Freie Fahrt durch Europa? Das gilt
bisher leider nur auf der Straße und in der
Luft. Das Eisenbahnnetz in der EU
hingegen gleicht bisher noch immer dem
berühmten Teppich aus mittlerweile
25 Flicken. Die EU-Kommission will nun
den Personenverkehr auf der Schiene
für den europaweiten Wettbewerb öffnen
- und findet dabei die Unterstützung
des Europäischen Parlaments. Das
sogenannte III. Eisenbahnpaket, in
dem die Maßnahmen für ein Aufbrechen
der nationalen Monopole gebündelt sind,
ist auf bestem Wege.
Man stelle sich vor: Ein Lkw, der in Litauen
startet und bis nach Frankreich will, muss
bereits an der Grenze zu Polen seinen ersten
Stopp machen. Grund: Fahrerwechsel,
denn der Führerschein des Truckers gilt nur
im eigenen Land. Dasselbe Spiel würde sich
an der Oder wiederholen - und schließlich
noch einmal am Rhein, weil der deutsche
Fahrer natürlich nicht in Frankreich lenken
darf. Gleiches könnte auch mit dem Fahrzeug
selbst geschehen, falls es auf fremden
Straßen keine Zulassung hat. Ein absurdes
Beispiel? Bezogen auf den europäischen Eisenbahnverkehr
leider nein. Denn hier sind
Landesgrenzen innerhalb der EU noch wahre
Hürden. Was bei den Lokführern anfängt,
setzt sich bei dem Zugang zu den Netzen fort
und findet bei den Fahrgastrechten seinen
traurigen Abschluss: Derzeit gibt es keinen
zufriedenstellenden europäischen Eisenbahnverkehr.
Europäischer Lok-Führerschein
Die EU will diesen Zustand beenden und hat
im vergangenen Jahr das III. Eisenbahnpaket
vorlegt, das nach den Vorarbeiten der ersten
beiden Pakete den kontrollierten Wettbewerb
auf Europas Schienen mit eröffnen
soll. Vier Maßnahmen stehen dabei im Mittelpunkt:
- der europäische Lokomotivführerschein,
- die Rechte der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr,
- die Fahrgastbeförderung im Personenverkehr,
- die Qualitätsanforderungen für den Güterverkehr.
Der Verkehrsauschuss im Europäischen Parlament
hat die Vorlage der Kommission als
Paket begrüßt und wichtige zusätzliche Erfolge
erzielt. Im April hat der Ausschuss seine
Stellungnahme abgeben, eine Zustimmung
des gesamten Europäischen Parlaments im
Herbst gilt als sicher. Damit sind die Weichen
gestellt für eine europäische Bahnpolitik im
Interesse der Fahrgäste.
Der europäische Lok-Führerschein wurde
mit großer Mehrheit beschlossen. Damit
wird der Fahrerwechsel an der Grenze
zwischen den Mitgliedsstaaten überflüssig.
Der Richtlinie über die Harmonisierung und
Zertifizierung von Triebwagenführern liegen
bilaterale Abkommen zwischen den Sozialpartnern
ETF (Europäische Transportarbeiter-Föderation)
und CER (Gemeinschaft der
Europäischen Bahnen und Infrastrukturgesellschaften)
zugrunde.
Die Fahrgastrechte sollen gestärkt werden.
Der verabschiedete umfassende Katalog
orientiert sich am Flugverkehr, um
Wettbewerbsnachteile für die Bahn zu vermeiden.
Unter anderem sollen einklagbare
Entschädigungen im Falle von Verspätungen
im Eisenbahn-Personenverkehr aller EU-Mitgliedsstaaten
ermöglicht werden. Der von
uns zwischen den Fraktionen initiierte Kompromiss
sieht ab einer Stunde Verspätung
eine Erstattung von 25 Prozent des Fahrpreises
vor, ab zwei Stunden 50 Prozent und ab
drei Stunden 75 Prozent.
