Der Aktionstag 2. Oktober begann mit einer
Überraschung. Eigentlich sollte es erst
am Nachmittag richtig losgehen. Doch
schon am Morgen fuhren die Straßenbahnen
mit Trauerflor von den Betriebshöfen,
in Berlin ebenso wie in Schöneiche und
Woltersdorf. Es war weniger die Trauer
über 25 Jahre Straßenbahnstillegung in
West-Berlin, sondern es waren vor allem
Wut und Trauer über die heutige Straßenbahnpolitik
in der wiedervereinigten Stadt.
Denn die "Abwickler" von 1967 und ihre
Schüler knüpfen da an, wo sie vor 25 Jahren
aufgehört haben. Mit vielen kleinen, gegen
die Tram gerichteten Maßnahmen und Entscheidungen
hat eine schleichende Demontage
begonnen. So wird z.B. der Fahrplan
kaum noch eingehalten, weil nach der Entlassungswelle
von "Stasi-Fahrern" Personal
fehlt. Die verbliebenen Straßenbahnfahrer
müssen Überstunden machen und sind sauer:
"Damals haben alle gefordert: Stasi in
die Produktion. Und jetzt werden die Leute
wieder entlassen."
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Am 2. Oktober um fünf vor zwölf. 25 Jahre nach der Stillegung der Straßenbahn in West-Berlin protestieren die Straßenbahner am Hackeschen Markt gegen die schleichenden Demontage dieses Verkehrsmittels im Ostteil Berlins. Foto: Ch. Tschepe |
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Am Hackeschen Markt, zur symbolischen
Minute "5 vor 12", folgte die nächste Aktion.
Für einige Minuten wurde der Fahrbetrieb
unterbrochen und eine Erklärung verlesen:
Werte Fahrgäste!
Wir Straßenbahnfahrer nehmen die 25-jährige
Wiederkehr des Tages der Einstellung der
Linie 55, der letzten Straßenbahn im Westteil
der Stadt, zum Anlaß, kurz unsere Sorgen
und Nöte vorzutragen.
Wie sieht die heutige Zukunft dieses umweltfreundlichen
Nahverkehrsmittels aus? Wie
lautet das vom Verkehrssenator immer wieder
hinausgezögerte Verkehrskonzept für die
Tram? Werden weiterhin mehrere Millionen
DM für nicht haltbare Konzepte vergeudet?
Weshalb erfolgt keine konsequente Förderung
des ÖPNV? Warum läßt man uns im Verkehrschaos
stecken? Wieso können ehemals
vorhandene Fahrbahnmarkierungen nicht erneuert
werden?
Der Neubau von Lichtsignalanlagen nützt
wenig, wenn die Straßenbahn keine Vorrangschaltung
erhält. Der Senat von Berlin setzt
Zeichen, indem von ihm Bundesgelder zurückgeschickt
werden, da kein vernünftiges
Konzept vorlag. Gelder, die jetzt fehlen, um
Fahrzeugmodernisierungen bzw. -neubeschaffungen
zu realisieren.
Wie wird sich das Sparprogramm des Senats
weiter auswirken? Die ersten Linieneinstellungen
sind bereits erfolgt, der Behängungsgrad
der Züge wird weiter reduziert, Fahrabstandserweiterungen
sind nicht ausgeschlossen.
Wie sicher sind unsere Arbeitsplätze? Bis
zum heutigen Tag wurde noch nicht ein Planfeststellungsverfahren
eröffnet! Zu mehr als
Lippenbekenntnissen von Senat und Verkehrssenator
ist es noch nicht gekommen. Ist
das Sterben der Straßenbahn in Berlin schon
wieder beschlossen ?
Soll Berlin lebenswert bleiben, brauchen wir
die Tram!
Gleichzeitig wurden Flußblätter der Gewerkschaft
ÖTV verteilt (s. Abb.). So mancher
West-Berliner, der sich noch an die
Bekämpfung der S-Bahn und die Verhinderung
des Mitteleinstieges beim Bus erinnern
konnte, staunte: Die ÖTV engagiert sich
mit demselben Ziel wie die Fahreastverbände?!
In Ost-Berlin ist halt manches anders.
Das werden wohl auch Senator Haase und
sein Staatssekretär gedacht haben, als sie
von den Aktivitäten der Straßenbahner erfuhren.
Es bleibt zu hoffen, daß die Straßenbahnfahrer
noch öfter von sich hören
lassen, denn ohne öffentlichen Druck bewegt
sich unser "miserabler Verkehrssenator"
(Der Tagesspiegel) sicher nicht. IGEB
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