanteil von rund 16 Prozent am öffentlichen Fernverkehr. Fatal an dieser Entwicklung ist, dass die Politik versucht, sich über die Fernbus-Liberalisierung ihrer Pflicht zum zügigen Ausbau der Schieneninfrastruktur zu entziehen. Foto: Christian Schultz
Presseinfo
Deutsche Bahn

Das Bekenntnis der Deutschen Bahn, sich auf die Verbesserung und den wirtschaftlichen Erfolg des „Brot- und Buttergeschäfts“ zu konzentrieren, ist im Grundsatz positiv zu bewerten. Es ist zugleich eine überfällige Entscheidung angesichts seit Jahren bestehender chronischer Fahrzeugengpässe im Schienenpersonenfernverkehr und gravierender technischer Störungen an den Fahrzeugen, z. B. überlastete/ausgefallene Klimaanlagen bei hochsommerlichen Temperaturen, Abschalten der Neigetechnik bei den ICE-T. Dennoch sind bei derartigen Bekenntnissen Zweifel angebracht.

Im Koalitionsvertrag der CDU/CSU/FDPKoalition wurde u. a. die Zulassung von Busfernlinienverkehren in Deutschland vereinbart. Der Referentenentwurf für ein novelliertes Personenbeförderungsgesetz (PBefG) wurde seitens des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) inzwischen erstellt; die Novellierung soll im 1. Quartal 2012 abgeschlossen sein. Die geplante Zulassung von Fernbusverkehren auch in direkter Konkurrenz zu Angeboten des Schienenverkehrs dürfte dabei künftig die wirtschaftliche Betriebsführung etlicher Fernverbindungen auf der Schiene gefährden, da Fernbuslinien vorzugsweise zwischen Ballungsräumen angeboten werden – so wie derzeit schon Berlin—Hamburg bzw. Berlin—Dresden. Dies ist verkehrs- und umweltpolitisch kontraproduktiv.

Die negativen Folgen für den Schienenverkehr wurden dabei bereits im Herbst 2010 aufgezeigt. Intraplan Consult GmbH und die Beratergruppe Verkehr+Umwelt GmbH (BVU) sind im Auftrag des BMVBS im Rahmen der Überprüfung des Bedarfsplans für die Bundesschienenwege zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich bei den Nutzern zukünftiger Fernbusangebote zu 60 Prozent (!) um verlagerte Nachfrage vom Schienenpersonenverkehr handeln wird, zu 20 Prozent um induzierten Verkehr und lediglich zu 20 Prozent um Umsteiger vom motorisierten Individualverkehr (einschließlich Fahrgemeinschaften/ Mitfahrzentralen).

Der Schienenpersonenverkehr könnte so in Relationen, in denen er eine starke Wettbewerbsposition besitzt, bis zu 10 Prozent seiner Nachfrage verlieren, in Relationen mit einer schwächeren Verkehrsnachfrage sogar bis zu 20 Prozent. Der Marktanteil des Buslinienverkehrs am öffentlichen Fernverkehr liegt in der Relation Berlin—Hamburg derzeit bei 8 Prozent. Auf der Strecke Berlin— Dresden liegt der Anteil aufgrund der unattraktiven Fahrzeiten auf der Schiene sogar bei 16 Prozent!

Falls das im Rahmen der Bedarfsplanüberprüfung beschriebene Szenario tatsächlich eintritt, dürfte wohl kein Unternehmen tatenlos zusehen, wie die Kunden davonlaufen. Es wird bzw. es muss handeln. Dies gilt speziell für den Fall, dass die Auslastung eines Fernzuges unter die seitens der Deutschen Bahn für einen wirtschaftlichen Betrieb benannte Rentabilitätsschwelle von 150 Reisenden fällt.

Berücksichtigt werden muss dabei auch, dass die Deutsche Bahn bereits heute größter Anbieter im deutschen Busverkehr ist. Die zur DB Bahn Regio gehörende Sparte DB Regio Bus betreibt heute bereits bundesweit eine Flotte von rund 13 400 Bussen, die im Stadt-/ Regionalverkehr, aber auch im Fernverkehr eingesetzt wird. Unter den 22 Busgesellschaften befinden sich z. B. Tochterunternehmen wie Autokraft Kiel GmbH, Bayern Express & P. Kühn Berlin GmbH und die Regionalverkehr Dresden GmbH, die sich auch im Fernverkehr stark engagieren. Für eine Ausweitung dieser Geschäftsaktivitäten sind somit die besten Voraussetzungen vorhanden.

