Die auch in Berlin eingesetzten Tatra-Fahrzeuge vom Typ KT4D, die durch
Modernisierung noch mindestens 16 Jahre Einsatz vor sich haben, können
durch Einfügen eines niederflurigen Mittelteils den künftigen Anforderungen
hinsichtlich der Einstiegsmöglichkeiten für mobilitätsbehinderte Menschen
gerecht werden. Zu bedenken hierbei ist. daß infolge der Öffnung der
Nahverkehrsmärkte auch Verdrängungsversuche von Busanbietern eintreten
könnten. Und beim Bus wurde bereits konsequenter auf die in breiten Kreisen
positiv aufgenommene Niederflurtechnik umgestellt. Daraus können für
Straßenbahnbetriebe, die in der nächsten Zeit ihren Wagenpark nicht völlig
erneuern, ernsthafte Gefahren entstehen, sofern nur nach dem billigsten
Anbieter geschaut wird. Und dieser Trend wird nicht auszuschließen sein.
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Foto: Marc Heller |
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Durch Einfügen des Mittelteiles werden die Tatra-Straßenbahnen zu Niederflurfahrzeugen. Sollte sich der am 29. Januar in Cottbus vorgestellte Prototyp im Fahrgastverkehr bewähren, dann muß dieser verkehrlich und ökonomisch sinnvollen Lösung auch in Berlin eine Chance gegeben werden. Zeichnung: Cottbusverkehr GmbH |
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Die Cottbuser Straßenbahn reagierte auf diese Entwicklung, indem sie sich
entschloß, die vom Mittenwalder Gerätebau erstmals ins Spiel gebrachte
Variante eines KT4D-Mittelteils aufzugreifen. Das für das Mittelteil
anfänglich verfolgte Konzept eines Stahlwagenkastens mit zwei Türen wurde
fallengelassen. Stattdessen entschied man sich zugunsten einer völlig neuen
Idee der Schweizer Schindler Waggon AG. Der in Wickeltechnologie in einem
Stück hergestellte Kasten aus Faserverbund-Werkstoffen bewirkt eine erhebliche
Gewichtseinsparung. So stieg die Leermasse des schmalspurigen KT4D von 22,3
Tonnen (nach Modernisierung und Umbau auf Choppersteuerung) auf 29,8 Tonnen
mit Niederflurmittelteil - also ein Zuwachs von lediglich 7,5 Tonnen bei
50 %iger Kapazitätssteigerung. Zum Vergleich: ein Beiwagen B6A2, wie er in
Berlin von einem in gleicher Weise motorisierten Triebwagen gezogen
wird, wiegt leer 14,7 Tonnen.
Weitere Vorteile dieser Technologie (lt. Werksangaben): leichter zu
bearbeiten, längere Lebensdauer (keine Korrosion), bessere Wärmedämmung, der
Herstellungs- und Komplettierungsaufwand ist niedriger und das Material ist
vollständig recycelbar. Die Kosten für das Niederflur-Mittelteil werden
einschließlich Einbau mit 520.000 DM angegeben.
Besonders stolz ist man darauf, daß Entwicklung, Fertigung und Erprobung
der jetzt vorliegenden Lösung insgesamt nur sieben Monate in Anspruch nahmen.
Normalerweise dauert so etwas Jahre. Schon das ist die beste Empfehlung der
beteiligten Unternehmen für weitere Projekte dieser Art.
Der als KTNF6 betitelte Wagen bietet 52 Sitz- und 93 Stehplätze (gerechnet
mit 4 Personen je Quadratmeter). Damit ist eine Zwischengröße entstanden zu
dem bisherigen Traktions- oder Solobetrieb. Das Mittelteil ist auf zwei
gekröpfte, radial anlenkbare Losradachsen von FIAT-SIG aufgesetzt, die von
den Endwagen angesteuert werden. Die bisherigen Lenkzugstangen von den
Drehgestellen zur Wagenmitte konnten entfallen.
