Berlin

Von Zinnowitzer Straße lernen, heißt siegen lernen!

Wieder haben zwei Schnellbahnstation ihren Namen gewechselt. Doch während der Lehrter Bahnhof des Profilierungswillens der Bahn AG und manches Provinzpolitikers wegen zum Hauptbahnhof mutierte, verschwindet der Name Seidelstraße aus den Netzspinnen zum Zwecke der Wirtschaftsförderung.

Sieht man von den beiden Diktaturen des 20. Jahrhunderts und der Beseitigung ihrer Hinterlassenschaften ab, sind im Berliner Schnellbahn-Netz wohl noch nie so viele Stationen umbenannt worden wie in den letzten zehn Jahren. Stets wurde dabei als Argument angeführt, den Fahrgästen mit präziseren Namen dienen zu wollen.

So auch diesmal, denn wer würde nicht bei einem Hauptbahnhof einen Halt erwarten, durch den außer der S-Bahn auf Jahre alle Züge ohne Stopp hindurchrauschen, inmitten einer tristen Gegend, wo kaum jemand ein- und aussteigt? Und wie konnten die Berliner nur mehr als 44 Jahre mit einem U-Bahnhof Seidelstraße überstehen, dessen Namensgeber gute zweihundert Meter von der Station entfernt ist? Um so mehr sei die Firma Otis gepriesen, welche als neuer Namenspate die Umbenennung finanzieren will. Darüber hinaus bekommt die BVG zwar wohl kein Geld, aber wie sagte doch der Marketingchef des Aufzugbauers laut Berliner Zeitung: „Die Berliner Politiker haben Möglichkeiten, das Umfeld der Unternehmen so zu gestalten, dass sich die Firmen in Berlin wohl fühlen."

Immer wieder wird beklagt, welche Freiheiten man sich früher bei der Benennung von Stationen nahm. Auch historische Relikte haben sich skandalöserweise in Stadtplänen und Netzspinnen halten können. So heißt der erste Neuköllner Halt bis heute einfach „Neukölln". Die Bahn war wenig zimperlich, und dank ihres Fast-Monopols ersparte sie uns heute übliche Konstruktionen wie „S+U DB mit RB, RE, ICE", sondern nannte ihre Stationen einfach „Bahnhof", woraus sich dann eigenartige Haltestellen-Namen bei der U-Bahn wie „Bahnhof Wedding", „Bahnhof Lichtenberg" und „Bahnhof Friedrichstraße" ableiteten. Sie sind glücklicherweise Vergangenheit. Doch die S-Bahn tendiert noch immer dazu, ihre Funktion als nicht nur lokales, sondern regionales Verkehrsmittel zu betonen, indem sie ihre Stationen vornehmlich nach Orten und Magistralen tauft. Natürlich ist mit dem Wechsel von „Steglitz" zu „Rathaus Steglitz", von „Schmargendorf" zu „Heidelberger Platz", von „Wilmersdorf" zu „Bundesplatz", von „Mariendorf" zu „Attilastraße", von „Wittenau (Kremmener Bahn)" zu „Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik" oder von „Witzleben" zum eingängigen „Messe Nord/ICC" schon einiges getan worden, damit die Bezeichnungen von S-Bahnhöfen klingen wie jene von Straßenbahn-Haltestellen. Doch bis zum umfassenden Sieg jener präzisen „Punktbezeichnungen", die sich manche wünschen, ist es noch ein weiter Weg.

Straßenkreuzung
Statt Turmstraße (weil unpräzise und verwirrend) bald Thusnelda-Allee? Die kürzeste Allee Berlins käme damit zu viel Ehren. Foto: Alexander Frenzel

Zumal auch das, was exakt und punktgenau wirkt, es bisweilen gar nicht ist. Bei „Schlesisches Tor" oder „Kottbusser Tor" handelt es sich nicht um offizielle Platznamen, sondern um Bezeichnungen, die lange nach dem Verschwinden der Namensgeber - von der Hochbahn, wenn nicht geprägt, so doch am Leben erhalten wurden. Wo bitte kann man am gleichnamigen Bahnhof noch ein Gleisdreieck entdecken? Und befindet sich die Stadtmitte wirklich an der so betitelten Station?

So freuen wir uns schon auf „Thusneldaallee" an Stelle des fürchterlich unpräzisen „Turmstraße", statt „Wedding" sollte es künftig „Lindower Straße" heißen und statt nach „Flughafen Schönefeld", pardon: „S Berlin-Schönefeld Flughafen DB", wo der Namensgeber vom Bahnhof mindestens so weit entfernt ist wie im Falle Seidelstraße, geht es künftig ganz präzis nach „Mittelstraße".

Hinfort auch mit „Schloßstraße", zumal der vermeintliche Palast bloß ein popeliges Gutshaus ist und es im übrigen noch einige Namensvettern gibt! Punktige wäre „Joachim-Tiburtius-Brücke". Wie bitte, die kennt doch keiner? Na und, von der Zinnowitzer Straße hatte bis auf die Anwohner ja auch noch niemand gehört, bevor diese plötzlich zu Schnellbahnruhm kam. Und dieses Sträßchen ist wohl für alle Zeiten eine unbedeutende Gasse, ganz im Gegensatz zur stark befahrenen (und unübersehbaren) Tiburtiusbrücke. Woher sollen Auswärtige wissen, was sich in Berlin hinter „Zoo", „Tiergarten" und „Tierpark" genau verbirgt? Was geschieht, wenn Ortsunkundige in der Baumschulenstraße nach dem Bahnhof Baumschulenweg suchen? Mit Karten für die Deutsche Staatsoper zur Deutschen Oper fahren?

