Kurz vor dem Jahreswechsel fuhr bei der Geschäftsstelle der Berliner
Landesarbeitsgemeinschaft Naturschutz (BLN) ein großer Lkw vor und
brachte zwei Möbelkartons voller Ordner. Sie enthielten in 11 roten
Aktenordnern die Planänderungen für die Tierganentunnel. Denn bis
zum 16. Januar 1995 erhielten die Naturschutzverbände Gelegenheit,
zu den zahlreichen Planänderungen im Planfeststellungsverfahren
"Verkehrsanlagen Zentraler Bereich" - allgemein bekannt als Tiergartentunnel -
neben den Träger öffentlicher Belange" (TÖB, das sind Behörden
und Institutionen) Stellung zu nehmen.
Die BLN ist ein Zusammenschluß der Naturschutzverbände in Berlin,
um die Beteiligungsrechte der Verbände nach § 29 Naturschutzgesetz wahrzunehmen.
Zu dem Mammutprojekt Tiergartentunnel gehören ein autobahnähnlicher
Schnellstraßentunnel mit 2,8 km Länge. die Röhren für vier Gleise
der Fern- und Regionalbahn durch den östlichen Tiergarten einschließlich
der zugehörigen Zulaufstrecken vom Nordring und dem Bahnhof Papestraße,
ein großzügiger zentraler Kreuzungsbahnhof am Lehrter Bahnhof nördlich
des Tiergartens, ferner die verlängerte U-Bahn-Linie U5 am Reichstag entlang zum
zentralen Lehrter Bahnhof sowie Stücke für eine U-Bahn-Linie U3 am
Potsdamer Platz. Nicht Teil des Verfahrens sind umfangreiche Bauten
an den Zufahrtsstraßen im Norden und Süden des Tunnels.
lm Juni 1994 lagen die Pläne aus. Nicht zuletzt durch die lnformationsarbeit
der Tunnel-GmbH gab es von interessierten rund 19.000 Einwendungen, die
meisten, die es je zu einem Bauvorhaben in Berlin gegeben hat. Diese
Einwendungen werden zur Zeit registriert und geprüft. Der Termin die
öffentliche Erörterung, die einem Planfeststellungsbeschluß und dem
Baubeginn vorangehen muß, wurde bereits mehrfach verschoben.
Parallel zur Vorbereitung der Erörterung wurden Ende 1994 den TÖB und den
Naturschutzvcrbänden die Unterlagen über Planänderungen zugestellt.
Für die Naturschutzverbände war die Frist von offiziell zwei Wochen
zur Sichtung und Bearbeitung der 11 Aktenordner und zum Vergleich zu
den ursprünglichen Unterlagen in 44 Ordnern ausgesprochen knapp.
Das lag nicht nur an der weitgehend ehrenamtlichen Arbeit. die in den
Verbänden in der Freizeit geleistet wird. Zudem sind die Pläne
unübersichtlich. Die Änderungen gegenüber der ursprünglichen Planungsstand
vom Sommer 1994 sind in der Darstellung schwierig zu erkennen. Erläuterungen
sind gespickt mit Flüchtigkeitsfehlern. Die Planungsbehörden scheint sorgfältige
Planung und eine intensive Bürgerbeteiligung gleicherrnaßen nicht besonders zu
kümmern, obwohl es die Anti-Tunnel-GmbH und die BLN seit längerem fordern.
Die Planung soll hektisch durchgezogen werden, um mit dem Bau noch in
diesem Jahr beginnen zu können.
Nach erster Sichtung der Unterlagen halten Anti-Tunnel-GmbH und BLN
wegen des Inhalts und des Umfangs der Planänderungen eine erneute
Bürgerbeteiligung für erforderlich. Es ist nicht zu verstehen.
warum die Planungsbehörden Bahn und Senat dies bisher nicht beabsichtigen.
Sorgfältige Planung, wie sie bei solch einem großen Bauwerk
unabdingbar ist, muß sich am funktionellen, finanziellen und
zeitlichen Rahmen orientieren. Doch davon ist wenig zu spüren.
