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25. September 1989 Licht und Schatten

Eigentlich war der 25. September ein großer Tag für die Berliner S-Bahn. Denn nach der Wiederinbetriebnahme der Wannseebahn am 1. Februar 1989 beschränkte sich der CDU/F.D.P.-Senat bis zu seiner Abwahl ausschließlich auf Arbeiten an bereits in Betrieb befindlichen S-Bahn-Strecken. Zwei erfolgreiche Bürgerbegehren für die Wiederinbetriebnahme stillgelegter Strecken, 1986 in Steglitz und 1988 in Charlottenburg, wurden ignoriert. Erst Ende 1988, also kurz vor den Wahlen im Januar 1989, wurde für 1990/91 ein Baubeginn auf dem Südring angekündigt. Nach dem Wahlsieg von SPD und AL ist dieser nun auf den 25. September 1989 vorverlegt worden. Ein großer Erfolg. Doch er wird begleitet von Rückschlägen. Nicht nachvollziehbare Verteuerungen für die Bauarbeiten, Terminverschiebungen gegenüber den Koalitionsvereinbarungen und geplante Zugeständnisse an die Berliner U-Bahn-Lobby im Berliner Norden haben die Freude über den Erfolg erheblich gedämpft.

Bagger
Baubeginn am S-Bahnhof Westend. Zunächst wurden die Stromschienen beseitigt, anschließend die Gleise. 1992 soll hier der erste S-Bahn-Zug nach Schöneberg abfahren. Foto: G. Radke

Die Bauarbeiten zur Wiederinbetriebnahme des S-Bahn-Südringes wurden mit Abrißarbeiten begonnen. Nachdem Bausenator Wolfgang Nagel die S-Bahn-Arbeiten in einer kurzen Ansprache vor Gästen und Journalisten der neuen Politik des sogenannten ökologischen Stadtumbaus zugeordnet hatte, nahmen er und Finanzsenator Norbert Meißner (beide SPD) den Preßlufthammer in die Hand und begannen medienwirksam mit der Zerstörung eines ehemaligen Dienstgebäudes auf dem Bahnsteig des S-Bahnhofes Westend. Über den Wiederaufbau des Südringes nach dem weitgehenden Abbruch wurde auf großen Holzwänden informiert. Bezeichnenderweise kam Verkehrssenator Horst Wagner (SPD) zu spät. So wurde symbolisch unterstrichen, was ein Mitarbeiter der Senatsbauverwaltung schon längst wußte: "Der Nagel und der Meißner zeigen doch dem Wagner, wo’s lang geht."

Daß es im Verhältnis zwischen Verkehrs- und Bauverwaltung auch unter dem SPD/AL-Senat nicht zum besten steht, wurde am 25. September noch ein zweites Mal deutlich. Bausenator Nagel wollte keinen Baubeginn und erst recht keinen Wiederinbetriebnahme-Termin für die S6 nach Lichterfelde Süd nennen. Doch Verkehrssenator Wagner gab in der Antwort auf eine Kleine Anfrage (s. Seite 11) das Jahr 1990 als Baubeginn an, veröffentlicht am 25. September im Landespressedienst. Damit entsprach er auch den Koalitionsvereinbarungen vom März, in denen von "Mitte 1993” als Eröffnungstermin die Rede ist.

In seiner Ansprache auf dem S-Bf. Westend hatte Bausenator Nagel auch die gute Zusammenarbeit zwischen seiner Verwaltung und den beteiligten Firmen hervorgehoben. Diese Äußerung könnte man auch böswillig interpretieren. Denn die Kostenentwicklung ist beängstigend und kaum nachvollziehbar. Unter dem CDU/F.D.P.-Senat hatte die Senatsbauverwaltung für den Abschnitt Westend - Sonnenallee 1988 Kosten von 387 Mio. DM ermittelt und gegenüber Bonn angegeben, nun sollen es 585 Mio. DM sein! Die Folgen sind bekannt (s.o.): der Bausenator wagt es nicht mehr, Termine für die anderen S-Bahn-Strecken zu nennen, alles wird nach hinten verschoben.

