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Inzwischen ist fast alles gesagt, was es zu dem Thema zu sagen gab,
das Für und Wider hinsichtlich des Tunnels wie der damit verbundenen
Gesamtkonzeption des zukünftigen Berliner Fern- und Regionalverkehrs
(„Achsenkreuz“, „Pilz“ oder „Ring“?) ist ausgetauscht, gegen die
Planfeststellung angerannt und geklagt worden. Die Bauarbeiten bzw. die
letzten Vorbereitungen dazu haben Anfang 1996 begonnen. Das vielleicht
einzig Unstrittige an dem Tunnel dürfte sein, daß mit ihm ein Traum
verwirklicht wird, den Stadt- wie Verkehrsplaner und auch manch einfacher
Eisenbahnfan seit rund hundert Jahren hegen: eine nord-südliche Durchquerung
der Berliner Innenstadt, als Pendant zur ost-westlich verlaufenden Stadtbahn.
Zahllose Pläne dazu wurden in der ersten Hälfte des Jahrhunderts entworfen,
deren Verwirklichung vor allem an drei, als unbefriedigend gelöst erachteten
Problemen scheiterte: Die Verbindung konnte ohne maßlosen technischen Aufwand
nur oberirdisch hergestellt werden (schon der Bau des engen, mit teilweise
haarsträubenden Steigerungen und Kurven behafteten Nord-Süd-S-Bahntunnel in den
dreißiger Jahren, quer durch die damals dichtest bebaute Innenstadt, war
eine technische Meisterleistung); zwar bestanden nur relativ wenige Bedenken,
den Tiergarten mit einer weiteren Verkehrstrasse zu zerschneiden. Doch dem
Platz der Republik, für den schon in den zwanziger Jahren Pläne für einen
Ausbau zum repräsentativen Forum von Reichsregierung und Reichstag existierten,
wollte man dies Schicksal ersparen. Auch stand das nördlich angrenzende
vornehme Alsenviertel einer Viaduktbahn im Wege, und schließlich hätte die
Kreuzung mit der Stadtbahn einen größeren neuen Bahnhof erfordert, der zu
einer starken Veränderung des Stadtbilds geführt hätte; von den Folgen für
die umliegenden Viertel, die diese Entstehung eines Quasi- Zentralbahnhofs
an Stelle des zu den unbedeutenderen Berliner Kopfstationen zählenden Lehrter
Bahnhofs ganz zu schweigen. Der absonderlichste Vorschlag, der angesichts
dieser Probleme gemacht wurde, war wohl jener in den zwanziger Jahren
vorgebrachte, den kaum mehr befahrenen Landwehrkanal zum Eisenbahntunnel
umzufunktionieren: Görlitzer, Anhalter und Potsdamer Bahn sollten in dieses
viergleisige Bauwerk dort eingeführt werden, wo sie den Kanal berühr(t)en,
nördlich der Lichtensteinbrücke wäre die Anbindung an die Stadtbahn erfolgt,
von der es dann nur noch einen Abzweig zur Lehrter Bahn hätte geben müssen.
Kremmener, Nord- und Stettiner Bahn hätte man über den Nordring angebunden.
Auch dieses Konzept hätte freilich den damaligen Nachteil aller Tunnelstrecken
nicht gelöst: Der noch allgegenwärtige Dampfbetrieb hätte einen zweimaligen
Lokwechsel erfordert, um die Züge auf dem relativ kurzen Tunnelabschnitt
elektrisch fortzubewegen.
Inzwischen haben die Zeitläufe die meisten damaligen Probleme gelöst:
Elektrischer Antrieb ist auf den Hauptrelationen des Fernverkehrs die Regel,
das Alsenviertel haben die Nazis für ihre monströsen Umgestaltungspläne
Berlins beseitigt, der Bau eines Nord-Süd-Tunnels ist ohne allzu große
technische Probleme machbar, und vor der Errichtung eines riesigen neuen
Zentralbahnhofs schreckt man in dieser durch Krieg. Teilung und
Flächenvorhaltung für den Fall der Wiedervereinigung weitgehend
brachliegenden Gegend nicht mehr zurück.
Doch auch die Bedeutung der Bahn hat sich auf geradezu dramatische Weise
gewandelt. Vor fünfzig, sechzig Jahren noch fast alleiniger Träger des
Personenverkehrs, zumal über größere Distanzen, kann sie sich heute
bestensfalls mühsam gegen die Konkurrenz von Flugzeug und Auto behaupten.
