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Große Aufregung: Die Bahn hat für viel Geld
den Berliner Ostbahnhof umbauen lassen,
und dabei die Zahl der Schalter so knapp
bemessen, daß es wieder lange Warteschlangen
und Verdruß gibt. Außerdem die
Einrichtung eines Wartesaals „vergessen".
In der Psychologie nennt man so etwas
eine Freudsche Fehlleistung. Und mit Psychologie
muß man hier kommen. Denn die
Bahn gibt nicht nur immer mehr Strecken
und, nicht zuletzt auch internationale, Verbindungen
auf. Die Bahn scheint sich auch
selbst aufgegeben zu haben. Man muß sich
das Vorgehen auf dem Leipziger Hauptbahnhof
ansehen, das von der Bahn und ihren
Partnern selbst zum Vorbild für die Ummodelung
ihrer Stationen in ganz Deutschland
zu „Einkaufszentren mit Gleisanschluß"
(schicker ausgedrückt „Dienstleistungs- und
Kommunikationszentrum", als wenn Bahnhöfe
dies nicht von Anfang an gewesen wären)
deklariert wurde. Einst verschmolzen
die grandiose Querbahnsteighalle und die
von ihr ausgehenden Perrons zur Raumeinheit;
jetzt sind die Längsbahnsteighallen,
deren Sanierung bezeichnenderweise viel
später beendet wurde als der Umbau des eigentlichen
Bahnhofsgebäudes, zu diesem
hin weitestgehend mit Schürzen aus spiegelndem
Glas abgeschlossen, die Gleise hat
man aus der Querbahnsteighalle zurückgezogen.
Der Raum, in dem die Züge fahren,
ist damit von jener Sphäre getrennt, in der
man vor allem „Shoppen" soll. Die Bahn hat
sich zurückgezogen und aus der Shoppingwelt,
zu der diese Kathedrale der Eisenbahn
umgemodelt wurde, selbst ausgesperrt.
Hinter diesem Vorgehen steckt ein grundlegender
Wandel der Vorstellungen vom
Charakter eines Bahnhofs und von den
Funktionen, denen er zu dienen hat: Bis vor
wenigen Jahren galt eine Station als ein Ort,
an dem Züge verkehren und es nebenher
noch einige, diesem Zweck (und das heißt
auch: den Reisenden) dienliche Einrichtungen
gibt. Heute hingegen scheint es die
Bahn als die ihre vornehmste Aufgabe zu
betrachten, in den Stationen für genügend
Laufkundschaft für die Läden zu sorgen.
Das geht so weit, daß vergessen wird, daß
in gewissem Maße eine Voraussetzung dafür
die Benutzung der Züge ist. Allmählich
dämmerte es der Bahn, daß es doch sinnvoll
sein könnte, in einem Bahnhof ein paar
Fahrkartenschalter, pardon: ein „ReiseCenter"
unterzubringen. Und noch immer läßt
sich der Ort, an dem man eine Fahrkarte -
pardon: ein „Ticket" - erwerben kann, nur
mit Mühe finden, derweil man die Schalter
ursprünglich neben den Türen der Haupteingänge
fand, sie also unübersehbar waren.
Mit der Umwandlung zum „Einkaufszentrum
mit Gleisanschluß" ist der Handel in
den Mittelpunkt gerückt; nach seinen
Bedürfnissen, nicht mehr nach denen des Verkehrs,
hat der Bahnhof (um-)gestaltet zu
werden - und nebenbei fahren noch irgendwo,
irgendwie ein paar Züge. Deshalb ist es
kein „Versehen", wenn bei solchen Umbauten
die Fahrkarten-Verkaufsstellen wie im
Ostbahnhof viel zu gering dimensioniert
werden oder man sie, wie für die S-Bahn im
Bahnhof Zoo, gleich ganz vergißt und der
Weg von der Empfangshalle der S-Bahn zu
jener der Fernbahn, früher deutlich an großen
Fahrplanaushängen vorbeiführend, heute
mühsam zwischen Läden und Ständen
gesucht werden muß. Ebenso verhält es
sich mit dem Fehlen von Wartesälen: abgesehen,
daß die Züge der Deutschen, pardon
„Die Bahn" doch nie nennenswerte Verspätung
haben - sollte man wirklich warten
müssen, sollte man diese Zeiten in einem
der schicken Läden verbringen, die Dinge
bieten und Ketten gehören, die man in jedem
x-beliebigen Einkaufszentrum findet.
