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Ende Mai 1993 fand in Halle der 9. Bürgerinitiativen-Verkehrskongreß
statt. Das dreitägige Arbeits- und Aktionstreffen, veranstaltet
vom Verband
Umwelt und Verkehr Halle und dem Arbeitskreis
Verkehr und Umwelt (UMKEHR)
Berlin, ist alle zwei Jahre der Höhepunkt der
Zusammenarbeit der bundesdeutschen Verkehrs-Bürgerinitiativen.
In vielen der 25 Arbeitsgruppen
ist über die Utopie einer "Mobilität ohne
Auto" diskutiert und sind Alternativen zur vorherrschenden
Autogesellschaft entwickelt worden.
Vorrangig ging es aber darum, sich mit den
Realitäten, so z.B. mit dem kürzlich verabschiedeten
Bundesverkehrswegeplan und der drohenden
Bahn-Privatisierung auseinanderzusetzen.
Von den 400 Teilnehmerinnen und Teilnehmern
wurde die Mogelpackung "Bahnreform" abgelehnt
und ihr die Alternative einer Flächenbahn,
die den Mobilitätsbedürfnissen aller Bürgerinnen
und Bürger gerecht wird, entgegengestellt. Kritisiert
wurden an den Bonner Bahnplänen der
schrittweise Rückzug des Staates aus der Verantwortung
für den Schienenverkehr (als Verpflichtung
zur Daseinsvorsorge) und die Zerschlagung
der sinnvollen Einheit Eisenbahn in drei unabhängige
Aktiengesellschaften. Angesichts der verkehrspolitischen
Rahmenbedingungen, die nach
wie vor der Straße Vorrang geben, wird diese
"Bahnreform" in einen radikalen Abbau des
Schienenverkehrs, besonders in der Fläche, münden,
während sich private Betreiber gewinnbringende
Strecken als Rosinen herauspicken werden.
Die Finanzierung der von den Bürgerinitiativen
vorgestellten Flächenbahn muß durch Umverteilung
der Mittel aus dem Bundesverkehrswegeplan
(BVWP) erfolgen. Dieser BVWP sieht den Bau
und Ausbau von ca. 11.600 Kilometern Fernstraßen
für fast 200 Milliarden DM vor. 2/3 der Gelder
sollen in den alten und 1/3 in den neuen Bundesländern
in Asphalt und Beton gegossen werden.
Die Bürgerinitiativen im Verkehrsbereich
werden alles in ihrer Macht stehende tun, um diese
Straßenbauorgie zu verhindern. Ausführlicher
wurden in einzelnen Arbeitsgruppen der Trend zu
immer mehr Straßentunneln sowie der Versuch
verschiedener Städte, Straßenringe herzustellen,
diskutiert. Handelt es sich bei den Ringplanungen
um Konzepte aus den 60er Jahren, wo die autogerechte
Planung noch offen ausgesprochen wurde,
so sind auch Tunnelbauten nur eine weitere
Maßnahme, um noch mehr Kapazitäten für den
Autoverkehr bereitzustellen.
Nachdem die Verkehrsinitiativen aus den Städten
schon seit einigen Jahren fußgängerfreundliche
Ampeln und eine Renaissance der Zebrastreifen
gefordert haben und auch in der punktuellen
Durchsetzung durchaus Erfolge erzielen konnten,
wurden in Halle erstmals Kriterien für eine künftige
Gehwegnetzplanung erarbeitet. Ansätze für
praktische Durchsetzungen in den Kommunen
sind erkennbar. So werden z.B. in einigen wenigen
Städten (z.B. Aachen) Grundbedingungen
von Gehwegnetzplanungen geprüft. Wichtig ist
den Verkehrsinitiativen dabei, daß den Fußgängern
wirklich Vorrang gegenüber dem motorisierten
Verkehr eingeräumt wird, aber auch gegenüber
dem Radverkehr, wo es auf Sicherheit und
Komfort des Fußgängerverkehrs ankommt. Gehwegnetze
müssen für alle Mobilitätsbehinderten
(ca. 20 bis 30% der Fußgänger) ausreichend und
komfortabel sein. Die Bürgerinitiativen werden
sich weiterhin dafür einsetzen, daß die geplante
Verordnung zur Einführung des "Grünen Pfeils"
zurückgenommen wird. Durch den Pfeil werden
zusätzliche Gefahren für alle Fußgänger und Radfahrer
sowie besonders für Sehbehinderte entstehen,
die auf gar keinen Fall akzeptiert werden
können. Wichtig ist jetzt auch, daß die möglichen
Verbesserungen der Verkehrssicherheit der Nichtmotorisierten
an Ampeln nach den neuen "Richtlinien
für Lichtsignalanlagen" (RiLSA '92) in die
Praxis umgesetzt werden. Für den Fahrradverkehr
wurden Fahrradstreifen in allen Hauptverkehrsstraßen
als vorrangiges Ziel gefordert.
Empört zeigten sich die BI-Vertreterinnen und
Vertreter in Halle über den fortschreitenden Raubbau
an der Demokratie. In den 70er und frühen
80er Jahren wurden die Mitwirkungsmöglichkeiten
der Bevölkerung bei der Verkehrsplanung auf
Druck der Bürgerinitiativen erweitert, und es war
möglich, am und auf dem Streitobjekt zu demonstrieren.
Obwohl es den meisten Bundesbürgern
in dieser Zeit wirtschaftlich immer besser ging,
wird seit Anfang der 90er Jahre Demokratie in
vielen Bereichen abgebaut, um angeblich die
Wirtschaftsentwicklung zu beschleunigen. Nun
wird unter den verharmlosenden Begriffen "Beschleunigung"
und "Planungsvereinfachung" die
Öffentlichkeit ausgesperrt - eine Öffentlichkeit,
die Fehlplanungen korrigieren konnte.
Demostrationen auf umstrittenen Straßenprojekten, die
z.B. ausgebaut werden sollen, werden verboten, da
sie den Verkehr behindern... Ein Sprecher der
Verkehrs-Bürgerinitiativen erklärte in Halle dazu:
"Nun geht es mit Demokratie und Wirtschaft gemeinsam
bergab, der Politikermoral hinterher.
Nach dem Lippenbekenntnis der 70er Jahre 'Mehr
Demokratie wagen' spukt zur Zeit nur noch 'Mehr
Dienstwagen' durch Politikerköpfe, wie aktuelle
Affären zeigen." Der Wechsel an der Spitze des
Bundesverkehrsministeriums von Krause zu
Wissmann wird nach Einschätzung der Initiativen
an der Betonpolitik der Bundesregierung
nichts ändern. Viele der westlichen Politiker werden
sich gefreut haben, daß der 'Ossi' Krause die
Drecksarbeit für sie übernommen hatte.
Ausführlicheres zu den Ergebnissen des Kongresses
steht in den Nachbereitungsheften, dem "Informationsdienst
Verkehr (IDV)". Erhältlich sind
diese durch Überweisung von 30 DM auf das Jochen-Richard-Sonderkonto
0158718503 bei der
Postbank Köln (BLZ 370 100 50) oder per Einzelbestellung
bei UMKEHR e.V., Exerzierstraße 20,
13357 Berlin, Telefon (030) 492 74 73. Arbeitskreis Verkehr und Umweld
UMKEHR e.V.
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