Auch um dies, nicht zuletzt der Umwelt zuliebe, wieder zu ändern wird der
Tiergartentunnel mit dem neuen Lehrter Bahnhof gebraucht, sagen dessen
Befürworter. Doch die Bahn, für und durch die diese Bauten errichtet werden,
scheint nur noch wenig Selbstbewußtsein zu besitzen, allen gegenteiligen
Bekundungen zum Trotz. Warum sonst will sie in den Stationen nur noch eine
Nebenrolle spielen? Allenthalben giert unsere übersättigte und vom langen
Leben in Frieden, Wohlstand und Sicherheit gelangweilte Gesellschaft nach
inszenierten, künstlich erzeugten „Erlebnissen“, von „Erlebnisreisen” über
„Erlebnisshopping“ bis hin zu „Erlebnisgastronomie“. Die Eisenbahn des 19.
Jahrhunderts bot weitestgehend unwillkürliche Inszenierungen ihrer selbst:
Natürlich spielte bei Bauten wie dem Anhalter oder dem Lehrter Bahnhof auch
das Repräsentationsbedürfnis der Betreibergesellschaften eine Rolle; doch
die Ausbildung als Kopfbahnhof, die Höhe der Bahnsteighallen (und damit
auch der äußeren, zur Stadt hin gerichteten Gebäudeansicht) hatten damit
gar nichts zu tun, und der architektonische Stilmischmasch und Mummenschanz,
die geradezu pathologische Sucht, das gesamte Gebäude mit Schmuck zu
behängen, erstreckte sich damals auf praktisch jeden, noch so profanen
Bau, bis hin zur Fabrikhalle und zur Mietskaserne.
Nun besitzt Berlin auf Grund eigener Dummheit bekanntlich keinen
einzigen dieser Kopfbahnhöfe mehr, wenn man einmal vom früh außer Dienst
gestellten Hamburger Bahnhof und dem längst bis zur Unkenntlichkeit
veränderten früheren Schlesischen Bahnhof absieht.
Doch selbst wenn Anhalter oder Stettiner Bahnhof wiederaufgebaut worden
wären - was würde die Deutsche Bahn AG aus ihnen machen? Nachdem man im
Bahnhof Zoo unter Mißachtung nahezu aller baudenkmalpflegerischen Aspekte
ein Shopping Center eingebaut hat, in dem nebenbei auch noch Fahrkarten
verkauft werden und Züge halten, soll das gleiche demnächst mit den Stationen
Alexanderplatz und Friedrichstraße geschehen. Bald sehen die Berliner
Bahnhöfe dann aus wie der Kölner, der Leipziger oder der Hamburger
Hauptbahnhof. Derweil überall Individualität gefragt ist, man jener
weltumspannenden ästhetischen Monotonie und Gleichförmigkeit zu entfliehen
versucht, die in einer Zeit weltumspannender Kommunikation, kommerzieller
Beziehungen und daraus erwachsender kultureller Angleichung logisch, aber
dennoch wenig attraktiv ist, setzt die ehemalige Behörde Bahn auf Vermassung
und Gesichtslosigkeit. Der „'Bahnhof der Zukunft' - ein multifunktionaler
Raum mit Verkehrsflächen. Büros und Gastronomie“, als den eine Broschüre den
neuen Lehrter Bahnhof anpreist, droht ein plumper Glaskasten ohne eine innere
Gliederung zu werden, die den Raum und das unterschiedliche Geschehen darin
wirklich erlebbar machen würde; alles ist hier irgendwie neben- und
übereinandergepackt: Rolltreppen, Perrons, Läden - man dürfte letztlich nicht
so genau wissen, ob der Zug nun gerade in der Frankfurter Zeil-Galerie, dem
Forum Steglitz oder dem Berliner Zentralbahnhof hält.
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„Man dürfte letztlich nicht so genau wissen, ob der Zug nun gerade in der Frankfurter Zeil-Galerie, dem Forum Steglitz oder dem Berliner Zentralbahnhof hält.” - Oder im neuen Untergrundbahnhof Potsdamer Platz? Ausstellungsfoto, „Infobox” Potsdamer Platz, 1996 |
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In einer Zeit, da in gesichtslose Warenhausschachteln wieder Lichthöfe
hineingehrochen, Luft und Leere geschaffen werden; da allein aus
Repräsentationsgründen Hochhäuser mit möglichst großen Eingangshallen als
Hauptsitze von Konzernen wieder eine Konjunktur erleben (ein eklatantes
Beispiel dafür ist die neue Zentrale der Dresdner Bank in Frankfurt am
Main) - verfällt die Bahn auf die Idee, in Leipzig den größten Kopfbahnhof
Europas teilweise mit Parkpaletten zu verstellen, die Empfangshallen mit
Ladengalerien zu verbauen oder sich gleich möglichst unauffällig in der Erde
zu verkriechen. „Auf dem Potsdamer Platz wird kein Bahnhofsgebäude zu sehen
sein“, verkündet die im Auftrag von Bahn und Land Berlin den Tiergartentunnel
bauende Projektgesellschaft über den dort entstehenden Regionalbahnhof.