Ansonsten ist Privatinitiative gefordert. Warum
sollte, wo das Pipimachen 1,50 Mark
kostet, das Warten kostenlos sein?
Allerdings ist der Mangel an Schaltern
oder Wartesälen in großen Bahnhöfe nicht
gegen die Tristesse kleiner Stationen: Ob
Dorfbahnhof oder großstädtischer S-Bahn-Halt - in
früheren Zeiten konnte sich der
Fahrgast darauf verlassen, praktisch überall
einen umfangreichen Service zu genießen,
vom Fahrkartenschalter über die auskunftsfähige
Aufsicht bis zu Warteraum, Toilette
und zumindest einem kleinen Restaurationsbetrieb.
Heute hingegen in der einzige
„Service" in der Regel ein Fahrkartenautomat
(mit dem komplizierten Tarifsystem eines
Verkehrsverbunds?) in einer unbeaufsichtigten
und dementsprechend verwahrlosten
Station und vielleicht noch ein demoliertes
Wartehäuschen wie man es von Bushaltestellen
kennt. Da fühlt man sich wahrlich
als Fahrgast und willkommen. (Es ist in
diesem Zusammenhang erwähnenswert,
daß die Verwahrlosung der S-Bahnhöfe in
Berlin, ganz im Gegensatz zum Stadtbild,
geringer ist als im restlichen Bundesgebiet,
wo kaum noch eine Haltestelle mit Personal
besetzt ist.) Empfangsgebäude wurden (und
werden) im Zuge des gewandelten Selbstverständnisses
des Bahn vom Transportunternehmen
zum Immobilienhändler zu
Wohn- oder Gewerbezwecken vermietet
oder verkauft.
Hinter all dem steckt nicht nur eine grundlegend
falsche Strategie, sondern offenkundig
auch ein psychologisches Problem, das
das Beschreiten des Holzwegs überhaupt
erst erklärt: Die Bahn hält wenig von sich
selbst und ihrem Produkt. Andernfalls würde
sie sich nicht so schäbige Auftritte leisten.
Sie würde sich auch nicht so bereitwillig
für ihren „Feind" verdingen, wie man es
im Leipziger Hauptbahnhof beobachten
kann: Drei Gleise gab man auf, um Autos
Parkraum zu bieten. Der Raumeindruck der
Querbahnsteighalle wurde durch zwei klobige
Aufzugstürme ramponiert, deren störende
Höhe nicht etwa technisch bedingt ist,
sondern der Schaffung zu Reklamezwecken
vermarktbarer Glaskästen dient; präsentiert
werden in diesen: Autos. Tagelang wurde im
Oktober 1998 die halbe östliche Eingangshalle
samt der großen Treppe zu den Gleisen
gesperrt; vorgestellt wurde auf dieser -
richtig geraten: ein Automodell.
Aber die Bahn möchte ja auch gar keine
Bahn mehr sein. Sie will lieber ein Flugzeug
werden und hat folgerichtig soviel Bahntypisches
wie möglich ausgetrieben. Deshalb
schaffte man weitgehend die Abteil- zugunsten
von Großraumwagen ab. Deshalb sehen
Bahnfahrkarten nicht mehr so aus,
wie sie weit mehr als hundert Jahre lang
ausgesehen haben, sondern versuchen
Flugscheine nachzuäffen. Deshalb ähnelt
auch das Äußere neuer Triebzüge immer
mehr dem von Flugzeugen, einschließlich
dem Weiß als dominierender Farbe bei Fahrzeugen
des Fernverkehrs. Würde sich noch
jemand wundern, wenn die nächste ICE-Generation
kleine Flügel an den Seitenwänden
hätte und Stewardessen nach dem Verlassen
jedes größeren Bahnhofs Vorführungen
mit Sicherheitshinweisen veranstalteten?
