Wenn ein Zug heute über nationale Grenzen
in der EU hinaus will, muss entweder die Lok
gewechselt werden - oder eine Menge Technik
in ihm stecken. Der Thalys zum Beispiel
braucht sieben Systeme, um zwischen Paris,
Brüssel, Amsterdam und Köln fahren zu können.
Solche Mehrsystemlokomotiven sind
nicht nur ein teurer Spaß. Sie erschweren
auch die Arbeit der Lokführer - und stellen
so eine mögliche Gefahrenquelle dar. Kurzum:
Die gegenwärtige Existenz von mehrals
20 unterschiedlichen Signalgebungs- und
Geschwindigkeitsüberwachungssystemen
in der EU ist angesichts eines gemeinsamen
Binnenmarktes mit wachsenden Verkehrströmen
alles andere als zeitgemäß.
Aus über 20 mach eins - das ist der anspruchsvolle
und auf 20 Jahre angelegte
Plan für die Entwicklung eines einheitlichen
European Rail Traffic Management Systems,
kurz: ERTMS. Dahinter steckt eine Technik,
die den herkömmlichen Systemen überlegen
ist: Signalmasten werden nicht mehr
benötigt und wegen der Kontrolle der zulässigen
Geschwindigkeit wird eine höhere
Sicherheit erreicht.
Wie funktioniert ERTMS?
ERTMS besteht aus zwei Basiskomponenten:
Die Geschwindigkeit überwacht das European
Train Control System (ETCS). Die Informationen
zwischen Strecke und Fahrzeug
werden über das Global System for Mobile
Communication - Rail (GSM-R) übertragen.
Bei ETCS vergleicht ein Rechner an Bord
der Lokomotive (onboard unit) die Geschwindigkeit
des Zuges mit der zulässigen
Höchstgeschwindigkeit. Bei Überschreitung
bremst der Zug automatisch ab. Wenn die
Freigabe der Streckenabschnitte weiterhin
durch ortsfeste Signale erfolgt, die zulässige
Höchstgeschwindigkeit aber durch entlang
der Strecke installierte Standardbaiisen (Eurobalisen)
übertragen wird, spricht man von
der Anwendungsstufe Level 1.
Erfolgt der Informationsaustausch (Sprache
und Datei) zwischen Strecke und Fahrzeug
aber per Funk, spricht man von Level 2.
Dafür wurde (GSM-R) ausgewählt. Es basiert
auf dem Mobilfunkstandard und nutzt spezielle
Frequenzen, die nur dem Schienenverkehr
vorbehalten sind. Die Streckensignale
sind dann nicht mehr notwendig, wodurch
erhebliche Investitionen und Instandhaltungskosten
eingespart werden.
In der Endstufe von Level 3 kann ERTMS
die Kapazität der Strecke deutlich erhöhen,
weil nicht mehr in festem, sondern in variablem
Blockabstand (moving block) gefahren
wird. Dann können Engpässe in den Knoten
und Flaschenhälsen beseitigt werden, ohne
dass kostenaufwändige Neubauten erforderlich
sind.
Eine durchgehende Traktion ohne zeitaufwändigen
Lok- und Lokführerwechsel
an der Grenze senkt die Kosten und die
Transportdauer, womit die Verlagerung
der Transportströme von der Straße auf die
Schiene gelingen kann. Wenn es dann keine
deutschen, französischen oder belgischen,
sondern nur noch europäische Lokomotiven
gibt, werden wegen der höheren Stückzahlen
die Produktionskosten geringer sein.
Vorbild Schweiz
Kein Wunder, dass sich die Schweiz entschieden
hat, das gesamte Schienennetz flächendeckend
mit ERTMS auszustatten. Auch auf
vielen Hochgeschwindigkeitsstrecken in der
EU ist es bereits installiert, wie z.B. Rom—Neapel,
Wien—Budapest, Jüterbog—Leipzig
oder Madrid—Llerida.
Obwohl ERTMS ausgereift und getestet ist,
führt die Lebensdauer der gegenwärtigen
Systeme - in der Regel über 20 Jahre - zu
einem langjährigen Nebeneinander von
ERTMS und konventionellem System. Für die
notwendige Planungssicherheit braucht der
Eisenbahnsektor deshalb eine klare und koordinierte
Übergangsplanung. Um diese Phase
zu verkürzen, muss die Europäische Kommission
einen ERTMS-Masterplan vorlegen.
Mit dem einheitlichen Zugsicherungssystem
wird der Vorteil langer Strecken
auch in Europa wirksam. In der EU werden
gerade mal 16 % der Güter auf der Schiene
transportiert, während es im Highway-Land
USA etwa 40 % sind. Den Anteil wesentlich
zu steigern, ist im heutigen technischen und
politischen Flickenteppich schwer möglich.
Deshalb lohnt es sich, in ERTMS mit Vorrang
zu investieren.
