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Sind Sie mindestens Mitte dreißig? Haben
Sie also die Zeit der deutschen Teilung noch
ganz bewusst miterlebt? Stammen Sie gar
aus dem ehemaligen West-Berlin – einer
halben Stadt, deren Einwohnerschaft sich in
einem weitgehend einig war: der Ablehnung
des politischen und wirtschaftlichen Systems
im Osten?
Dann stellen Sie sich doch mal vor, in den
Jahrzehnten des Kalten Kriegs, irgendwann
zwischen 1948 und 1989, wäre in Schönefeld
ein neuer Flughafen gebaut worden, dessen
Fertigstellung sich endlos verzögert hätte.
Eine Anlage, bei der schon vor der Eröffnung
immer mehr Pfusch zu Tage tritt, geradezu kafkaeske
Mängel: zu kurze Rolltreppen, Regenwasser,
das in Lüftungsschächte geleitet wird,
eine Brandschutzanlage, deren Komponenten
nicht zusammenpassen, Baupläne, an die sich
niemand hält und so weiter. Probleme, durch
welche sich die Kosten
für das Projekt immer
weiter erhöhen, für das dann aber mal eben
ein paar hundert Millionen locker gemacht
werden, nachdem die öffentliche Hand seit
Jahren jeden Pfennig dreimal umgedreht und
vieles gekürzt und gestrichen hat. Ein Flughafen,
von dem es schließlich heißt, womöglich
müsse man manches auf- und eventuell sogar
wieder abreißen. Und der vielleicht schon bei
seiner Inbetriebnahme – wenn diese denn
irgendwann einmal erfolgt – zu klein ist und
daher Provisorien benötigt.
Stellen Sie sich vor, die DDR-Reichsbahn
hätte den Bahnhof Friedrichstraße saniert,
und zwar „denkmalgerecht“, was bedeutet
hätte: Im Inneren wird fast alles herausgerissen,
nur die stählernen Bahnsteighallen
bleiben stehen. Und gerade einmal anderthalb
Jahrzehnte später löst sich plötzlich ein
großer Betonbrocken, durchschlägt eine Deckenverkleidung
und man stellt fest, da wäre
wohl irgendwie unkoordiniert Beton verbaut
worden, jedenfalls mehr als vorgesehen, weshalb
nun umfangreiche Arbeiten mit vielen
Gerüsten und Behinderungen nötig würden.
Stellen Sie sich vor, damals wären in Ost-
Berlin hunderte neue S-Bahn-Züge angeschafft
worden – welche sich bald als völlige
Fehlkonstruktion entpuppt hätten. Züge, die
mehr oder weniger zu einem Kollaps dieses
Verkehrsystems geführt hätten, zu jahrelangen
starken Einschränkungen. Züge, die unzählige
Macken haben, bei denen die Sandstreuer
einfrieren, die Türen und die Motoren
bei etwas Schnee den Geist aufgeben, die
Räder nicht in Ordnung sind, deren Höchstgeschwindigkeit
reduziert werden muss und
und und.
Stellen Sie sich vor, zur Zeit der Teilung wäre
in Ost-Berlin eine neue U-Bahn-Strecke gebaut
worden. Und dafür hätte man eine bedeutende
andere Linie mitten in der Stadt, an einer
stark frequentierten Stelle, einfach für mehr als
ein Jahr unterbrochen. Weil es angeblich viel
zu schwierig wäre, zu tun, was man in Berlin
bis dahin immer getan hat: Die unterirdische
Kreuzung mit einem bestehenden Tunnel
zu errichten, während in diesem der Verkehr
weiterläuft. Außerdem wäre von der Ost-BVG
offiziell empfohlen worden, die paar hundert
Meter, auf denen nun keine U-Bahn fährt, doch
bitte per Fuß zu überbrücken.
Stellen Sie sich vor, während die Straßen in
Ost-Berlin aus Geldnot immer weiter vernachlässigt
worden wären – so arg, dass mancherorts
gar schon der Linienbusverkehr eingestellt
werden musste –, hätten die Machthaber
verbissen den Bau einiger weniger Kilometer
Stadtautobahn vorangetrieben, für Hunderte
Millionen.
Stellen Sie sich vor, all dies wäre zur Zeit der
Teilung im Osten geschehen. Wie hätte man
sich im Westen darüber amüsiert. Wie hätte
man all diese Ereignisse als weiteren Beweis
für das doch längst Bewiesene und allgemein
Bekannte genommen: dass das östliche System
völlig untauglich ist, einfach nicht funktioniert,
die dort Herrschenden unfähig sind
und jeden Kontakt zur Realität verloren haben.
Dass dieses System folglich keine Zukunft hat.
Welch schöne politische Witze wären in Umlauf
gesetzt worden. Was hätten wir im Westen
gelacht.
Insofern wirklich schade, dass es die DDR
nicht mehr gibt. Jan Gympel
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