Natürlich spiegelt dieses Verhalten nur
sehr genau die Machtverhältnisse wider,
zeigt, wer längst das Sagen hat und die
Standards setzt. Das Gebaren der Bahn ist
insofern wie das eines Hundes, der in einem
Haushalt voller Katzen beginnt, Katzenfutter
zu fressen.
Wozu mit der Bahn fahren, die sich als
Flugzeug verkleiden will, aber leider nicht
annähernd so schnell (und in zunehmendem
Maße auch nicht mal mehr so preiswert) wie
das Flugzeug ist? (Und dann gibt es noch
nicht mal kostenlose Zeitungen und Getränke
in den Zügen!). Zumal man bei der Bahn
auch noch an einer gewissen Bewußtseinsspaltung
zu leidet: So sehr man sich den
heutigen Machtverhältnisse mit der Dominanz
des Flugzeugs (und, wo es statt um
Schnelligkeit auf längeren Strecken um Bequemlichkeit
und Beweglichkeit geht, des
Autos) bewußt ist, tut man andererseits immer
wieder so, als habe man noch immer
jene selige Monopolstellung inne, die die
Bahn bis in die fünfziger Jahre besaß. Ähnlich
wie die BVG glaubt man, mit den
Beförderungsfällen umspringen zu können,
wie man wolle. Doch die, die einmal Fahrgäste
waren (oder es hätten werden sollen),
haben zum größten Teil längst mit den Füßen
abgestimmt - gegen die Bahn.
Statt einen Kampf auszutragen, den sie
auf diese Weise nicht gewinnen kann, sollte
sich die Bahn auf die Dinge konzentrieren, in
denen sie dem Flugzeug überlegen ist: Etwas
langsamer? Gut, aber auch billiger. Außerdem
bequemer, auch was den Zugang
angeht: Keine Fahrt vor die Tore der Stadt,
keine Sicherheitskontrollen, kein langes
Warten, bis man endlich einsteigen darf.
Und schließlich ist die Bahn mythenumwobener
- Flugzeuge spielen beispielsweise
im Kino fast nur eine (Haupt-)Rolle, wenn
sie verunglücken, aber was wären Eisenbahn-Filme
ohne das Geschehen in den einzelnen
Abteilen?
Nicht zuletzt gehören dazu auch Architektur
und Mythos der (großen) Bahnhöfe, gegen
die die Flughäfen mit ihrer austauschbaren
Gestaltung nicht mithalten können (von
Tempelhof abgesehen). Doch so wie die
Bahn auf den Verlust ihrer Monopolstellung
reagierte, setzte sie ebenso absurd den
Bahnhöfen zu. Statt sie angesichts des neuen
Konkurrenzkampfs zu pflegen, ließ man
sie erst verwahrlosen und modelt nun die
großen unter ihnen um - auf daß sie Flughäfen
und Einkaufszentren, die in den letzten
zehn Jahren gebaut wurden, gleichen.
In Sachen Architektur und Denkmalpflege
haben sich die Verhältnisse noch verschlimmert,
seit die Bahn formal ein Privatunternehmen
geworden ist: Früher ließ sich wenigstens
an die Vorbildfunktion appellieren,
die der Staat via seiner Behörde Bahn im
Umgang mit Baudenkmalen gegenüber privaten
Eigentümern einnehmen sollte. Heute
geht es nur noch darum, möglichst schnell
möglichst viel Geld herauszuquetschen.
So machen Meldungen, wonach die DB
AG plant, sich auf den Fernverkehr zu beschränken,
sogar Hoffnung: Etwas Schlimmeres
als diese konfuse, offenbar mit ihrem
Selbstbewußtsein und Selbstverständnis
hadernde Firma, die die Nachteile einer trantütigen
Behörde mit denen einer auf reine
Profitmaximierung bedachten Privatgesellschaft
vereint, das Streckennetz zerstört, die
Bahnhöfe zu Shoppingcentern profanisiert
und davon träumt, fliegen zu können, ist
kaum noch vorstellbar. Jan Gympel
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