Sechs Korridore für ERTMS ausgewählt
Prioritäten müssen gesetzt werden. Angesichts
knapper öffentlicher Kassen ist es
sehr zu begrüßen, dass sich die EU und die
nationalen Eisenbahnen auf zunächst sechs
Güterverkehrs-Korridore verständigt haben,
die mit ERTMS ausgestattet werden sollen:
A: Rotterdam—Genua
B: Neapel—Berlin—Stockholm
C: Antwerpen—Basel/Lyon
D: Sevilla—Lyon—Turin—Triest—Ljubljana
E: Dresden—Prag—Brno—Wien—Budapest
F: Duisburg—Berlin—Warschau
Sie stehen beispielhaft auch für die Wiedervereinigung
Europas.
Bei der Implementierung von ERTMS in
diesen sechs Korridoren werden nationale
Egoismen überwunden, weil es bei der Realisierung
dieser Pilotprojekte keinen Streit
um die gleichmäßige Aufteilung der Finanzmittel
auf die beteiligten Länder gibt. Man
denkt und handelt europäisch wie viele
Kilometer sich in welchem EU-Staat gerade
befinden, ist unerheblich, nur das Gesamtergebnis
zählt.
Natürlich unterscheiden sich die Mitgliedsländer
bzw. die Eisenbahnunternehmen bezüglich
des jeweiligen Investitionsbedarfs,
ihrer nationalen Zugsicherungs- und Signalsysteme
und der Marktphase, in der sie sich
befinden. Solche Unterschiede sind aber in
der EU unvermeidlich und stellen kein Argument
gegen ERTMS dar.
Angesichts der europäischen Dimension
bei der Einführung von ERTMS sind EU-Fördermittel
gerechtfertigt und auch erforderlich.
Mitgliedstaaten, EU, Eisenbahnunternehmen
und Bahnindustrie müssen im Konsens
handeln und die Kosten fair aufteilen. Deshalb
ist es zu begrüßen, dass die Europäische
Kommission mit dem früheren belgischen
Bahnchef Karel Vinck einen Koordinator für
dieses Großprojekt benannt hat.
Um für kleine und mittlere Unternehmen
die hohen Anfangskosten zu senken und
den Marktzutritt zu erleichtern, sollte die
Europäische Kommission verstärkt über
Fördermöglichkeiten von Leasingmodellen
bezüglich des rollenden Materials nachdenken.
ERTMS kann Weltstandard werden
ERTMS bietet nicht nur Chancen für das
zusammenwachsende Europa. Es ist von
grundlegender Bedeutung auch für die
mittel- bis langfristige Entwicklung der
Eisenbahnindustrie und ihrer 15 000 hoch
qualifizierten Arbeitsplätze. Schon heute ist
es ein Exportschlager par exellence: Viele
-auch außereuropäische - Eisenbahnunternehmen
haben sich entschieden, ihre veralteten
Systeme durch ERTMS zu ersetzen.
Gegenwärtige Lokbestellungen aus Korea,
Taiwan, Indien, Saudi-Arabien und aus China
sowie Infrastrukturprojekte in diesen Ländern
zeigen klar das Marktpotential. ERTMS
kann zum Weltstandard werden, wenn es
auf einer starken Marktbasis in Europa aufbauen
kann.
Die Europäische Union braucht ein einheitliches
Eisenbahnnetz für den Transport
sowohl von Gütern als auch von Personen,
von Lissabon nach Tallinn, von Paris nach
Warschau und von London nach Athen. Mit
ERTMS wird sie diesem Ziel einen großen
Schritt näher kommen.
Beschlossen
Am 2. Mai hat der Verkehrsausschuss des
Europäischen Parlaments meinen „Bericht
über die Einführung des Europäischen
ZugsicherungsVZugsteuerungs- und Signalgebungssystems
ERTMS/ETCS" ohne
Gegenstimmen und Enthaltungen einstimmig
angenommen. Bei der Abstimmung im
Ausschuss entschied sich die Mehrheit u.a.
für folgende Anträge:
- Eine finanzielle Unterstützung durch die
EU wird in Zukunft bei der Schieneninfrastruktur
nur noch dann gewährt, wenn
ERTMS installiert wird.
- Die sechs Korridore für den Güterverkehr
in Europa (siehe oben), auf die sich die
europäischen Eisenbahnunternehmen in
ihrem Memorandum of Understanding
mit der EU-Kommission verständigt haben,
wurden nun auch vom Verkehrsausschuss
des Parlaments unterstützt, wobei
ebenfalls die Ost-West-Verbindungen mit
den neuen Mitgliedsstaaten berücksichtigt
werden.
- ERTMS kann grundsätzlich „zumindest in
grenzüberschreitenden Gebieten" bis zu
50 % von der EU gefördert werden.
Mitte Juni wird dann über den im Ausschuss
angenommenen Bericht im Plenum des Parlaments
abgestimmt werden.
Michael Cramer, MdEP
Verkehrspolitischer Sprecher der Fraktion Grüne/EFA im Europäischen Parlament
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