Erst von einer fünf Meter hohen und 5.600 Quadratmeter großen
Fußgängerpasserelle im zweiten (!) Untergeschoß aus wird man dort durch
eine 31x67 Meter große Öffnung im Boden einen Blick auf die Bahn werfen
können.
Auch im neuen Lehrter Bahnhof halten die hochgeschwinden Paradezüge tief
im Keller für ein paar Minuten, um dann wieder aus der Station, von der die
Reisenden kaum einen erwähnenswerten Eindruck gewonnen haben dürften, wie
aus der Stadt herauszurauschen. Die Chance zur wahren Trendwende, die kaum
deutlicher hätte werden können als mit dem Neubau eines großen Bahnhofs im
wieder in seine Hauptstadtfunktionen eingesetzten Berlin, hat die Bahn
gründlich verpaßt. Die Verantwortlichen dort haben bis heute nicht
verstanden. daß vor allem Kopfbahnhöfe ein Erlebnis sind, das keine Autobahn
und kein Flughafen (wenn man einmal von Berlin-Tempelhof absieht) bieten
kann: Nicht nur grandiose Raumerlebnisse und Inszenierungen des Reisens,
sondern geradezu mythische Orte. Mit ein paar, auf den Anhalter Bahnhof
bezogenen Worten, hat Walter Benjamin in seinem Buch „Berliner Kindheit um
neunzehnhundert“ die Magie der Kopfbahnhöfe wohl definitiv beschrieben:
„Mutterhöhle der Eisenbahnen, wo die Lokomotiven zu Hause sein und die Züge
anhalten mußten.“ - Im Kopfbahnhof verschwinden alle Züge, hier präsentieren
sie sich, nebeneinander aufgereiht wie in einer Ausstellung und doch in
voller Funktion und rastlosem Betrieb, von hier aus machen sie sich auf den
Weg in die weite Welt. Im Kopfbahnhof endet die Strecke, dem Reisenden wird
damit vermittelt: Er ist am Ziel und die Stadt so wichtig, daß sie ihn
zwingen kann auszusteigen, ob er in ihr verweilen will oder nicht. Nostalgie
und Romantik, vor allem aber auch die zahllosen Szenen von dramatischen
Abschieden, freudigem Aufbruch oder glücklichem Empfang auf Bahnhöfen in
Büchern und Filmen spielen für die mythische Kraft großer Stationen eine
entscheidende Rolle. Ein Einkaufszentrum mit ein paar Bahnsteigen, an denen
Züge schnell mal halten, kann diese Gefühle niemals bedienen,
degradiert das Reisen zu einer profanen, nüchternen Angelegenheit. Und wir
sehen schon dem wahrscheinlich gar nicht mehr so fernen Tag entgegen, an
dem in irgendeinem Disneyland oder anderem Vergnügungspark ein
Fantasie-Kopfbahnhof entsteht, mit prachtvollem Empfangsgebäude und großer,
weiter, vor allem leerer Halle, in denen man das lebendige Schnaufen und
Zischen der alten und das mysteriöse Singen und Summen der neuen Loks erleben
kann. Vom Lehrter Bahnhof, dessen Nord-Süd-Bahnsteighalle im zweiten
Untergeschoß den Charme eines etwas groß geratenen 70er Jahre-U-Bahnhofs mit
angeschlossener „B-Ebene“ haben dürfte, und durch den („Hier Hauptbahnhof
der Bundeshauptstadt. beim Ein- und Aussteigen bitte beeilen“) die Züge
rauschen sollen, als handele es sich um eine nachrangige
Schnellbahnhaltestelle am Rande der Stadt, kann man dann innerhalb weniger
Stunden zum Superduper-Freizeitpark gelangen, um zu erfahren, welch
aufregendes sinnliches Erlebnis ein Bahnhof einmal war.
