Der öffentliche Druck auf den Senat, der Straßenbahn angesichts der
dramatischen Finanzsituation doch auch in Taten eine Zukunft zu
ermöglichen, bewirkt immer groteskere Reaktionen. Während auf der einen
Seite Verkehrssenator Herwig Haase in dankenswerter Offenheit die fehlenden
Gelder beklagt ("Für den optimalen ÖPNV-Ausbau bis 2002 haben wir eindeutig nicht genug
Geld" in der "Welt" vom 11 .11.1994), weigert er sich mit
kleinkinderhafter Bockigkeit zur Kenntnis zu nehmen, daß die Straßenbahn nicht
nur schneller zu realisieren, sondern auch um das fünfzehn- bis zwanzigfache
billiger ist. Trotzdem hält er am Bau der U5 mit
2,7 Mrd. DM zwischen Alexanderplatz und U-/S-Bahnhof Jungfernheide fest, obwohl
die Alternative Straßenbahn nur 150 bis 200 Mio. DM kosten würde. Begründet
wird das von ihm mit der Leistungsfähigkeit der U-Bahn, womit er sich in
Gegensatz zu den BVG-Gutachtern stellt, die herausgefunden haben. daß die
400 km S- und U-Bahn in Berlin ausreichen und für die Feinverteilung die
Straßenbahn favorisieren. Explizit geben sie der Straßenbahn anstelle
der U5 die besseren Daten.
Mit welchen Methoden Verkehrssenator Haase hinsichtlich der
Leistungsfähigkeit der Tram arbeitet, soll an drei Beispielen
dargestellt werden. aus denen hervorgeht, daß Verkehrssenator
Haase bewußt die Straßenbahn schlecht rechnet:
BVG: "Die Leistungsfähigkeit der Straßenbahn beträgt 19.200 Fahrgäste
je Richtung und Stunde."
Mit Schreiben vom 10.03.1994 schrieb BVG-Direktor Sachße bezüglich der
Kleinen Anfrage l2 vom 22.01.94 an die Senatsverwaltung für Verkehr und
Betriebe: "Im planerisch interessanten Fall der Frühspitze kann bei
optimalen Rahmenbedingungen eine Fahrzeugfolge von l Minute gefahren
werden. Bei den neuen, modernen Straßenbahnfahrzeugen des Typs GT6N würde
dies eine Leistungsfähigkeit von 6.900 Fahrgästen/Richtung und Stunde
bedeuten; beim achtachsigen Fahrzeug 9.600 Fahrgäste/Richtung und Stunde.
Bei der vorgesehenen Doppeltralktion erhöhen sich die Werte auf l3.800
bzw. 19.200 Fahrgäste/Richtung und Stunde."
Senator Haase: "Die Leistungsfähigkeit der Straßenbahn beträgt 9.600
Fahrgäste je Richtung und Stunde."
In der Antwort des Senats auf die Kleine Anfrage vom 3. Mai 1994 wird die
Leistungsfähigkeit halbiert, weil nur ein 2,5-Minuten-Takt vorgesehen
wird ("24 Züge pro Stunde"): "Der Senat rechnet im allgemeinen bei
Planungen mit einer Durchlaßfähigkeit von 24 Zügen pro Stunde und Richtung
bei der Berliner Straßenbahn. In Berlin werden in Niederflurstraßenbahnen
des Typs Gt6N mit ca. 300 Plätzen pro Zug, ggf. auch des Typs GT8N mit
ca. 400 Plätzen pro Zug Verkehren. Daraus ergibt sich eine Leistungsfähigkeit
von 7.200 bzw. 9.600 Fahrgästen pro Stunde und Richtung."
Senator Haase: "Die Leistungsfähigkeit der Straßenbahn beträgt 7.200
Fahrgäste je Richtung und Stunde."
In der Antwort auf die Große Anfrage über "Gegenwart und Zukunft der
Berliner Straßenbahn" (Vermerk vom 10.11.94) wird die Leistungsfähigkeit
auf ein Drittel reduziert, weil Haase die achtachsigen Fahrzeuge (GT8N)
unterschlägt: "Die Leistungsfähigkeit der Berliner Straßenbahn mit
Niederflurfahrzeugen vom Typ GT6N, die als Straßenverkehrsmittel nicht
dichter als im Abstand von 2,5 Minuten verkehren wird, beträgt 7.200 Fahrgäste pro
Stunde und Richtung."
Innerhalb von etwas weniger als einem Dreivierteljahr wird die
Leistungsfähigkeit der Straßenbahn von 20.000 auf gerade 7.000 reduziert,
während bei der die Leistungsfähigkeit hochgerechnet wird; mit einem Takt,
der bisher nirgendwo erreicht wurde. Dabei ist es eine Binsenweisheit, daß
Züge im Tunnel wegen der Signalisierung der Strecke nicht so kurze Takte
fahren können wie die Straßenbahn auf Sicht. Ein Ein-Minuten-Takt ist
in Karlsruhe die alltägliche Praxis, doch in Berlin und insbesondere in
der Berliner Verkehrsverwaltung feiert Christian Morgenstern fröhliche
Urständ: "Denn so schließt er messerscharf, daß nicht sein kann, was nicht
sein darf."
Die Fraktion Bündnis 90/Grüne fordert den Senat auf, die Trickserei
aufzugeben und statt dessen mit der Tram anstelle der U5
insgesamt 2,5 Mrd. DM eìnzusparen.
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[IGEB] Wie realitätsfremd die Bevorzugung der U-Bahn bzw. die Ablehnung der
Straßenbahn mit der Begründung "Leistungsfähigkeit" sind, zeigt sich im
Alltagsbetrieb: Fast im gesamten Berliner U-Bahn-Netz würde die Kapazität
der Straßenbahn ausreichen, um die heute auftretenden Fahrgastströme zu
bewältigen, ohne die Tram an ihre Leistungsfähigkeitsgrenze zu bringen.
Eine leistungsfähige Tram ist allerdings nur mit eindeutiger
Bevorrechtigung im Straßenland gegenüber dem Autoverkehr erreichbar.
Und genau das wollen Herwig Haase und Ingo Schmitt natürlich nicht. Und
deshalb hantieren sie mit theoretischen Kapazitätswerten der U-Bahn, die
in Bertin auf absehbare Zeit (leider) nicht benötigt werden, die aber mit
den vorhandenen Anlagen auch gar nicht erreichbar wären.
Am 11. und 12. November 1989 war eindrucksvoll ablesbar, daß
das (West-)Ber1iner U-Bahn-Netz einen sehr großen Fahrgastzuwachs
nur in der Theorie, nicht aber in der Praxis verkraften kann.
Als Schwachpunkt erwiesen sich damals insbesondere die Bahnhöfe, die
nicht schnell genug geräumt werden konnten und die für Haases Theoriewerte
alle umgebaut werden müßten.
Festzuhalten bleibt also, daß ein wesentliches Motiv des Beriiner Senats
für sein U-Bahn-Engagement nicht die gegenüber der Öffentlichkeit angeführten
Sachargumente sind, sondern es ist das aus früheren Jahrzehnten bestens
bekannte, aber überwunden geglaubte Motiv, die Flächen über der Erde für
den Autoverkehr zu reservieren, indem die Fahrgäste unter die Erde verbannt
werden. Und deshalb sind jede Minute und jede SIGNAL-Seite, die dem
vermeintlichen Kapazitätsproblem gewidmet werden, eigentlich jeweils elne
zu viel. Michael Cramer,
MdA Verkehrspolitischer Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Grüne
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