Generelle Fahrradmitnahme
Der Ausschuss will, dass in allen Zügen-also
auch in denen des Eisenbahn-Fernverkehrs
- die Fahrrad-Mitnahme ermöglicht wird.
Zudem werden die Eisenbahngesellschaften
verpflichtet, umfassende Informationen und
den Kauf europaweiter Tickets zu garantieren.
Der Zugang für mobilitätsbehinderte
Fahrgäste muss sichergestellt sein.
Die Öffnung der nationalen Eisenbahnnetze
soll auch im Personenfernverkehr
stattfinden. Was im Güterverkehr ab 2007
die Regel ist, soll - so der Ausschuss - im
grenzüberschreitenden Personenfernverkehr
ab 2008, für den restlichen Personenfernverkehr
ab 2012 gelten. Das ist der wichtige
Anfang einer europäischen Bahnpolitik, in
der die Vorteile der weiten Strecken genutzt
werden können. Auch nach der Öffnung der
Netze und der Einführung des kontrollierten
Wettbewerbs sind in der EU 25 Eisenbahngesellschaften
vorstellbar. Ihr Einsatz wird in
Zukunft jedoch nicht mehr auf die nationalen
Netze beschränkt sein.
Einer Entschädigungsregelung im Frachtverkehr,
dem vierten Vorschlag der Kommission,
haben die Verkehrspolitiker allerdings
eine Absage erteilt. Nicht nur die Grünen,
auch die Mehrheit im Ausschuss, waren der
Ansicht, dass die Entwicklung des Güterverkehrs,
für den ab 2007 alle Netze innerhalb
der EU geöffnet sind, abgewartet werden
sollte, bevor staatliche Rahmenbedingungen
geschaffen werden. Gegenwärtig werden
Entschädigungsvereinbarungen im Güterverkehr
laut Eisenbahn-Unternehmen zu 90
Prozent bilateral abgeschlossen. Was ohne
Regelung funktioniert, sollte auch nicht geregelt
werden.
Vermeidung von Sozialdumping
Die Öffnung der Netze und die Einführung
des kontrollierten Wettbewerbs dürfen aber
nicht das Einfallstor für Sozialdumping sein.
Auf Antrag der Grünen wurde vereinbart,
dass die Kommission bis Ende 2005 einen
Rechenschaftsbericht über die bisherigen
Erfahrungen mit dem ersten und zweiten Eisenbahnpaket
hinsichtlich der sozialen und
ökologischen Standards wie auch über die
Entwicklung der Passagier- und Tonnagezahlen
vorlegen muss. Damit der Rat das Paket
nicht einseitig aufschnüren kann, um sich
dann „seine" Rosinen herauszupicken, wird
das Parlament über die legislative Verbindlichkeit
erst nach diesem Erfahrungsbericht
entscheiden.
Nach dem Beschluss durch das Europaparlament
werden die Verkehrsminister der
Mitgliedsstaaten im Rat über das Paket entscheiden.
Dass dies unter britischer Präsidentschaftgeschieht,
macht eine Forderung
der Grünen noch aktueller. Wettbewerb
soll es nach unserer Vorstellung nur auf der
Schiene geben. Die Netze, die Infrastruktur
muss in öffentlicher Hand und unter öffentlicher
Aufsicht bleiben. Das britische Beispiel
- und auch das estnische - haben gezeigt,
dass eine Privatisierung der Infrastruktur unbedingt
verhindert werden muss. Der Weg,
den die Mitglieder im Verkehrsausschuss
einschlagen wollen, bietet hingegen den
richtigen Mix: Aufbrechen nationaler Monopole
bei gleichzeitig hohen Qualitätsstandards
für Beschäftigte und Fahrgäste.
Michael Cramer, MdEP,
Verkehrspolitischer Sprecher der Fraktion Grüne/EFA im Europäischen Parlament
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