Der gegen Kopfbahnhöfe gerichtete Dogmatismus der Bahn erscheint noch
absurder, wenn man die in den letzten Jahrzehnten vollzogene technische
Entwicklung bedenkt: Das aufwendige Umsetzen der Lokomotiven, in den
fünfziger Jahren noch Alltag, ist längst Geschichte. Wendezug-und
Triebkopftechnik, auch und gerade bei den Hochgeschwindigkeitszügen, erlauben
ein Kehren (oder „Kopf machen“) in kürzester Zeit und ohne große Probleme.
Auch kann der Aufwand zum Betrieb zweier Radial- kaum größer sein als der
einer Durchmesserstrecken. Im Gegenteil zeigt sich schon bei der, verglichen
mit der Regionalbahn nur winzige Entfernungen überbrückenden Berliner U-Bahn
die hohe Störanfälligkeit übermäßig langer Linien. Und schließlich: Wer will
eigentlich durch Berlin hindurchfahren? Verkehr in der Innenstadt ist stets
zum größten Teil Ziel- und Quell-, nicht Durchgangsverkehr, jedenfalls nicht
auf die gesamte Fläche der Innenstadt bezogen betrachtet. Berlin bzw. dessen
Stadtkern nimmt in dieser Hinsicht eine zentrale Position für mindestens ganz
Brandenburg ein. So wenige Menschen von Köpenick nach Spandau oder von
Lichterfelde nach Oranienburg fahren, so wenige bewegen sich von Cottbus
nach Wittenberge oder von Frankfurt/Oder nach Brandenburg an der
Havel. Zielpunkt der Reise ist meist, als regionales Zentrum, Berlin selbst.
Aus all dem folgt, daß für ein überholtes Dogma in der Betriebsführung,
für vermutlich recht wenige Reisende, für die Erfüllung eines alten Traums
nun einige Milliarden Mark verbuddelt und womöglich der Tiergarten gefährdet
wird. Der Ausbau auch des Südrings und die Schaffung einer neuen großen
Kopfstation auf dem Areal des einstigen Potsdamer oder des Anhalter Bahnhofs
(vielleicht auch bereits am Landwehrkanal) hätten - bei nur unwesentlich
längeren Fahrtzeiten - weniger Geld gekostet, weniger ökologische Risiken
heraufbeschworen, den Reisenden mehr geboten und wären wahrscheinlich auch
für die Entwicklung des Berliner Stadtkerns sinnvoller gewesen: Mit der
Schaffung eines Zentralbahnhofes, wie es ihn in Berlin nie gab und in den
meisten von ihrer Größe her vergleichbaren Städten aus gutem Grund bis heute
nicht gibt, wird eine umfangreiche Umstrukturierung des bisher halbwegs
intakten „Kleine-Leute-Viertels“ Moabit heraufbeschworen; die ehemaligen
Standorte der größten. wichtigsten Bahnhöfe (zu denen der Lehrter auf
Grund der Zielkonkurrenz mit der Stadtbahn nicht gehörte) erfahren
dagegen keine Wiederbelebung.
Aber sind wir denn nicht froh, daß unsere Vorfahren mit der Stadtbahn
einen Schienenweg quer durch das Berliner Zentrum geschaffen haben? Und
ob. Doch die wesentliche Bedeutung der Stadtbahn, die auch durch ihre
kurvenreiche, mehr ökonomischen und stadtplanerischen denn verkehrlichen
Aspekten folgende Streckenführung nicht beeinträchtigt wird, ist jene
für den Lokalverkehr via S-Bahn. der bekanntlich auch die Feinverteilung
zwischen den verschiedenen Haltepunkten der Fernbahn auf der Stadtbahn und
in die entlegeneren Gebiete des Großraums Berlin übernehmen sollte. Schon
die Tatsache, daß die Stadtbahn mitsamt ihren Ausgangspunkten ursprünglich
fünf Fernbahnhöfe bot (und daß die zunächst für den Halt an der
Friedrichstraße vorgesehene Bezeichnung „Zentralbahnhof” verworfen
wurde) zeigt, daß diese Strecke von vornherein ganz anders konzipiert war
als die neue Nord-Süd-Trasse: ein gigantischer, in die Länge gezogener und
nachgerade auf mehrere Punkte aufgeteilter Hauptbahnhof gegen eine einzige,
monströse Station, in der sich am Ende womöglich der gesamte Verkehr bündelt.
