Aus dem Bund

Liberalisierung des Nahverkehrs nach wie vor umstritten

Das Europäische Parlament hat am 14. November 2001 in erster Lesung zahlreiche Abänderungen zu den Liberalisierungsvorschlägen der EU-Kommission beschlossen und damit deren Gesetzentwurf in wesentlichen Punkten entscheidend verbessert, erklärte am 10. Dezember in Berlin Prof. Dr.-Ing. Adolf Müller-Hellmann, Hauptgeschäftsführer des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV).

Nach dem Willen des Europäischen Parlaments solle es im Gegensatz zu den Empfehlungen der Kommission unter anderem neben reinem Ausschreibungswettbewerb in größerem Umfang auch wettbewerbliche Verfahren im Wege des Qualitätsvergleichs, längere Vertragslaufzeiten und flexiblere Übergangsfristen geben. Damit habe das Europaparlament wichtigen Anliegen des VDV entsprochen. „In einem zentralen Punkt", so Müller-Hellmann, „haben die europäischen Parlamentarier - einer Forderung der kommunalen Spitzenverbände und auch des VDV entsprechend - dem Subsidiaritätsprinzip des EG-Vertrages Rechnung getragen und zugleich die kommunale Selbstverwaltung in Europa gestärkt: Sie haben nämlich beschlossen, dass der für den Nahverkehr zuständigen Behörde grundsätzlich ein Handlungsspielraum zustehen soll, ob sie den öffentlichen Verkehr in eigener Regie durchführen oder ihn im Wege wettbewerblicher Vergabe durch Dritte erbringen lassen will". Nun komme es darauf an, meinte der VDV-Hauptgeschäftsführer, dass sich auch der Verkehrsministerrat die Beschlüsse des Europäischen Parlaments zu Eigen mache. Das Liberalisierungsgesetz für den Nahverkehr komme nämlich nur zustande, wenn beide Gesetzgebungsorgane - Europäisches Parlament und Verkehrsministerrat - übereinstimmende Regelungen träfen.

Ausdrücklich betonte Müller-Hellmann, dass die in seiner Organisation zusammengeschlossenen Unternehmen wettbewerbliche Strukturen im Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) befürworten. Auch nach Überzeugung des VDV führe ein kontrollierter Wettbewerb um den Markt zu besseren und kostengünstigeren Verkehrsdienstleistungen, denn Konkurrenz - sollte sie auch nur drohen - fordere zu großen Anstrengungen heraus. Ein reiner Ausschreibungswettbewerb, wie ihn die Kommission vorgeschlagen habe, berge jedoch erhebliche Gefahren in sich, was ausländische Erfahrungen belegen würden:

  • Gigantischer Verdrängungswettbewerb zugunsten weniger großer multinationaler Unternehmen,
  • Ausschlaggebendes Zuschlagskriterium der geringste Preis, nicht die beste Qualität,
  • Lohndumping auf dem Rücken der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
  • Hohe Kosten für Ausschreibungsverfahren bei den Behörden, die zusätzliches qualifiziertes Personal benötigen, und bei den Verkehrsunternehmen.

Unter dem Strich

Rechnet man den durch Wettbewerb erzielten geringeren ÖPNV-Zuschussbedarf gegen wirklich alle auch externen Zusatzkosten ehrlich auf praktisch keine Einsparungen öffentlicher Mittel mit dem Ergebnis eines „Behörden-ÖPNV" anstelle von umfassend unternehmerisch agierenden Betreibern.

