An den Anfang des Kapitels zum Thema
Verkehr haben SPD und PDS ein Leitbild
gesetzt, dass bemerkenswert ist und als
Ergebnis einer „verkehrspolitischen Wende
im Kopf" erscheint. Doch beim Lesen
der nachfolgenden Unterkapitel schwindet
die Euphorie, denn für die Förderung
des öffentlichen Verkehrs will die rot-rote
Koalition zu wenig und für den Straßenausbau
zu viel tun. Berücksichtigt man
zusätzlich, dass von den geplanten Projekten
erfahrungsgemäß eher ÖPNV-Vorhaben
als Straßenbauvorhaben nicht realisiert
werden, dann macht sich Ernüchterung
breit. Dabei ist es so offensichtlich,
dass nach Jahrzehnten einer in Ost- und
West-Berlin gleichermaßen auf das Auto
fixierten Politik dringend grundlegende
Änderungen erforderlich sind - aus verkehrlichen,
städtebaulichen, umweltpolitischen,
sozialen und nicht zuletzt aus finanziellen
Gründen.
Dennoch
Viele verkehrspolitische Zielstellungen der
neuen Regierung geben Anlass zur Hoffnung,
dass die Prioritäten zugunsten der
umweit- und stadtverträglichen Verkehrsarten
verschoben werden. Und diese Koalitionsvereinbarung
unterscheidet sich
mindestens in einem Punkt deutlich von
den „Wolkenkuckucksheim-Versprechungen"
der drei rot-schwarzen Regierungen
der Nachwendezeit: Ihr liegt eine realistische
Einschätzung hinsichtlich der finanziellen
Möglichkeiten des Landes Berlins
in den nächsten Jahren zugrunde.
Die wichtigste Passage für die Benutzer
öffentlicher Verkehrsmittel in Berlin ist
wohl die, dass für die Ausgestaltung des
ÖPNV-Angebotes in Berlin der gerade erst
vom rot-grünen Senat beschlossene Nahverkehrsplan
mit den darin enthaltenen
Vorgaben zum Verkehrsangebot sowie
für die qualitätssichernden und attraktivitätssteigernden
Maßnahmen die Grundlage
sein soll. Er schreibt nämlich unter
anderem die zurzeit von den Verkehrsunternehmen
erbrachten Verkehrsleistungen
- bei gleichzeitig deutlich höheren
Anforderungen an die Qualität - im Wesentlichen
fest. Das ist vor dem Hintergrund
der realen Finanzsituation des Landes
Berlin und den beabsichtigten radikalen
Einschnitten in anderen öffentlichen
Bereichen immerhin bemerkenswert.
Auch die Tatsache, dass dieser Koalition
offenbar bewusst ist, wie wichtig die so
genannten „kleinen", also zumeist preiswerten
Maßnahmen sind, wie zum Beispiel
die Beschleunigung von Bahnen und
Bussen oder die Verkürzung der Umsteigewege
für den täglichen ÖPNV-Benutzer,
ist ein Signal in die richtige Richtung.
Aber substanzielle Verbesserungen wird
es gerade bei diesen beiden Themen nur
dann geben, wenn die Politiker endlich
den Mut finden, strukturelle (und personelle
!) Veränderungen in der Berliner
Verwaltung durchzuführen.
Erfreuliches zum VBB-Tarif
Festhalten und positiv werten wollen wir
auch zumindest die Worte, die bezüglich
der Tarife klar verständlich formuliert worden
sind:
- Vereinfachung des ÖPNV-Tarifsystems
(das heißt ja wohl mindestens Beibehaltung
des Einheitstarifs im Stadtgebiet
Berlin und Vereinfachung des
VBB-Einzelfahrscheintarifs außerhalb
des ABC-Bereiches).
- Beibehaltung der Zeitkartenrabatte
mindestens im bestehenden Umfang.
- Dauerhafte Etablierung von Job-, Semester-,
Schüler- und Arbeitslosentikkets
(auf dem jetzigen Preisniveau).
- (Wieder-)Einführung der Kleingruppenkarten
(aber zu welchem Preis?).
- Kostenlose Fahrradmitnahme.