In diesem Zusammenhang kaum überraschend waren die Zahlen, die die DB im August 2010 stolz für ihre neue Expressbusverbindung Nürnberg—Prag verkündete: rund 120 000 Fahrgäste in einem Jahr. Verschwiegen wurde dabei natürlich, dass bei dieser Punkt-Punkt-Verbindung die nicht bedienten Zwischenstationen wie z. B. Amberg, Schwandorf oder Furth im Wald weiterhin auf der Schiene bedient werden – finanziert aus Regionalisierungsmitteln, also Steuergeldern!

Auch die Fahrgastrechte versprechen, zumindest aus Unternehmenssicht, deutliche Vorteile zugunsten des Fernbusses. Bei einer eingetretenen Verspätung ab 1 Stunde am Zielort hat derzeit ein Bahnkunde Anspruch auf 25 Prozent Fahrpreiserstattung, bei 2 Stunden sind es sogar 50 Prozent. Von derart weitgehenden Rechten ist beim Fernbus überhaupt nicht die Rede. Erstattungsregelungen sollen hier ab 2013 beispielsweise erst bei einer planmäßigen Wegstrecke von mehr als 250 km gelten. Für eine verspätete Ankunft, etwa durch Stau, trifft die entsprechende EU-Verordnung gar keine Regelungen.

Zu dem eingangs benannten „Brot- und Buttergeschäft“ gehört nicht zuletzt auch eine zügige Verbesserung der Infrastruktur. Fahrzeiten der InterCity- bzw. Euro- City-Züge beispielsweise zwischen Berlin Hbf und Dresden Hbf von 2 Stunden 4 Minuten erreichen nicht einmal Vorkriegsniveau. Sie sind leider das Ergebnis einer bereits seit vielen Jahren vernachlässigten Infrastruktur, deren Zustand angesichts verschleppter Sanierungsmaßnahmen zurzeit lediglich in Teilabschnitten die von der Trassierung her mögliche Höchstgeschwindigkeit von 160 km/h (und auch darüber hinaus) zulässt.

Mit dem Wegfall des InterRegio- bzw. D-Zug-Verkehrs vor mehr als fünf Jahren hat sich bei der Fernbahnbedienung zwischen den ICE- bzw. IC-Zügen und Regionalzügen eine Kluft aufgetan, die bekanntlich dazu führte, dass zahlreiche Groß- und die meisten Mittel- und Kleinstädte sowie eine Reihe von Funktionsstädten vom qualifizierten Fernbahnverkehr abgekoppelt wurden. Auf Basis der bei den Verbänden aufgelaufenen Erkenntnisse haben diese in gemeinsamer Beratung am 27. Juni 2011 in Berlin nachstehende 20 Grundlagen entwickelt, die den Entscheidern und Verkehrsanbietern dringend zur Umsetzung nahegelegt werden.