Neuerdings kursierenden Gerüchten zum Trotz: hinsichtlich Anfahrverhalten,
Bremsverzögerung und Bremswegen erfüllt der Wagen alle Erwartungen und
natürlich auch alle Vorschriften. Die Abnahmebescheinigung der Technischen
Aufsichtsbehörde ist für den Übergabetag erteilt worden. Die maximale
Anfahrbeschleunigung wird mit 1,0 m/s2 angegeben. Angesichts der maximal
1,3 m/s2 des "Original"-KT4D erscheind das zwar wenig. Jedoch ist der
letztgenannte Wert mehr theoretischer Natur, da diese Beschleunigung für
stehende Fahrgäste kaum noch zumutbar ist und die Praxis eher bei dem ersten
Wert liegt.
Einem kleinen Problem sollte man vielleicht noch Aufmerksamkeit widmen: Die
Griffe der Lüftungsklappen im Niederflurteil sind nun nur noch für größere
Menschen zugänglich. Seitlich angebrachte und etwas herabreichende Griffe
könnten hier Abhilfe bringen.
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Der großzügig wirkende Innenraum des Niederflurmittelteiles bietet über den Radkästen Eineinhalb-Sitzplätze, die ein attraktives Angebot z.B. für Eltern-Kind-Fahrten oder für zwei Schüler sind. Weil es diese Sitze nicht "von der Stange" gibt, hat die BVG bisher leider darauf verzichtet und damit Sitzplatzkapazität verschenkt. Foto: Mittenwalder Gerätebau |
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Für die Benutzung des Niederflurmittelteiles durch Rollstuhlfahrer kann eine unter der Tür angebrachte Rampe ausgefahren werden. Foto: Marc Heller |
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Das Mittelteil ist mit einer auf Straßenniveau ausfahrbaren Rollstuhlrampe
ausgestattet, bei Bahnsteigen ist die Zufahrt ohne dieses Hilfsmittel
möglich. Die Einstiegshöhe wird mit 300 Millimeter über Schienenoberkante
angegeben. Der Niveauunterschied zu den Endwagen ist im Wageninnern über drei
Stufen zu überwinden. Daß der Niederflureinstieg nicht "nur" für
Rollstuhlfahrer interessant ist, dürfte jedem einleuchten, der täglich
Gelegenheit hat, zu beobachten, wie sich ältere Menschen oder Fahrgäste
Kinderwagen abmühen, die leider recht hohen Stufen der Tatras zu erklimmen.
Man sollte nicht so zynisch sein und diese Fahrgäste in Berlin auf die
"hundertprozentigen" Neubaufahrzeuge vertrösten, die auf dem Großteil des
Berliner Netzes erst in einigen Jahren zu sehen sein werden.
In Cottbus werden 26 modernisierte Wagen nachgerüstet. Damit kann innerhalb
eines überschaubar kurzen Zeitraumes im gesamten Netz Niederflurtechnologie
angeboten und auch die qualitative Wettbewerbsfähigkeit gegenüber anderen
Angeboten gewahrt werden.
Die Übergabe in Cottbus im Beisein des Oberbürgermeisters, Vertretern des
Landes und von ernsthaft interessierten Verkehrsbetrieben erfreute sich
großer öffentlicher Aufmerksamkeit. Diese Aufmerksamkeit ist mehr als
gerechtfertigt, da hier eine intelligente und bescheidene Lösung angeboten
wird, mit der bei vertretbarer finanzieller Belastung ein spürbarer
Qualitätssprung möglich ist. Auch für Berlin muß diese neue Lösung als eine
die Tatra-Modernisierung ergänzende Maßnahme endlich auf der Tagesordnung
stehen. Die Neubeschaffung von Niederflurzügen ist unausweichlich. Das
bestreitet niemand. Es ist aber in den verbleibenden 16 bis 20 (!) Jahren
des weiteren Einsatzes von Tatra-Wagen auch für die Nutzer der von diesen
Wagen bedienten Linien Erleichterungen hinsichtlich der Einstiegsverhältnisse
geben. Ansonst wird die Akzeptanz der Straßenbahn in den entsprechend
vernachlässigten Netzteilen sinken. Die Ablehnung des Verkehrsmittels
Straßenbahn in Stadtteilen, die noch durch ältere Fahrzeuge (Rekowagen)
bedient wurden und teilweise noch werden, belegt die Binsenweisheit, daß auf
aktuelle Kundenforderungen und gestiegene Ansprüche möglichst kurzfristig
reagiert werden muß.
IGEB
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