Das Europäische Parlament habe diese Gefahren erkannt und deshalb insgesamt 96 Abänderungen zu dem Gesetzentwurf der Kommission beschlossen, erläuterte Müller-Hellmann. Dabei habe es auch die bereits erwähnte Option für die so genannte kommunale Eigenproduktion berücksichtigt. Sie solle nur unter folgenden engen Voraussetzungen, die kumulativ gegeben sein müssen, möglich sein:

  1. Das zuständige, demokratisch legitimierte Vertretungsorgan muss eine entsprechende Entscheidung getroffen haben.
  2. Die Verkehrsleistung muss sich ausschließlich auf den Wirkungsbereich der zuständigen Behörde erstrecken.
  3. Der Wert der Beihilfe (die dem vor Wettbewerb geschützten Unternehmen gewährt wird) darf den Wert der Verkehrsleistung nicht übersteigen, das heißt der Ausgleich muss sich an wettbewerbsfähigen Unternehmensstrukturen orientieren.
  4. Die Verkehrsleistung darf einen Einzugsbereich vom maximal 50 Kilometer nicht übersteigen.
  5. Es muss sich bei der Verkehrsleistung um eine Betätigung ohne Gewinnerzielungsabsicht der zuständigen Behörde handeln.
  6. Es darf sich weder die zuständige Behörde noch das eigene Verkehrsunternehmen am Wettbewerb um gewerbliche Verkehrsleistungen anderswo beteiligen.

Müller-Hellmann betonte, dass eine solche Option für die kommunale Eigenprotuktion weder ein ungerechtfertigtes Privileg für die Kommunen darstelle, noch wettbewerbsfähige Strukturen bei den kommunalen Nahverkehrsunternehmen im Falle der Wahrnehmung der Option verhindere: Es entspreche dem Grundsatz der verfassungsrechtlich garantierten kommunalen Selbstverwaltung und dem in Europa geltenden Subsidiaritätsprinzip, wenn der kommunale Aufgabenträger selbst darüber entscheiden dürfe, ob die Daseinsvorsorgeaufgabe Nahverkehr in eigener oder fremder Regie erbracht werde. In Zeiten dramatisch steigender kommunaler Finanznot werde der kommunale Aufgabenträger von der Option der eigenen Leistungserbringung nur dann Gebrauch machen, wenn sie bezahlbar und rechtfertigbar sei.

Beides werde nur dann der Fall sein,

  • wenn das eigene Unternehmen sich hinsichtlich seiner Effizienz annähernd auf Wettbewerbsniveau befinde, hinsichtlich der Qualität und der Erfüllung verkehrspolitischer Zielsetzungen eher besser sei als potentielle Wettbewerber und
  • wenn das öffentliche Image des eigenen Unternehmens und die Kundenzufriedenheit positiv seien.

In der Option, so Müller-Hellmann, liege auch ein Risiko für das Unternehmen, nämlich die Gefahr, bei einer kurzfristigen Änderung der politischen Entscheidung nicht ausreichend auf den dann sofort eintretenden Wettbewerb vorbereitet zu sein. Dieses Risiko könne nur minimiert werden, wenn das Unternehmen „latent wettbewerbsfähig und -bereit" sei und bleibe. Darüber hinaus enthalte auch die mit der Eigenproduktion verbundene Reziprozitätsklausel - das heißt: keine Betätigung außerhalb des Eigenproduktionsbereichs im Wettbewerb - die Gefahr, dass die politische Diskussion um die Aufhebung der Restriktionen der Gemeindeordnungen unberechtigterweise wieder zum Erliegen komme und eventuelle Chancen zur Erzielung von Deckungsbeiträgen in anderen Geschäftsfeldern nicht nutzbar seien.

Müller-Hellmann zog aus allem folgendes Fazit: „Der Beschluss des Europäischen Parlaments zur Option der kommunalen Eigenproduktion ist ein nicht zu unterschätzender Etappensieg für die kommunale Selbstverwaltung in Europa. Es gilt, diesen Meilenstein auch im weiteren Gesetzgebungsverfahren durchzusetzen. Gleichzeitig bedeutet aber der Parlamentsbeschluss auch, dass alle kommunalen Nahverkehrsunternehmen an ihrer Strategie, so schnell wie möglich wettbewerbsfähig zu werden, uneingeschränkt festhalten müssen".

Verband Deutscher Verkehrsunternehmen

aus SIGNAL 1/2002 (Februar/März 2002), Seite 32-33

 

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