Fernverkehr

Im Westen nichts Neues

So könnte man das bisherige Ergebnis der Planungen des (West-)Berliner Senats zum Eisenbahn-Fernverkehr zusammenfassen. Denn ein ähnliches Bahnkonzept, wie das jetzt vorgestellte, hatten die Verkehrsplaner der (Ost-) Berliner Magistratsverwaltung bereits im Frühjahr erarbeitet. Neu war bei der Senatsplanung immerhin, daß diese erstmals frühzeitig in der Öffentlichkeit vorgestellt und erörtert wurde. Dies geschah auf einem “Berliner Eisenbahn-Kolloqium”, zu dem alle Interessierten am 27. Oktober öffentlich eingeladen worden waren. Vorgelegt wurde der Zwischenbericht eines vom Verkehrssenator in Auftrag gegebenen Gutachtens der Deutschen Eisenbahn-Consult (DE-Consult), einem Tochterunternehmen von DB und Deutscher Bank.

Das DE-Consult-Gutachten enthält als wesentlichsten Bestandteil den schon viel diskutierten Nord-Süd-Fernbahn-Tunnel und die Stadtbahn als Ost-West-Linie (beide zusammen als “Verbindungsbahnen” bezeichnet). Außerdem so der Innenring ausgebaut werden. Die Aufteilung des Verkehrs sieht folgendes vor: Der Güterverkehr wird weitgehend über den Außenring abgewickelt, der Regionalverkehr über die Verbindungsbahnen als “Kernnetz" und über den Innenring als “Ergänzungsnetz”. Der Fernverkehr (insbesondere IC- und IR-Verkehr) wird ausschließlich über die Verbindungsbahnen abgewickelt.

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Zielnetz für den IC-Verkehr im Berliner Stadtgebiet mit den Bahnhöfen Zoologisher Garten, Lehrter Bahnhof, Hauptbahnhof und Yorkstraße. Einerseits fehlen so wichtige Bahnhöfe wie Spandau und Gesundbrunnen, andererseits will die DB in jeder Stadt nur einmal halten, das hieße in Berlin nur am Lehrter Bahnhof, der damit - entgegen allen Beteuerungen - doch zum gigantischen Zetralbahnhof würde. Grafik: DE-Consult
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Grafik: DE-Consult

Alternativen wurden bisher nicht untersucht. Hier ist auch einer der Kritikpunkte zu sehen: Während heutzutage in jedem anderen Gutachten zum Verkehr zwei oder mehr Szenarien verglichen werden, wird im DE-Consult-Gutachten der Nord-Süd-Tunnel als das “Ei des Kolumbus” vorgestellt, andere Vorschläge gibt es nicht. Dabei ist der Vorschlag des Nord-Süd-Fernbahn-Tunnels durchaus nicht neu: Bereits 1905 gab es erste Planungen dazu, wie auch der Vertreter der DE-Consult beim Kolloquium einräumte. Aber auch im SIGNAL z.B. sind solche Planungen schon diskutiert worden. Nun ist es natürlich nicht ausreichend, alle Tunnelpläne dieses Jahrhunderts auszugraben und darnit die Planung für das nächste Jahrhundert zu begründen. Die alte Idee mußte anhand aktueller Daten und Erkenntnisse neu geprüft werden. Doch eine Prüfung, die keine Alternativen untersucht und darlegt, ist als Planungs- und Entscheidungsgrundlage unbrauchbar.

Und daß Alternativen im Großen wie im Detail notwendig sind, das wird durch die Inhalte des DE-Consult-Gutachtens nur unterstrichen. Ein Beispiel: Mit der Beschränkun auf die vier IC-Bahnhöfe Lehrter Bahnhof als Zentralbahnhof sowie Zoologischer Garten, Hauptbahnhof und Yorckstraße, von denen die letzten drei eher zur Beruhigung der Gegner eingezeichnet wurden (wie ein Versprecher des Gutachters zeigte), wurden alle Befürchtungen bestätigt, daß mit dem Nord-Süd-Tunnel und dem Zentralbahnhof ein monozentrisches Modell durchgesetzt werden soll, das die polyzentrische Struktur Berlins gefährdet und alle Fahrgäste in die Berliner Mitte zwingt, obwohl im riesigen Ballungsraum Berlin sicher die wenigsten ihr Ziel ausgerechnet nördlich des Großen Tiergartens haben.

Ein weiterer Kritikpunkt ist der unzureichende Stufenplan. Er beginnt nämlich nicht mit den heutigen Verhältnissen, sondern setzt schon für die erste Stufe erhebliche bauliche Vorleistungen (z.B. Umgestaltung Gesundbrunnen/Schönhauser Allee/Bornholmer Straße) voraus. Daß aber das Interesse der heute Reisenden auf morgen und nicht auf übermorgen erichtet ist, ignoriert das Konzept. Allerdings scheint dies auch am Senatsauftrag an die DE-Consult zu liegen. Auf den Einwand von Prof. Hofmann von der Verkehrshochschule Dresden, daß es bis zur Verwirklichung derartiger Konzepte vielleicht kaum noch Bahnreisende geben wird, weil alle von der bis dahin unzeitgemäßen Bahn auf andere Verkehrsmittel umgestiegen sind, antwortete der Vertreter des Senatsverwaltung, Herr Lotze, lediglich mit persönlichen Angriffen auf Prof. Hofmann. Die Forderung nach sofortigen Aktivitäten insbesondere im Regionalverkehr ignorierte er. Auch auf ein Nachhaken des IGEB Vertreters Wolfgang Stahnke hin, wie Lotze diese elementaren Bedürfnisse der Fahrgäste auf solche Art und Weise abtun könne, wußte er nur zu sagen, daß ja schon einiges geschehen sei: Sowohl nach Potsdam als auch ins Havelland führen inzwischen Züge. Daß diese Züge aber das Verdienst von der Reichsbahn und den Berliner Fahrgastverbänden sind, keinesfalls aber das des Senats, verschwieg er.

Auch wenn der Senat genau das Gegenteil zeigen wollte, ist beim “Berliner Eisenbahn-Kolloquium” wieder einmal die Konzeptionslosigkeit des Senats beim Eisenbahn-Verkehr zum Ausdruck gekommen. Er wollte sich zwar ein Konzept erarbeiten lassen, doch dabei ist nichts grundsätzlich Neues und schon gar nichts Überzeugendes herausgekommen. Lediglich langfristig (oder gar nicht) zu realisierende Konzepte möchte der Senat sein eigen nennen (vielleicht, um sie auf die lange Bank schieben zu können?), die dringenden Probleme der Berliner von heute ignoriert er jedoch weiterhin.

IGEB

aus SIGNAL 9/1990 (Dezember 1990), Seite 11-12

 

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