Auch bei der Fülle der Änderungen sind günstige Alternativen
zu den Tunnelplanungen wie die Ring-Stadtbahn-Konzepte für die
Fernbahn im Zentralen Bereich oder die umfangreiche Erweiterung
der preisgünstigen, leistungsfähigen Tram statt der teurem,
unterirdischen U-Bahn nicht vorgesehen.
Der Straßentunnel wird nicht zugunsten
der ökologisch orientierten Verkehrsplanung
aufgegeben. Unbeirrt wird an dem Mammutprojekt festgehalten.
Erst jetzt gibt es ein Sicherheitskonzept. Konkrete
Brandschutzeìnrichtungen wie z.B. Zugangswege für die Feuerwehr
im Lehrter Bahnhof oder ausreichend Rauchableitungsmöglichkeiten
wurden in die Planung aufgenommen. Im Innern des Lehner Bahnhofs
wird die maximale "Rettungsweglänge" von bis zu 120 Metern auf
bis zu 160 Metern angehoben.
Die meisten Änderungen betreffen den Straßentunnel. Dadurch
wird die befürchtete Autolawine im Zentralen Bereich und den Zufahrtswegen
im Norden wie im Süden enorm anwachsen, und damit einhergehend
steigen die Belastungen durch Lärm, Abgase, Unfallgefährdung und
Flächenverbrauch für weiteren Straßenraum. Das steht im
Wiederspruch zu einer ökologischen Verkehrspolitik, die im Jahre
der Rio-Nachfolge-Konferenz in Berlin auch lokal Zeichen setzen müßte, die
CO2-Emissionen durch Beschränkungen im Autoverkehr zu reduzieren.
Allein die Autos mit Katalysatoren auszurüsten, reicht nämlich nicht.
Im einzelnen wird in den Planungsänderungen der Straßenraum der
lnvalidenstraße zwischen Seydlitzstraße und Heidestraße um 13 Meter
auf 39 Meter verbreitert "zugunsten von Baumstreifen und
Geh- und Radwegen". Dadurch wird Platz für bis zu 10
Auto-Fahrspuren geschaffen! Zu der Tunnelausfahrt Invalidenstraße
soll ein weiterer Fahrstreifen exklusiv für die Zufahrt zu dem
Zentralbahnhof hinzugefügt werden.
Die Nordseite des Lehrter Bahnhofs mit dem Haupteingang bleibt dem
Autoverkehr erhalten; die ÖPNV-Haltestellen werden jedoch statt
östlich nun vor allem südlich des Zentralbahnhofs konzentriert.
Wirtschaftsverkehre erhalten eine eigene Bahnhofsumfahrung.
Autoverkehr und ÖPNV werden scharf getrennt. Wollen jedoch Fußgänger
und Radfahrer "aus allen Richtungen" den Bahnhof erreichen, dürfen
sie sich wohl überfahren lassen.
Neben Daimler-Benz soll nun auch Sony eine private Lkw-Anbindung
unterirdisch vom Straßentunnel zum Tiergartentunnel erhalten
inklusive eigener unterirdischer Ein- und Ausfädelungsspur. Die Notwendigkeit
dieses Tunnelzweiges für "im Durchschnitt bis sechs Ein bzw. Ausfahrten
pro Stunde" erscheint sehr fragwürdig, zumal die oberirdische
Anbindung erhalten bleibt für den Fall, daß die Tunnelzufahrt gesperrt ist.
Der nördliche Abgasschornstein des Straßentunnels soll 60 m hoch an
einem anderen Standort errichtet werden. "Der höherer Kamin am Lehrter
Bahnhof wird als zusätzliche hohe Belastung eingestuft; da der
Bestandswert und die Empfindlichkeit dieses Bereichs jedoch gering
sind, ergibt sich nur ein geringes Risiko." Zentrale Innenstadtgebiete,
die aufgrund der langen Teilung der Stadt nach Meinung des
Senats "geringen Bestandswert" haben, sind also sinnigerweise die
verschmutzte Luft der Abgasschornsteine zu beanspruchen.
