Was ist „höhere Gewalt“
und wo sind da die Grenzen?
Ist der umgewehte
morsche Baum auf den
Gleisen höhere Gewalt
oder doch Bahnverschulden, weil man ihn
nicht rechtzeitig fällte? Ist ein Streik eine unabwendbare
Verkehrsbeeinflussung, oder
trifft das Eisenbahnverkehrsunternehmen
nicht vielleicht auch eine Mitschuld, weil
es zu knauserig bei den Löhnen gewesen
ist? All die Fragen stellen sich künftig nicht
mehr, wenn es bei den Fahrgastrechten um
die Entschädigungen geht.
Die Ausgangslage
Bisher hatten die Eisenbahnunternehmen
die Möglichkeit, Forderungen von Bahnkunden
auf Entschädigungsleistungen für
Verspätungen abzulehnen, wenn die Ursache
der Verspätung ein Fremdeinfluss war,
der unabwendbar schien – beispielsweise
Streiks oder vereiste Oberleitungen.
Die staatliche österreichische Schlichtungsstelle
„Schienen-Control“ war Vorreiterin,
dieses „Schlupfloch“ zu schließen, und
hatte im Dezember 2010 in einem Bescheid
die ÖBB aufgefordert, trotz sogenannter
höherer Gewalt Entschädigungsleistungen
zu zahlen. Ferner sollte die ÖBB die Klausel
des Erstattungsausschlusses aus ihren
Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB)
streichen. Dagegen klagte die ÖBB vor dem
Verwaltungsgerichtshof, der wiederum den
Sachverhalt zum Zwecke einer Grundsatzklärung
an den Europäischen Gerichtshof
(EuGH) weiterreichte.
Das Urteil
Der EuGH folgte den Argumenten der Beklagten
und befand die Einschränkung der
Fahrgastrechte für unrechtmäßig. Die Entschädigung
soll schließlich „den Preis kompensieren,
den der Fahrgast als Gegenleistung
für eine nicht im Einklang mit dem Beförderungsvertrag
erbrachte Dienstleistung
gezahlt hat“, heißt es im Urteil. Die Ursache
ist ja auch nicht dem Fahrgast zuzurechnen.
Hoffnungen der Flug- und Busfahrgäste sowie
Schiffspassagiere, dieses Urteil auf die
Fahrgastrechteregelungen der anderen Verkehrsträger
anwenden zu können, zerstreute
der EuGH bedauerlicherweise, da diese
angeblich nicht miteinander vergleichbar
seien.
Die Folgen
Die ÖBB hat das Urteil akzeptiert, zahlt sie doch
ohnehin seit Ende 2010 auch im Falle von höherer
Gewalt die Entschädigungen uneingeschränkt.
Die Deutsche Bahn hat auf das Urteil
des EuGH prompt reagiert und bereits am Folgetag
entsprechende Weisung an ihre Stellen
gegeben, künftig den Verspätungsgrund nicht
mehr zu prüfen und nicht mehr höhere Gewalt
als Ablehnungsgrund anzuführen.
Der Berliner Fahrgastverband IGEB begrüßt
die höchstrichterliche Abschaffung der
„Höhere-Gewalt-Ausnahme“ bei den Fahrgastrechten,
da es nun keinen Streit mehr geben
kann, in welchen Fällen diese Regelung zu
Recht oder falsch angewendet wird. Zugleich
erfolgt damit eine Angleichung an andere
Dienstleistungen, die der Kunde auch nicht
oder nicht vollständig bezahlen muss, wenn
sie gar nicht oder mangelhaft erbracht wurden.
Deshalb fordert der Berliner Fahrgastverband
IGEB, dass konsequenterweise auch die anderen
Verkehrsträger in gleicher Weise entschädigen
müssen, um eine Benachteiligung des
Verkehrsträgers Schiene sowie eine Ungleichbehandlung
der Fahrgäste der anderen Verkehrsmittel
zu vermeiden. (BfVSt) Berliner Fahrgastverband IGEB
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