Im Mai 1991 hatte der für Moabit beauftragte
Sanierungsträger S.T.E.R.N. GmbH
zusammen mit dem Bezirksamt Tiergarten
ein zweiteiliges Gutachten zur Eisenbahnplanung
in Auftrag gegeben. Die Consult-Gesellschaft
für Energie, Wirtschaft und
Umwelt (GEWU) sowie das Institut für
Bahntechnik (IfB) sollten zunächst die Eignung
des Standortes Lehrter Stadtbahnhof
für den von der Deutschen Eisenbahnconsult
(DE-Consult) und dem Verkehrssenator geplanten
zentralen Verknüpfungsbahnhof sowie die Auswirkungen
eines solchen Bahnhofes auf den Stadtteil Moabit
untersuchen. Im zweiten Teil, der im November 1991
fertiggestellt wurde, sollten
Grundzüge eines dezentralen Eisenbahnkonzeptes
für Berlin entwickelt werden. An
beide Gutachten-Teile wurden besondere
Anforderungen hinsichtlich einer integrierten
städtebaulichen, ökologischen und
bahnplanerischen Sicht formuliert.
Auf der Grundlage des im Stadtforum diskutierten
“Zwiebel-Modells" (verschiedene
Autoren), das in einigen Punkten modifiziert
wurde, entstand der interdisziplinäre
Ansatz eines integrierten Eisenbahnkonzeptes
für Berlin.
Das Betriebskonzept:
Die Bahn wächst mit der Stadt!
Der betriebliche Grundgedanke des Zwiebel-Modells
besteht darin, die vorhandene
Eisenbahninfrastruktur optimal zu nutzen
und entsprechend der historisch gewachsenen,
polyzentralen Berliner Stadtstruktur
stufenweise zu entwickeln. Das Konzegt
steigen kurzfristig - ohne langwierige Großrojekte - die
Attraktivität der Bahn und
hält langfristige Entwicklungsmöglichkeiten
offen.
Im Fernverkehr werden die Ost-West-Verbindungen - ähnlich
dem Achsenkreuz-Modell - über die Stadtbahn geleitet. Der
Nord-Süd-Verkehr wird grundsätzlich über
den Ring abgewickelt. Dabei werden die
Züge von und nach Rostock über den West-Abschnitt
des Berliner Innenringes (BIR)
und die Züge von und nach Stralsund über
den Ostteil des BIR geführt.
Als Zugangsstellen zum Netz und als Verknüpfungsbahnhöfe
der Fernverkehrslinien
im Intercity- und Interregio-Verkehr stehen
auf der Stadtbahn die Bahnhöfe Zoologischer
Garten, Friedrichstraße und Hauptbahnhof zur
Verfügung, die an den Schnittstellen mit dem
BIR durch die Umsteigebahnhöfe West- und
Ostkreuz ergänzt werden. Auf dem BIR hegen außerdem noch
der Fernbahnhuf Gesundbrunnen und evtl.
ein weiterer Fernbahnhof im Bereich Tempelhof
sowie mehrere Regionalbahnhöfe,
die der Erschließung der geplanten Dienstleistungsflächen
am BIR ("Ringstadt") und
als Umsteigebahnhöfe für den Regional-
und Nahverkehr dienen (Abb. 1).
Zur Entlastung des Rings sowie zur Anbindung
des Potsdamer Platzes und des Regierunggsviertels
im Spreebogen kann eine
Nord-Süd-Regionalbahn ("Flughafenlinie")
zwischen dem Flughafen Schönefeld
dem geplanten Flughafen "Berlin International" im
Süden Berlins und dem Stadt-Flughafen Tegel bzw, - bei
Aufgabe von
Tegel - den nordwestlichen Umlandgemeinden
geschaffen werden. Im Bereich des
Lehrter Stadtbahnhofs würde in diesem Fall
ein Regionalbahnhof entstehen, der eine
schnelle Verbindung zwischen den Flughafen
und dem Regierungsviertel garantiert.
Die Anbindung an den hochwertigen Eisenbahn-Fernverkehr
(ICE) ist in fußläufiger
Entfernung durch den Bahnhof Friedrichstraße gewährleistet,
der damit im Zwiebel-Modell seine traditionsreiche Bedeutung
beibehalten könnte.
An den Kreuzungsstellen der Radialen mit
dem BIR sind zusätzliche Trassierungsbauwerke
erforderlich, die noch genauer untersucht
werden müßten. Trassierungstechnische Probleme
ergeben sich aber auch beim
Achsenkreuzmodell (z.B. beim Anschluß
der Nord-Süd-Strecken an den Nordring
zwischen Perleberger und Müllerstr. sowie
beim Overfly über die Perleberger Brücke).
