Um Europa zusammenwachsen zu lassen,
brauchen wir echte Transeuropäische Verkehrsnetze
(TEN-T) statt des bestehenden
Flickenteppichs, der große Lücken ausgerechnet
an den nationalen Grenzen aufweist.
Diesem Ziel hat sich nicht nur das
Europäische Parlament verschrieben, auch
der Verkehrsministerrat hat sich wiederholt
für verstärkte Anstrengungen in diese
Richtung ausgesprochen. Doch die Versprechen
der Minister scheinen vor allem
Lippenbekenntnisse gewesen zu sein, wie
die beim Ratstreffen im April 2012 angenommene
Position zu den TEN-T zeigt. So
wollen die Regierungen nicht nur alle verbindlichen
Fristen streichen, sondern auch
Anforderungen an die Interoperabilität
und den Umweltschutz
kippen.
Besonders unverständlich ist, dass der Rat
der Einbeziehung nahezu aller Binnenwasserstraßen
in das Kernnetz der TEN-T zugestimmt
hat. Unberücksichtigt blieb dabei, dass der
Anteil der Binnenschifffahrt in den letzten 20
Jahren von 18 Prozent auf 12 Prozent gesunken
ist. Besonders der geplante Ausbau der Elbe,
die einer der letzten naturbelassenen Flüsse
in der EU ist, würde nicht nur ökologische sondern
auch ökonomische Schäden verursachen,
denn der Tourismus an der Elbe würde – ebenso
wie an der Donau – stark beeinträchtigt.
Zudem will der Rat, dass die Ausrüstung des
Kernnetzes mit dem europäischen Zugsicherungssystem
ERTMS nicht mehr verpflichtend
ist. Meine Forderung hingegen lautet: Wo europäisches
Geld fließt, müssen auch europäische
Standards eingehalten und ein Beitrag zu
Überwindung der nationalen Zersplitterung
geleistet werden.
Auch die Fixierung der Verkehrsminister auf
extrem kostspielige, langwierige und ineffiziente
Großprojekte wie den Brenner-Basistunnel,
die feste Querung über den Fehmarn-Belt
und den Tunnel zwischen Lyon und Turin droht
die Realisierung der europäischen Netze zu
gefährden. Denn ohne eine Abkehr von den
Großprojekten würde ein großer Teil der Mittel
langfristig blockiert und nicht mehr für kleinere
und effizientere Maßnahmen zur Verfügung
stehen. Im Parlament droht somit in vielen
Punkten starker Widerstand, wie bei der ersten
Aussprache im Ausschuss bereits deutlich
wurde. Ich werde mich dafür einsetzen, dass
zeitnah realisierbare, nachhaltige und grenzüberschreitende
Projekte Vorfahrt bekommen.
Das beste Rezept für die Lückenschlüsse im
Grenzbereich wäre eine Ko-Finanzierung der
grenzüberschreitenden Schienenabschnitte
in Höhe von 80 Prozent durch die EU. Einen
so hohen Fördersatz darf es aber nur für die
Wiederherstellung der durch Krieg- und Nachkriegszeit
zwischen den Nachbarn gerissenen
Lücken geben, z. B. für die Verbindungen zwischen
Berlin und Szczecin, Berlin und Wrocław,
Passau und Karlovy Vary, Freiburg und Colmar,
Zaragossa und Toulouse durch den stillgelegten
Tunnel im Col du Somport oder zwischen
Nijmegen und Kleve. Die kostenintensiven
Großprojekte müssen von dieser hohen Ko-
Finanzierung ausgenommen bleiben.
Wie sehr jedoch die Baulobby – und
nicht die verkehrspolitische Vernunft – die
Projekte bestimmt, sieht man auch am sogenannten
„Baltisch-Adriatischen Korridor“,
den die Europäische Kommission zum Kernnetz-
Korridor 5 der TEN-T machen will. Die
kostengünstigste und am schnellsten zu realisierende
Lösung wäre eine Sanierung der
bestehenden Trasse über die Slowakei und
Ungarn durch die Pannonische Tiefebene
zur Adria. Für diesen Fall fürchtet Österreich
jedoch, dass es die von Jörg Haider seinerzeit
durchgesetzten und das Land schon
heute finanziell belastenden Koralm- und
Semmeringtunnel allein bezahlen müsste.
Damit Europa zusammenwächst, müssen
wir von dem in der EU wie in Deutschland
vorherrschenden „think big“ zu einem „act
smartly“ kommen!
Michael Cramer, MdEP
Verkehrspolitischer Sprecher der Fraktion Die Grünen/EFA im Europäischen Parlament
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