Dass man zumindest auf die seitens der
PDS im Wahlkampf noch versprochene
generelle Tarifsenkung wohl nicht mehr
zu hoffen braucht, kann man bei den verquasten
Worten zur Tarifreduzierung
wohl schon ahnen ...
Bemerkenswert und sehr erfreulich ist,
dass die neue Koalition der Sanierung der
vorhandenen Infrastruktur Vorrang vor
Netzerweiterungen geben möchte. Das
ist zunächst mal überraschend, weil sich
bekanntlich gerade Politiker gerne im
Voranbringen großer, möglichst teurer
Investitionsvorhaben sonnen. Aber diese
„unpopuläre" Prioritätensetzung ist
gleichzeitig dringend notwendig und
richtig. Wer's nicht glaubt, dem empfehlen
wir die Besichtigung einiger Berliner S- und
U-Bahnhöfe nach heftigen Regengüssen
...
Unverständliche Hürden für
wichtige Streckenneubauten
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Die Koalitionsvereinbarung schreibt die Qualitätsstandards im ÖPNV fest. Foto: Alexander Frenzel |
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Um den ÖPNV durchgreifend attraktiver
zu machen, müssen die zur Verfügung
stehenden EU- und Bundesgelder natürlich
auch zum Ausbau der Schienennetze
eingesetzt werden. Dass SPD und PDS zur
kostenträchtigen Verlängerung der
U-Bahn-Linie 5 zwischen Alex und Lehrter
Bahnhof (und auch für den weiteren
U-Bahn-Bau) kein Wort mehr verlieren,
lässt darauf hoffen, dass man zumindest
in den nächsten fünf Jahren die Verwaltungskapazitäten
zur Planung von effizienteren
ÖPNV-Maßnahmen einsetzen will
als bisher. Und so sind die meisten genannten
Maßnahmen zum Ausbau der
Regionalbahn-, S-Bahn- und Straßenbahnnetze
gerade auch unter Kosten-
Nutzen-Gesichtspunkten sachgerecht.
Aber bei einigen dieser Maßnahmen
scheinen die Koalitionäre einen gewissen
Realitätsverlust erlitten zu haben:
- Die Realisierung des S 21-Nordabschnittes
(Nordring - Lehrter Bahnhof)
soll aus Mitteln des GVFG-Bundesprogramms
bezahlt werden. Mit diesem
Ziel wird ein unverantwortliches Risiko
eingegangen, denn zum einen ist bekannt,
dass der Bund lieber die U 5 als
die S 21 zum Lehrter Bahnhof gebaut
hätte, zum anderen müsste Berlin damit
vom Bund die Erstattung bisher
aus dem GVFG-Landesprogramm gezahlter
Gelder fordern.
- Die Fernbahn auf der Dresdener Bahn
soll im Bereich Lichtenrade in einem
Tunnel geführt werden, was nach Angaben
der DB Mehrkosten von rund
50 Millionen € verursacht. Woher will
das Land Berlin dieses Geld nehmen?
Und wieviele sinnvollere Maßnahmen
ließen sich dafür realisieren!
- Vollkommen unverständlich ist, dass
Straßenbahn-Neubaustrecken unter
den Vorbehalt der „Wirtschaftlichkeit"
gestellt werden. Welche Wirtschaftlichkeit
ist gemeint? Für alle genannten
Straßenbahn-Baumaßnahmen liegen
Untersuchungen mit positiven Ergebnissen
vor. Auch die Verbindung
von Adlershof durch die Wissenschaftsstadt
nach Schöneweide wurde
von Gutachtern positiv bewertet,
wenn sie denn in voller Länge realisiert
wird.
Da zugleich für keine der Straßenbahn-Verlängerungsstrecken
Inbetriebnahmetermine
vorgegeben werden,
kann man ahnen, welche große
Chance die Koalitionsvereinbarung
den Straßenbahngegnern in der Berliner
Verwaltung bietet, sich auch in
den nächsten Jahren intensiv beim Erfinden
von „Probleme" auszuleben.