Das ist an den Haaren herbeigezogen? Die Umbenennung von „Kottbusser Damm" in „Schönleinstraße" fand allgemeinen Applaus - oft war sie mit dem benachbarten Bahnhof Kottbusser Tor durcheinandergebracht worden! Was natürlich schwerer wiegt als eine Verwechslung zwischen Kottbusser Tor und Cottbusser Platz, welche auch insofern viel unwahrscheinlicher ist, als die meisten Auswärtigen wissen: In Berlin-Kreuzberg schreibt man Cottbus mit „K".

Für so viel Ordnung, die auch haarscharf „Olympiastadion" (bei der S-Bahn) von „Olympia-Stadion" (bei der U-Bahn) unterscheidet, müssen dann auch mal Opfer gebracht werden: So war „Kottbusser Damm" die viel präzisere Bezeichnung gewesen, liegt der Bahnhof doch ziemlich genau in der Mitte dieser Straße und ist für fast alle ihrer Häuser die nächstgelegene Station, wohingegen er sich am Ende des - auch nicht eben kurzen - neuen Namenspaten Schönleinstraße befindet.

Andernorts gilt es hingegen, für die höhere Präzision gewisse Unannehmlichkeiten in Kauf zu nehmen. So verirren sich immer mal wieder Touristen zur Kurfürstenstraße und bekunden nach Verlassen des so betitelten U-Bahnhofs, diesen berühmten Berliner Boulevard hätten sie sich aber anders vorgestellt. Zudem gibt es noch einige weitere Kurfürstenstraßen in Berlin, die mit der U-Bahn liegt zu allem Unglück direkt auf einer früheren wie neuen Bezirksgrenze und in unmittelbarer Nähe befindet sich kein Stummelsträßchen. So wird denn der neue, punktgenaue Name leider lauten müssen: „Kurfürsten-Ecke Potsdamer Straße an der Grenze zwischen Mitte (vormals Tiergarten) und Tempelhof-Schöneberg". Mit Bandwürmern aus jüngerer Zeit wie „Mendelssohn-Bartholdy-Park" oder „Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik" konnten wir uns ja schon etwas einüben.

Ebenso kann es schwer werden, endlich die längst verschwundenen Fernbahnhöfe aus den Fahrplänen und Netzspinnen zu tilgen, welche den Fremden nur verwirren. Klar: Statt „Anhalter Bahnhof" wird es einprägsamer „Askanischer Platz heißen, aber was wird aus „Görlitzer Bahnhof"? Präziser neuer Name: „Skalitzer Straße Ecke Manteuffel-, Wiener und Oranienstraße". Natürlich ginge, viel knapper, auch „Bolle-Ruine", doch das sagt nur alteingesessenen Berlinern etwas, und um auch noch die doofsten Touristen zu bedienen, ist inzwischen ja selbst das Kürzel „Zoo" auf Plänen, an Eingängen und Schildern durch das schnittigere „Zoologischer Garten" ersetzt worden. Wie wäre es vielleicht noch mit einem „Da, wo Tiere sein tun"?

Stadionsschilder
Mit wieviel Konsequenz die nicht treffsicheren Bahnhofsnamen umbenannt werden, zeigt das Bildbeispiel. Foto: Alexander Frenzel

Doch halt, Untertitel sind Jahren verpönt! Jedenfalls, wenn sie der besseren Orientierung dienen und sich dank ihrer tatsächlich so etwas wie eine „Punktbezeichnung" ergibt. Weshalb es nicht mehr „Spichernstraße (Bundesallee)", „Kurfürstendamm (Joachimstaler Straße)" oder „Görlitzer Bahnhof (Oranienstraße) heißt. Anders schaut es aus, wenn Unternehmer mit dem Geldbeutel winken: „Checkpoint Charlie" ist der Untertitel des U-Bahnhofs Kochstraße, seit der Kontrollpunkt nicht mehr existiert, dafür aber eine Investorengruppe, die sich diesen Namen zu eigen gemacht hat und ihn auf den Stationsschildern sehen wollte.

So müssen wir denn auf einen Bahnhof „Kleine Behmstraße" verzichten, wenn die BVG rechtzeitig beim Betreiber des Gesundbrunnen-Centers vorspricht. Obwohl dies der punktgenaueste Name wäre, für die natürlich dringender Umbenennungsbedarf besteht. Man stelle sich vor, jemand sucht Erholung oder will auch nur etwas Gutes trinken und steigt dazu an der Plumpe aus. Doch wer weiß: Im Sinne von „Hauptbahnhof" brüten die Herren Strieder und Mehdorn sicher schon so etwas wie „Nordstern" oder „Weddinger Weltkreuz" aus.

Jan Gympel

aus SIGNAL 1/2003 (Februar/März 2003), Seite 20

 

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