Senatoren
Die Senatoren Nagel und Meißner beim Baubeginn auf dem S-Bf. Westend. Haben sie den Verkehrssenator gesichtet? Denn der kam leider zu spät. Foto: G. Radke
Senatoren
Wenn alles getan ist. Senator Nagel hat den symbolischen Spatenstich per Preßlufthammer vollzogen Foto: G. Radke

Dazu trägt natürlich auch die U-Bahn-Lobby bei. Zur Zeit gehören ihr alle (!) Reinickendorfer Parteien an. Sie fordern die U8-Verlängerung ins Märkische Viertel. Dabei hat sich noch immer keiner die Mühe gemacht, gründlich über Alternativen nachzudenken. Die Bezirkspolitiker im Berliner Norden sehen stets nur die Hochhausgebirge und das große Wählerpotential, nicht aber, daß über 1/3 der kaum noch 40.000 Einwohner des Märkischen Viertels außerhalb des fußläufigen Einzugsbereiches der geplanten U-Bahn wohnt und daß vielen mit der U-Bahn längere statt kürzere Reisezeiten von Haustür bis Zielort beschert werden. Der Gipfel des Unfugs ist dabei die verbreitete Forderung, auf den geplanten S-Bf. Schorfheide auf der Nordbahn zu verzichten, um das Fahrgastpotential der U-Bahn nicht zu schmälern. Solche Töne gibt es zwar in den Senatsverwaltungen nicht, doch der Sprecher des Bausenators meinte allen Ernstes, man versuche “Lösungen zu finden, die zu keiner Verzögerung bei anderen Projekten führen" (Tagesspiegel, 17.8.89). Wie er das bei den Berliner Kilometer-Preisen von 150 Mio. DM und mehr erreichen will, bleibt sein Geheimnis. Und die ersten Terminplanungen seiner Verwaltung unter Einschluß der U8 ins Märkische Viertel haben ja auch gezeigt, daß der U8-Bau natürlich zulasten der S-Bahn geht, insbesondere der Strecke nach Spandau/Staaken, deren Wiederinbetriebnahme ins nächste Jahrtausend verschoben wurde.

Nun könnte man noch einwenden, daß es nur um ein relativ kurzes Stück U-Bahn geht, nur rund 2 km lang. Doch selbst wenn man die Kosten für den U-Bahn-Kilometer mit den neuen, überhöhten Kosten für den S-Bahn-Südring vergleicht, dann ist die U-Bahn noch immer um ein Vielfaches teurer. Denn sogar bei Kosten von durchschnittlich fast 35 Mio. DM pro S-Bahn-Kilometer kann man noch 5 km S-Bahn für die Kosten eines U-Bahn-Kilometers bauen.

Fazit: Es ist erfreulich, daß der neue Senat endlich mit Arbeiten zur S-Bahn-Wiederinbetriebnahme begonnen hat. Aber daß von den realistischen Terminplänen der Koalitionsvereinbarungen fast nichts die Mühlen der Senatsbauverwaltung überlebt hat, spricht gegen die verantwortlichen Senatoren. Doch wer jetzt die neuen Pläne und Termine mit denen des CDU/F.D.P.-Senates vergleicht, vergißt dabei, daß es sich darum nur um (Wahl-)Ankündigungen ohne Gesamtkonzept und Verbindlichkeit gehandelt hat (s. SIGNAL 10/88 ,S. 41), daß unter einem Senator Wronski auf die S6 zugunsten einer U-Bahn-Verlängerung ganz verzichtet werden sollte und daß die S2 zugunsten einer Autobahn, der Westtangente, auf einem Teilstück aufgegeben werden sollte.

IGEB

aus SIGNAL 9/1989 (Oktober 1989), Seite 4-5

 

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