Bahnhöfe an den
Stadt- und Entwicklungszentren
“Ich bekenne mich dazu", so formulierte es
der Regierende Bürgermeister Eberhard
Diepgen am 9. November 1991 anläßlich
der 1. Berliner Verkehrswerkstatt, “daß
Verkehrspolitik nicht das Primat ist. Die
Verkehrspolitik hat die Schlußfolgerungen
zu ziehen aus den städtebaulichen und den
gesamten Entwicklungsentscheidungen, die
wir zu treffen haben" Wenn man diese
Aussage ernst meint und ernst nimmt, ist
das Primat so zu verstehen, daß sich die
Verkehrspolitik an der Struktur und den
Zielen der Berliner Stadtentwicklung orientieren
muß, d.h. sie muß dem “Leitbild der
Erhaltung der polyzentralen Struktur" (Senator
Herwig Haase auf derselben Veranstaltung) gerecht werden.
Diesen Anspruch löst das Achsenkreuzmodell
nicht ein. Es leitet die zentralörtlichen
Entwicklungsimpulse der Bahn nur zum geringen
Teil auf die bestehenden Zentren
und auf die Entwicklungsreserven am Ring.
Stattdessen wird durch die geplanten neuen
Fernbahnhöfe im Bereich Lehrter Stadtbahnhof
und Gleisdreieck der Grundstein
für eine - planungsgeschichtlich keineswegs
neue - "Nord-Süd-Achse" gelegt, die zur
Herausbildung einer Dienstleistungs-City
zwischen Regierungsviertel, Potsdamer
Platz und Gleisdreieck führen wird.
Leider wird trotz "Stadtforum" und “Verkehrswerkstatt”
gegenwärtig keine Diskussion darüber geführt,
ob die Wiederbelebung dieser alten Idee einer "City-Mitte"
städtebaulich und entwicklungsplanerisch
überhaupt wünschenswert ist. Das Zwiebel-Modell
verzichtet bewußt auf die Bildung
einer Dienstleistungs-City bzw. einer neuen
Nord-Süd-Achse vor der barocken Stadtgrenze
Berlins und unterstützt stattdessen
die dezentrale und konzentrische Stadtentwicklung
im Bereich des S-Bahn-Ringes.
Die historische Innenstadt soll weder durch
Hochhäuser, noch durch andere Großprojekte überformt werden.
Der Regionalverkehr erschließt sowohl die
bestehenden Zentren über die Stadtbahn
als auch die städtischen Entwicklungspotentiale
am S-Bahn-Ring, insbesondere auch
im Bereich Ostkreuz/Rummelsburger
Bucht, Westkreuz/Halensee und Tempelhofer Feld.
Hier steht, im Vergleich zum Bereich des
geplanten Lehrter Zentralbahnhofes, mehr als
das Zehnfache an Reserven
zur Verfügung, Während der BIR im Achsenkreuz-Modell
als Entwicklungsreserve
verkehrsplanerisch vernachlässigt wird, werden die
Regionalverkehre - und damit die
Pendlerströme - im Zwiebel-Modell bewußt
auf diese Entwicklungsflächen gelenkt. Damit
wird eine vorhandene Infrastruktur vernünftig
genutzt und die gewachsene Polyzentralität Berlins gestärkt.
Das Achsenkreuz-Modell wurde konzeptionell vor
dem Mauerfall entwickelt und ist -
unbewußt - ein “West-Modell": lediglich ein
IC-Bahnhof liegt in den östlichen Bezirken
(“Hauptbahnhof"). Die entwicklungsträchtigen
Fernbahnhöfe befinden sich im Westteil
der Stadt. Damit wird ein historisch bedingter
Entwicklungsvorsprung der Westbezirke
langfristig festgeschrieben. Im Sinne eines
Wertausgleichs zwischen den Innenstadtbereichen
werden im modifizierten Zwiebel-Modell die
strukturpolitisch erwünschten
Entwicklungsimpulse dezentral über die
Stadt verteilt.
Kapazitäten
Eine grundlegende Kritik an den Ring-Modellen
verweist auf die mangelnde Kapazität
des Berliner Innenringes. Der erforderliche
Ausbau bringe praktisch ähnlich große Eingriffe
in die Stadtstruktur mit sich wie das
Achsenkreuz-Modell mit seinen Tunnelbauten.
Eine Analyse der Verkehrsströme
im Rahmen des von S.T.E,R.N. und dem
Bezirk beauftragten Gutachtens ergab, daß
die Überlastung des Ringes wesentlich
durch die hohen Prognosezahlen für den
Flughafenverkehr (20-Minuten-Takt) mitverursacht wird.
Das Zwiebel-Modell löst den Zielkonflikt
zwischen Dezentralität und Stadtverträglichkeit
mit einem “Zugeständnis an den
Regionalverkehr", nämlich einem Tunnel
unter dem Tiergarten für die sogenannte
Flughafenlinie. Der Tunnel verläuft etwa in
der gleichen Trasssenführung wie im Achsenkreuz-Modell,
ist jedoch mit zwei statt
vier Gleisen um die Hälfte kleiner und erfordert
auch keine zusätzlichen S- und U-Bahn-Tunnel.