Grundlagen für einen flächendeckenden Fernbahnverkehr in Deutschland

  1. Fernzüge sollten halten in
    • allen deutschen Großstädten (ab 90 000 Einwohnern)
    • allen großen Mittelstädten ab 50 000 Einwohnern – Halt für Auslandsreisezüge, (ausgenommen vertakteter Ballungsraum- und Stichstreckenverkehr sowie Bahnhöfe mit ausschließlich S-Bahn-Verkehr)
    • allen kleinen Mittelstädten ab 20 000 Einwohnern, in Ostdeutschland ab 15 000; in NRW ab 50 000 – Halt für Inlandsfernverkehrszüge (ausgenommen vertakteter Ballungsraum- und Stichstreckenverkehr sowie Bahnhöfe mit ausschließlich S-Bahn-Verkehr)
    • Kleinstädten ab 10 000 Einwohnern – Halt für vereinzelte Inlandsfernverkehrszüge.
  2. Unabhängig von der Einwohnerzahl müssen auch mit dem Fernverkehr erreichbar sein
    • zielgruppenspezifische, touristisch oder kulturell bedeutende Orte, z. B. Heilbäder, Kur-, Bade-, Wintersport- und Wallfahrtsorte sowie Orte mit besonderen Sehenswürdigkeiten oder Events
    • Städte mit besonderen Funktionen, z. B. Ober- und Mittelzentren sowie Bezirks- und Kreisstädte, ggf. wesentliche Unterzentren und auch Militärstandorte und Universitätsstädte
    • Umsteigebahnhöfe insbesondere mit einsetzendem Anschlussverkehr.
  3. Umsteigefreie Verbindungen zwischen der Bundeshauptstadt und den Landeshauptstädten sowie den Haupt- und Funktionsstädten Europas. Bei technischen Implikationen, z. B. Spurwechsel oder wegen Fahrzeugbeschaffenheit nicht mögliche durchgängige Fahrten, sollte das Ziel mit einmaligem Umsteigen erreicht werden.
  4. Viele Reisende vermissen bewährte frühere Fern-Direktverbindungen von Deutscher Bundesbahn und Deutscher Reichsbahn (z. B. FD, IR, IEx, Städte-Ex), die durchaus ihre Berechtigung haben, z. B. Berlin—Chemnitz, Berlin—Regensburg—München.
  5. Durchgehende umsteigefreie Fernzugverbindungen, notfalls auch mit verlängerten Fahrtzeiten, zur Berücksichtigung der besonderen Belange mobilitätseingeschränkter Reisender und zur bedarfsgerechten Reaktion auf die Auswirkungen des demografischen Wandels (“Alterspyramide”) sind zeitgemäß.
  6. Umsteigefreie Fernverbindungen zur Flächenerschließung, insbesondere auch der Rand- und Urlaubsgebiete zur Förderung des Bahntourismus innerhalb Deutschlands, durch ein- bis zweimal täglich verkehrende Regelreisezüge und saisonale Urlaubs- und Wochenend-Ausflugszüge sind sehr gefragt.
  7. Trotz angestrebten Wettbewerbs sollten zunächst keine parallelen Angebote zu vorhandenen Leistungen der DB bzw. nichtbundeseigenen Eisenbahnen (NE), sondern eher Ergänzungen hierzu entwickelt werden. Bestehende Angebote könnten angepasst werden, z. B. durch Tagesrandhalte.
  8. Schließen von landes- bzw. verbundgrenzenbedingten Lücken zugunsten von Direktverbindungen, ggf. Verquickung mit bzw. Verlängerung oder Ersatz vorhandener Regionalleistungen mit Fernverkehrsangeboten mittlerer Reiseweiten müssen geprüft werden.
  9. Zughalte sollten in der Regel max. einmal im Abstand von mindestens 25 km angeboten werden, jedoch nicht zwingend in den Ballungsräumen mit vertaktetem Verkehr. Eine Feinverteilung durch häufigere Halte in der Quell- und Zielregion sowie in den Tagesrandlagen, ggf. auch in Ballungsräumen ist nachgefragt.
  10. Zur optimalen Auslastung einzelner Streckenabschnitte sollten sich die Beteiligten, z. B. Aufgabenträger, Bahnen etc., auf mögliche Verquickungen mit bzw. Aneinanderreihungen vorhandener Regionalleistungen zu faktischen Fernbahnangeboten sowie auch zur Konzipierung von Bogenzugläufen einigen.
  11. Die Bahnen sollten bei der Angebotsgestaltung verstärkt die Möglichkeiten des freien grenzüberschreitenden Bahnverkehrs in der Europäischen Union nutzen.
  12. Aktive Vermarktung des Zugangebots, z. B. Herausgabe eines gemeinsamen Fahrplans durch Zusammenarbeit mit Verkehrsverbänden und -unternehmen, sind dringend geboten. Wichtig ist eine zwischen allen Anbietern und Produkten abgestimmte Gesamtkonzeption, um die Orientierung der Reisenden zu erleichtern und Anschlüsse sicherzustellen.
  13. Fahrscheine sollten für eine durchgehende Reisekette angeboten werden, eventuell Verbundtarife bzw. Kooperationstarife des TBNE (Tarifverband der Bundeseigenen und Nichtbundeseigenen Eisenbahnen). Umsteigefreie Direktverbindungen sind geboten, um Tarifunterschiede bei Umsteigeverbindungen so gering als möglich zu halten.
  14. Eine wesentliche Forderung richtet sich an die Bereitstellung ausreichender Plätze zur reservierungsfreien Fahrradmitnahme, auch im Fernverkehr sowie Bordservice mit Speisen und Getränken, 1. und 2. Wagenklasse sowie höheres Platzangebot insbesondere zur Beförderung mobilitätseingeschränkter Reisender.
  15. Besondere Aufmerksamkeit sollte den Zugverbindungen gelten, die die Erschließung touristischer Ziele und das Zusammenwachsen zwischen den alten und neuen Bundesländern fördern, z. B. Direktverbindungen Berlin—Starnberger See oder Bayerischer Wald, Ostfriesland—Vorpommern oder Lausitz—Schwarzwald. Gerade durch den Wegfall der IR-Verbindungen fielen die neuen Bundesländer zum Teil wieder in ihre frühere Rolle als Transitländer im Fernverkehr zurück.
  16. Auch besondere touristische Relationen wie Zugverbindungen entlang von Flüssen, werden vorgeschlagen, z. B.“Elb-Ursprung” von der Elbquelle bei Hohenelbe (CZ) bis zur Mündung in Cuxhaven oder ein Alpenquerzug zwischen Basel und Salzburg sowie Angebote zwischen aktiven Partnerstädten, z. B. Cottbus—Saarbrücken.
  17. Fernverbindungszüge sollten auch über Neben(fern-), Güter- oder sporadisch betriebene Strecken sowie zum Teil über Reaktivierungsstrecken (DB- u. NE-Infrastrukturen) zur Erreichung von Städten bzw. Touristikgebieten geführt werden, die nicht an das Fernverkehrs- bzw. reguläre Personenverkehrsnetz angeschlossen sind.
  18. Der Nebenstreckenstandard für die Befahrung mit Fernzügen soll bei mindestens 80 km/h liegen.
  19. In Berlin muss im Fernverkehr der polyzentrischen Struktur entsprochen werden. Hierbei sollte verstärkt auf die Durchquerung der Stadt, insbesondere über die Stadtbahn, mit grundsätzlichem Halt auf allen Fern- und Regionalbahnhöfen gesetzt werden. Die Wiederanbindung der City West an den Fernverkehr mit Systemhalt am Bahnhof Berlin Zoologischer Garten ist ein ungebrochener Kundenwunsch in Berlin.
  20. Zu zahlreichen Relationen der aufgeführten Vorschläge gibt es keine Erhebungen oder Erfahrungswerte oder gar Ergebnisse standardisierter Bewertungsverfahren zur Ermittlung der Reisendenzahlen. Hier müssen weitere Untersuchungen bis hin zum Probebetrieb Aufschluss über die Akzeptanz und somit der Entscheidung für ein dauerndes Angebot geben.

