Berlin

Fahrgastinformation in Berlin per Klingeldraht

Berlin Alexanderplatz an einem typischen Hochsommertag des Jahres 2000. Leicht fröstelnd stehen etwa fünfzig Fahrgäste an der Haltestelle der Straßenbahn und warten auf ihre Züge - nach Weißensee, nach Marzahn, nach Hohenschönhausen ...

Jedoch: Keine Straßenbahn, nirgends. Der einsetzende Berufsverkehr - es ist kurz nach 16 Uhr - spült immer neue Menschentrauben aus den Kellern der U-Bahnsteige ins Licht der Straßenbahnhaltestelle. Die Menge ist binnen weniger Minuten auf etwa hundert Personen angewachsen. Nur die Straßenbahn fehlt weiter - unentschuldigt.

Nach nur zehn Minuten Warterei knackt es plötzlich in irgendwelchen Lautsprechern und eine Stimme im besten BVG-Feldwebelton dröhnt über den Alexanderplatz. Nur geübten Gästen des Dienstleistungsunterehmens BVG gelingt es, der Kasernenhofurchsage einen Sinn zu entnehmen. Wer daran geschult war, die einst oft gehörte Lautfolge „...ückblei'm!" zu entschlüsseln, der weiß jetzt, daß aus technischen Gründen der Straßenbahnverkehr zur Zeit unterbrochen sei und man die „werten Fahrgäste" um Verständnis bitte.

Haltestellenhäuschen
Lautsprecher (Bildmitte oben) an der Straßenbahnhaltestelle Alexanderplatz. Foto: Alexander Frenzel, Oktober 2000

Gibt's nicht? Gibt's doch! Was wie ein düsteres Märchen aus der Steinzeit des ÖPNV anmutet, ist im Berlin des 21. Jahrhunderts traurige Realität: Das mit vielen Erwartungen und unter langen Geburtswehen einsatzreif gemachte rechnergestützte Betriebsleitsystem (RBL) war dem Publikum unter anderem damit schmackhaft gemacht worden, daß es bald möglich sei, den Fahrgästen bei Betriebs- und sonstigen Störungen schriftliche, verständliche und vor allem aktuelle Informationen zukommen zu lassen. Nur, plötzlich war das Geld alle. Die BVG meint, einen zweistelligen Millionenbetrag nicht ausgeben zu können, um die inzwischen geschaffene Infrastruktur dem Kunden nutzbar zu machen. Nicht nur an den zentralen Umsteigeknoten im Straßenbahnnetz fehlen die noch 1998 in diversen Hochglanzbroschüren angekündigten Info-Tafeln weiterhin, auch die normalen Haltestellen an der Peripherie müssen auf Fahrgastinformation verzichten - zumindest wenn sie dynamischer als ein zwei Monate alter Aushang sein soll.

Dieser für den größten Straßenbahnbetrieb Deutschlands beschämende Zustand soll sich vorerst auch nicht ändern. Um wenigstens an der wichtigsten Haltestelle in Berlins Mitte für Abhilfe zu sorgen, hat sich die BVG die oben beschriebene Klingeldraht-Lösung ausgedacht. Somit kommen wir wieder - nachdem sie auf den U-Bahnhöfen abgeschafft wurden - in den Genuß der weitgehend informationsfreien und unverständlichen Durchsagen, die wir eigentlich nicht vermißt hatten.

Der angebliche Geldmangel, der die Ausstattung der Haltestellen (übrigens: wie steht es eigentlich um den Unternehmensbereich Bus?) mit zeitgemäßen Informationsmitteln verhindert, wirkt vor dem Hintergrund um so empörender, da Senat und BVG zur Zeit planen, mit einem Aufwand von 150 Millionen DM (und das ist nur die Anfangssumme) die U-Bahnhöfe zum Schaden der Fahrgäste mit Sperren zu verbarrikadieren. Daran sieht man mal wieder deutlich, daß die Prioritäten in Berlin immer noch nicht zum Nutzen der Kunden gesetzt werden, sondern vielmehr mit fragwürdigen Argumenten Geld verpulvert werden soll.

Während die Fahrgäste im Ungewissen stehengelassen werden, investiert man lieber in die Vergrößerung des Betriebsdefizites, ohne einen greifbaren Erfolg erzielen zu können. Denn wer glaubt denn ernsthaft, daß die vielbeschworenen Kriminellen, denen man den Zugang verwehren will, in Ihren „Geschäftskosten" keine Fahrkarte (als Bahnsteigkarte) berücksichtigen können? Im Gegenteil: sind die Bahnhöfe erst einmal mit Sperren „gesichert", dann brauchen sie sich gar keine Sorgen mehr um Kontrollen durch BVG-Personal zu machen.

Gleichwohl werden die Sperranlagen Unsummen im Unterhalt verschlingen. Wir finden, dieses Geld wäre sinnvoller in der Fahrgastinformation angelegt.

IGEB, Abteilung Stadtverkehr

aus SIGNAL 8/2000 (Dezember 2000), Seite 9

 

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