Über dem Straßentunnel soll nördlich der Straße des 17. Juni
die "Floraallee" geschaffen werden. Sie wird offiziell als 7 m breite
Zufahrt zum künftigen Regierungsviertel ausgegeben. Doch bietet die
Floraallee mit der bald fertiggestellten Kronprinzenbrücke ideale
Voraussetzungen für einen direkten Schleichweg vom Großen Stern zum
nördlichen Teil des Bezirks Mitte. Zum Straßenraum der Floraallee
gehören Baumreihen und Fußwege. Die Gesamtbreite wird 24 m betragen.
Zu befürchten ist, daß die Baumreihen über der Tunneldecke nicht
gut wurzeln können und daher breiteren Autofahrbahnen weichen werden.
So kann die Floraallee größer werden als die heutige Entlastungsstraße,
die "nur" 16 m breit ist.
Im ausgelegten "Erläuterungsbericht" vom April 1994 hieß es
noch: "ln die Abwägung war ferner einzustellen, daß der Tiergartentunnel
mit Rückbau der Entlastungsstraße im Tiergarten eine bedeutende Minderung
der Belastung mit Luftschadstoffen zwischen Kemperplatz und Spreebogen
bewirkt und die gegenwärtige Verkehrsbedingte Beeinträchtigung des
Erholungspotentials Tiergarten durch die Beseitigung der Entlastungsstraße
aufgehoben wird." Das einzige Stück Entlastungsstraße im Tiergarten,
das eventuell mit Rasen begrünbar sein wird, ist der kleine
Abschnitt zwischen Straße des 17. Juni und
der 170 m in den Tiergarten hineinragenden Straßentunnelrampe
zum "Kemperplatz".
Die Tunnel verschlingen bekanntlich mehrere Milliarden DM.
Gespart wird dafür bei den vergleichsweise geringen Kosten
für "Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen" für durch die Bauvorhaben
verursachte ökologische Schäden. Für vernichtetes Grün sollen
nun statt etwa 12.000 Bäumen mit einem Stammumfang von 20/25 cm
für je 4000,- DM etwa 20.000 Bäume mit einem Stammumfang
von 12/14 cm 700,- DM neu gepflanzt werden. Die dünneren Bäume
haben eine geringere ökologische Wirkung. Die Gesamtkosten
werden so von 7l Mio DM auf 28 Mio DM gedrückt.
Tatsächlich können Schäden - wie die dauerhafte Unterbrechung
der schneise am Potsdamer Platz und Lehrter Banhof oder die
massive Schädigung des zusammenhängenden Biotops Tiergarten
und seines Erholungswertes nicht angemessen "ausgeglichen" werden.
schon gar nicht durch Einzelbaum pflanzungen im Straßenland über
die ganze Stadt verstreut.
Nach § 9 des Gesetzes zur Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP_Gesetz) sind bei
zusätzlichen oder wesentlichen anderen Auswirkungen eines
Vorhabens auf Natur und Landschaft die Pläne erneut der
Öffentlichkeit auszulegen.
Sowohl bei den Baumpflanzungen als auch bei der Wiederaufforstung
der Entlastungsstraße im Tiergarten handelt es sich um die
Abwägung der in die Planungen eingegangenen "Ausgleichs und
Ersatzmaßnahmen" der UVP. Die Anti-Tunnel-GmbH und die BLN fordern daher,
die Pläne zur erneuten Bürgerbeteiligung erneut umgehend öffentlich auszulegen.
Resümee: Bei den Planänderungen handelt es sich eindeutig um
Verschlimmbesserungen. Sie legen offen, was die ursprüngliche
Planung noch versteckt hielt. Für uns bestätigt sich wieder
einmal, daß die Tiergartentunnel verkehrlich unsinnig, stadtökologisch
schädlich und finanziell eine Katastrophe sind. Wie die Planungshektik
zeigt, rechnen Senat und Bahn bei der Öffentlichkeit mit wenig Gegenliebe
für das Mammut-Projekt "Tiergartentunnel".
Anti-Tunnel-GmbH
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