Deutscher Bahnkunden-Verband

aus SIGNAL 3/2011 (August 2011), Seite 24-25

 

Die Jahrgänge



Die SIGNAL-Jahrgänge in der Übersicht:

» 2023
» 2022
» 2021
» 2020
» 2019
» 2018
» 2017
» 2016
» 2015
» 2014
» 2013
» 2012
» 2011
» 2010
» 2009
» 2008
» 2007
» 2006
» 2005
» 2004
» 2003
» 2002
» 2001
» 2000
» 1999
» 1998
» 1997
» 1996
» 1995
» 1994
» 1993
» 1992
» 1991
» 1990
» 1989
1988
1987
1986
1985
1984
1983
1982
» 1981
» 1980
ANZEIGE

aktuelles Heft

TitelbildSeptember 2023

komplettes Heft »

Die Themen der aktuellen Ausgabe 03/2023:

» Straßenbahneröffnung zum U-Bf. Turmstraße
» M4: Zwei Jahre „Bau”-Fahrplan
» Perlen vor die Schnüre: Gute Linienperlschnüre leicht verständlich gestalten
» Zugausfall bei einem Rail&Fly-Ticket
» Deutschlandticket – das Sommermärchen muss fortgeführt und weiterentwickelt werden
» Drei Thesen zum Deutschlandticket



neu hier?
Links lesen Sie einen Artikel aus dem Internetarchiv der Fachzeitschrift Signal, die sich mit Verkehrspolitik für Berlin und Deutschland auseinandersetzt.

Auf signalarchiv.de finden Sie zusätzlich zu ausgewählten Artikeln aus dem aktuellen Heft auch viele ältere Artikel dieser Zeitschrift.





Kontakt - Abo - Werbung - Datenschutz - Impressum
Herausgeber: Interessengemeinschaft Eisenbahn, Nahverkehr und Fahrgastbelange Berlin e.V.
  © GVE-Verlag / signalarchiv.de / holger mertens 2008-2013 - alle Rechte vorbehalten