Mit dem Bau dieser Regionalbahnstrecke braucht erst dann begonnen
zu werden, wenn sich die hohen Prognosezahlen im
Regionalverkehr als zutreffend
erweisen und sich Kapazitätsengpässe auf
dem Ring abzeichnen. Bis heute ist jedoch
noch nicht geklärt, ob die großen regionalen
Pendlerströme zum einen prognostisch gerechtfertigt,
zum anderen regionalplanerisch
wünschenswert sind. In einer ersten Ausbaustufe
wird daher auf den Tunnelbau verzichtet. Für
die evtl. erforderliche zweite
Ausbaustufe wird eine Nord-Süd-Regionalbahntrasse
planerisch freigehalten.
Hinsichtlich der Kapazitäten wurden von
den Gutachtern zwei Varianten des modifizierten
Zwiebel-Modells erarbeitet. In der
ersten Variante wird der Ring zweigleisig
wiederhergestellt. Diese Maßnahmen sind
ohne größere Eingriffe in die Stadtstruktur
möglich. Bereits in dieser Variante könnte
die von der DE-Consult für das Jahr 2010
prognistizierte Fahrgastzahl aufgenommen
werden. Allerdings sind die Kapaziätsreserven
geringer als im Achsenkreuz-Modell.
Dies könnte bei einer sehr zentralistischen
Entwicklung Berlins mit hohen Pendlerströmen
aus dem Umland zu Engpässen bzw.
weiteren Ausbaumaßnahmen am Ring führen.
Allerdings gilt auch der umgekehrte
Zusammenhang: das Achsenkreuz-Modell
macht geradezu eine zentralistische Entwicklung
Berlins gegenüber seinem Umland
erforderlich, um zu einer wirtschaftlichen
Nutzung der überdimensionierten Infrastruktur
zu kommen. So liegt beispielsweise
die Belastung des BIR im Bereich zwischen
Westkreuz und Jungfernheide im Achsenkreuzmodell nur bei 7%!
Was gut ist für Berlin,
nützt auch der Region.
Das Primat einer polyzentralen Entwicklung
sollte jedoch nicht nur für die Stadt Berlin,
sondern auch für das Umland und Brandenburg
gelten, dessen wenige Mittel- und
Oberzentren nicht durch extremen Pendlersog nach
Berlin in ihrer Entwicklung behindert werden
sollten, Die geplante Kapazität
des sternförmig auf Berlin zulaufenden
Regionalverkehrsnetzes im DE-Consult-Konzept
läuft geradewegs auf eine Entleerung
der Region hinaus. Von den etwa 400.000
Erwerbstätigen der Region müßte jeder
zweite nach Berlin pendeln, um die halb- und
viertelstündlich getakteten Züge der
rund 15 Regionallinien im DE-Consult-Konzept
wirtschaftlich auszulasten.
Trotz dieser regionalplanerischen Bedenken
wurde ein zweites Szenario des Zwiebel-Modells
(Abb. 2) entwickelt, in dem durch
eine veränderte Streckenführung und geringfügige
Ausbaumaßnahmen auf drei
Gleise eine um ca, 30% höhere Kapazität
als im ersten Szenario erreicht werden
könnte. Damit wird die These bekräftigt,
daß das Zwiebel-Modell ein flexibles und
erweiterungsfähiges Eisenbahnkonzept ist,
das zusammen mit Berlin “wachsen" kann.
Städtebauliche und ökologische Eingriffe in
Stadtstruktur und bioklimatisch wertvolle
Vegetationsflächen lassen sich auch im
Zwiebel-Modell nicht vollkommen vermeiden.
Sowohl im Bereich des Ost- wie des
Westkreuzes können Konflikte mit angrenzenden
städtischen Nutzungen entstehen,
denen frühzeitig durch geeignete planungsrechtliche
Strategien (Erhaltungsverordnungen etc,) entgegengewirkt
werden muß. Der
evtl. erforderliche Bau eines zweigleisigen
Tunnels für die Regionalbahnstrecke zum
Lehrter Stadtbf. bringt zwar weniger negative
Auswirkungen für die bioklimatische Situation
und die Vegetation im Bereich des
Gleisdreiecks und des Großen Tiergartens
mit sich als beim Achsenkreuz-Modell.
Dennoch muß mit einer Beeinträchtigung
gegenüber der jetzigen Situation gerechnet
werden. Unvermeidliche Eingriffe müssen
daher durch geeignete Ausgleichsmaßnahmen kompensiert werden.
Insgesamt ist im Vergleich das modifizierte
Zwiebel-Modell in beiden Ausbauszenarien
sowohl ökologisch wie ökonomisch besser
zu bewerten als das Achsenkreuz Modell.
Im Rahmen einer polyzentralen Regionalplanung
und der damit verbundenen Dezentralisierung von
Verkehrsströmen ließe sich
die Stadtverträglichkeit dieser Eisenbahnkonzeption
noch weiter verbessern.
Uli Hellweg
S.T.E.R.N.
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