Die große Stärke des Weißbuchs ist das langfristige
Denken über die nächsten Jahrzehnte
hinaus. So wird im Weißbuch – anders als in
der Koalitionsvereinbarung der schwarzgelben
Bundesregierung – ein konkretes
langfristiges CO2-Reduktionsziel für den Verkehrssektor
vorgeschlagen. Bis 2050 soll eine
Minderung von 60 Prozent erreicht werden.
Als Zwischenziel wird bis 2030 eine Reduzierung
von 20 Prozent im Vergleich zu 2008
angestrebt.
Doch hier ist zugleich auch die größte
Schwäche des Weißbuches zu sehen: Leider
hat die Kommission Angst vor der eigenen
Courage und leitet aus ihren richtigen
Langfristzielen nicht die nun zwingend
notwendigen Maßnahmen ab. Anstatt die
Notwendigkeit eines sofortigen Umlenkens
im Verkehrsbereich anzuerkennen, wird dem
Klassenletzten beim Klimaschutz – der Verkehr
verursacht mittlerweile 30 Prozent aller
CO2-Emissionen – weiterhin eine Vorzugsbehandlung
durch Wettbewerbsverzerrungen
und laschere CO2-Ziele zugestanden. Und
eine Vermeidung von überflüssiger Mobilität
ist in den Augen der Kommission gar grundsätzlich
„keine Option“.
Vielmehr sollen künftige Generationen
und das Klima die Zeche des Verkehrsrausches
zahlen, denn echte Anstrengungen
werden auf die Zeit nach 2030 verschoben.
So begnügt sich die Kommission bis 2030 mit
Trippelschritten von jährlich 1 Prozent, um bis
dahin lediglich 20 Prozent der Treibhausgase
gegenüber 2008 einzusparen. Dies läge noch
immer 8 Prozent über dem Niveau von 1990.
Auf diese Weise würde der Verkehrssektor für
seine Versäumnisse der letzten Jahrzehnte
auch noch mit weiterer Vorzugsbehandlung
belohnt!
Erst ab 2030 sollen plötzlich wundersame
Riesenschritte folgen, um bis 2050 eine Minderung
um mindestens 60 Prozent gegenüber
1990 zu erreichen. Doch selbst wenn
dies gelänge, wären die Anstrengungen des
Klimas nicht dem selbst gesteckten EU-Ziel einer
gesamtwirtschaftlichen Minderung von
80 bis 95 Prozent bis 2050 vereinbar.
Für das laufende Jahrzehnt begnügt sich
die Kommission mit einem Sammelsurium
von ohnehin bereits angestoßenen Einzelmaßnahmen.
Eine faire Besteuerung und das
Ende der Subventionierung von Klimakillern
wie dem Luftverkehr will die Kommission
lediglich „prüfen“. Denn obwohl die Emissionen
in der Luft für das Klima drei- bis viermal
so gefährlich sind wie am Boden, bekommen
die Airlines durch die Befreiung von Kerosinund
Mehrwertsteuer jedes Jahr 30 Milliarden
Euro (!) vom EU-Steuerzahler geschenkt. Beim
immer dringenderen Problem des Bahnlärms
will die Kommission sich ebenfalls Zeit lassen:
Gemeinsame Anstrengungen sollen erst bis
Ende des Jahrzehnts erfolgen.
In allen EU-Städten soll es 2050 Fahrverbot
für herkömmliche Autos geben
Positiv ist das EU-Ziel, konventionelle Autos
bis 2050 aus den Städten zu verbannen.
Zudem sollen 30 Prozent des Straßengüterverkehrs
bei Distanzen über 300 km auf die
Schienen und die Wasserstraßen verlagert
und die EU-Förderung endlich offiziell auf
„grüne Infrastruktur“ statt auf teure und
langwierige Megaprojekte konzentriert
werden
Vage bleibt die Kommission leider bei einem
der ganz entscheidenden Themen: dem
Prinzip der Internalisierung externer Kosten.
Eine verursacherbezogene Anlastung aller
von den Verkehrsträgern verursachten Kosten
ist unverzichtbar für einen fairen intermodalen
Wettbewerb, doch konkrete Vorschläge
lässt das Kommissionspapier vermissen.
So wird eine umfassende Maut für Lkw und
Pkw lediglich als Option genannt. Dabei gilt
auf der Schiene bereits eine EU-weit verpflichtend
vorgeschriebene und in der Höhe
unbegrenzte Maut, die für jede Lokomotive
auf jedem Streckenkilometer erhoben werden
muss. Auf der Straße hingegen ist es den
Mitgliedstaaten überlassen, ob sie überhaupt
eine Maut erheben. Zudem ist diese Maut in
der Höhe begrenzt und gilt meist nur auf Autobahnen
und nur für Lkw ab 12 t. Deutschland
muss hier endlich tätig werden und mit
einer Lkw-Maut bereits ab 3,5 t und auf allen
Bundesstraßen vorangehen.
EU scheut klare Forderung nach
Tempolimit auf Autobahnen
Auch das Thema Tempolimit geht die
Kommission nur zurückhaltend an und beschränkt
sich zunächst auf Kleintransporter.
Da Deutschland jedoch als einziger EU-Mitgliedstaat
kein Tempolimit auf Autobahnen
vorgibt, ist hier schon jetzt großer Nachholbedarf.
Denn durch ein solches Tempolimit
ließen sich laut Umweltbundesamt sofort
3 Prozent und auf die Dauer sogar 30 Prozent
der CO2-Emissionen einsparen.
Trotz großer Schwächen bei der Ableitung
konkreter Maßnahmen hat die Kommission
mit dem Weißbuch deutlich gemacht, dass
sich auf EU-Ebene endlich die Einsicht in die
Notwendigkeit einer nachhaltigeren Mobilität
durchgesetzt hat. Nun muss die deutsche
Bundesregierung, die sich in der EU gerne als
Musterschüler darstellt, nachziehen. Sie muss
als Vertreterin des größten Mitgliedsstaats
dieses Umdenken auf EU-Ebene unterstützen
und auf nationaler Ebene umsetzen. Ansonsten
droht dem vermeintlichen Musterschüler
Deutschland das Sitzenbleiben im Kampf gegen
den Klimawandel. Michael Cramer, MdEP
Verkehrspolitischer Sprecher der Fraktion Die Grünen/EFA im Europäischen Parlament
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