Die organisatorischen Seite
des ÖPNV
Da die Rolle (des Landes Berlin) als Aufgabenträger
gestärkt werden soll, besteht
die Hoffnung, dass die in Berlin tätigen
Verkehrsunternehmen insbesondere hinsichtlich
der Einhaltung von Qualitätsstandards
(Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit,
Sauberkeit, Fahrgastservice etc.) zukünftig
vom Besteller stärker in die Pflicht genommen
werden. Und man darf erleichtert
sein, dass die neue Regierung hierfür
offenbar nicht mehr den ohnehin schon
überforderten VBB beauftragen möchte.
Überhaupt hat man hat nun endlich
auch auf politischer Ebene erkannt, dass
die Struktur, die Arbeit und auch die Aufsicht
über den Verkehrsverbund überaus
problematisch und reformbedürftig sind.
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Unklar sind die Formulierungen des rot-roten Koalitionspapiers zum Weiterbau des Autobahn-Innenstadtringes. Foto: Matthias Horth |
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Offen bleibt der künftige Status der
BVG in der Koalitionsvereinbarung. Es
bleibt zu hoffen, dass man die Fusion zwischen
BVG und S-Bahn Berlin GmbH nur
deshalb noch als Option vorgesehen hat,
um dem in dieser Frage fahrlässig weit
vorgepreschten Regierenden Bürgermeister
Wowereit keinen „Gesichtsverlust"
zuzumuten. Denn das ist wohl auch den
meisten Berliner Verkehrspolitikern klar:
Ein monopolartiger ÖPNV-Anbieter, auf
den das Land Berlin dann nur noch geringen
Einfluss hat (denn die DB AG würde
sich bei einer Fusion mit Sicherheit nicht
auf eine Minderheitsbeteiligung einlassen),
kann für den Berliner ÖPNV keine
Vorteile, aber viele Nachteile bringen.
Wer Straßen sät ...
„Straßenausbau muss sein" scheint als
zwingende Gesetzmäßigkeit auch Teile
dieser Koalitionsvereinbarung bestimmt
zu haben. Längst wird der Weiterbau des
Autobahnringes von Neukölln über Treptower
Park zur Frankfurter Alle auch von
erfahrenen Straßenplanern in Frage gestellt,
verbunden mit Vorschlägen für eine
südlichere Alternativtrasse. Doch SPD und
PDS stellen diesen Autobahnweiterbau
lediglich unter den Vorbehalt einer Finanzierung
durch den Bund - ein erbärmliches
Ergebnis.
Positiv ist, dass wenigstens auf einige
der strittigen Straßenbauprojekte wie die
B 101 in Lankwitz und die Nordtangente
durch Reinickendorf und Pankow verzichtet
werden soll. Geschmälert wird diese
Freude durch die Weiterverfolgung so
fragwürdiger Straßenneubauprojekte wie
der Verlängerung der Französischen Straße
im Zentrum der Stadt. Auch auch bei
den aufgegebenen Straßenbauprojekten
sollte sich niemand zu früh freuen.
Solange die Trassen nicht offensiv verbaut
werden, ist der „Verzicht" nichts
anderes als eine Zurückstellung bis zum
nächsten Senat mit CDU- oder gar FDP-Beteiligung,
der neuen Berliner Autolobbyisten-Partei.
Geradezu erschreckend ist
die „hilfslose" Behandlung des Themas
Wirtschafts- und Güterverkehr. Auch die
üblichen Ausflüchte in kostenträchtige
Verkehrsmanagement- und sonstige Verkehrsregelungszentralen
zeugen nicht
von neuem Denken.
Fazit
Trotz aller Skepsis enthält die rot-rote
Koalitionsvereinbarung aus Fahrgastsicht
doch eine Reihe positiver Ziele. Es bleibt
zu hoffen, dass wenigstens ein Teil davon
in den nächsten fünf Jahren auch in die
Praxis umgesetzt wird, sei es aus Überzeugung
der Koalitionäre, sei es durch
politischen Druck von den Fahrgästen.
Papier ist geduldig - und was wurde nicht
schon alles von Berliner Politikern zum
Thema Verkehr in den letzten Jahren niedergeschrieben
und versprochen - und
später dann vergessen oder bewusst
ignoriert. IGEB
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