(Nebenbei darf daran erinnert werden, daß die Grundidee der Stadtbahn
ursprünglich keineswegs auf der Schaffung von Durchmesserlinien im Fernverkehr
beruhte: Die von Osten kommenden Züge endeten vielmehr in Charlottenburg,
die von Westen kommenden im Schlesischen Bahnhof - auch hier findet sich
also bei näherer Betrachtung das alte Kopfbahnhofkonzept wieder.)
Ihren Höhepunkt erreichen die Absurditäten, die sich um den neuen
Zentralbahnhof ranken nämlich, wenn man sich anguckt, wie die dort für die
Zeit ab 2002 offiziell prognostizierten 200.000 (nach anderen Schätzungen
sogar 240.000) Reisenden pro Tag (davon 100.000 „Umsteigebewegungen“) hin-
und wieder weggebracht werden sollen: War die Stadtbahn wohlweislich von
vornherein als Kombination von Fern- und Nahverkehrsstrecken errichtet
worden, so sparte man bei der Nord- Süd-Tunnel- und Zentralbahnhofsplanung
die parallel zu bauende S-Bahnlinie („S21“) kurzerhand ein. Aus
unerfindlichen Gründen hat sich bei den Verantwortlichen die Vorstellung
verfestigt, daß schon in wenigen Jahren fast nur noch die Bewohner von
Friedrichshain, Lichtenberg, Hellersdorf und Marzahn die Bahn benutzen
werden. Anders ist es jedenfalls nicht zu erklären, daß zwar kein Geld für
die S21 vorhanden war, wohl aber für die U5, die jetzt schon, oft nur in
wenigen hundert Metern Entfernung, parallel zur S-Bahn verläuft und
beispielsweise deren Linie 5 dreimal berührt (daß aus der in Aussicht
gestellten Verlängerung der U5 Richtung Jungfernheide und Flughafen Tegel
jemals etwas wird, glaubt ja wohl niemand ernsthaft oder erinnert sich
niemand mehr an die seit fast hundert Jahren fest geplante Verlängerung
der U-Bahn von der Warschauer Brücke zum Frankfurter Tor, an die seit über
achtzig Jahre geplante Verlängerung von der Uhlandstraße nach Halensee oder
an die seit siebzig Jahren geplante Strecke vom Alex nach Weißensee?). Doch
selbst U5 und S5 reichen für die Bewältigung der gewaltigen Ströme
Reisewilliger aus den östlichen Bezirken in Zukunft offenbar nicht aus,
denn auch die Straßenbahn soll aus Richtung Invalidenstraße nur bis zum
Lehrter Bahnhof geführt werden - um dann wieder zurückzufahren nach
Friedrichshain, Hellersdorf, Marzahn. Die Anbindung des Zentralbahnhofs an
die westlichen Bezirke soll hingegen allein die Stadtbahn besorgen, die doch
aber angeblich schon in Kürze dermaßen überlastet sein wird, daß die U5
unverzichtbar ist. Und wer aus den nördlichen Vierteln Berlins den
hochmodernen Hochgeschwindigkeitsverkehr der neuen Bahn erreichen will,
dem dürfte sich dies ungefähr so darstellen: In Frohnau rein in die S-Bahn,
bis Friedrichstraße gefahren, mit den Koffern zur Stadtbahn hochgeklettert,
eine Station bis Lehrter Bahnhof, dort in den neuen Nord-Süd-Tunnel
wieder hinabsteigen.
Freilich könnte man auch schon am Gesundbrunnen in die Regionalbahn
wechseln, für die die dortige Station völlig neugebaut werden soll. Doch wie
schon im Falle des Lehrter Bahnhofs hat man auch für diesen neuen
Bahnhaltepunkt und jenen an der Papestraße, der noch stärker dazu beitragen
soll, daß der Lehrter eben nicht zum Zentralbahnhof wird, einen seltsamen
Standpunkt ausgesucht: Nur bezogen auf die Kreuzung mit anderen Strecken,
mit wenig Blick für das städtische Umfeld. Im Falle Gesundbrunnen handelt es
sich abermals um entweder strukturell bisher weitgehend unveränderte
Arbeiterviertel bzw. durch Kahlschlagsanierung entstandene fast
monofunktionale „Schlafsiedlungen“, im Falle Papestraße um etwas, das man
im Englischen mit „in the middle of nowhere“ sehr viel vornehmer beschreibt
als im Deutschen: einen Siedlungsbrei, der noch trostloser ist als die
Umgebung der jetzt noch „Hauptbahnhof” genannten Station.
Natürlich soll dank der Bahn diese Gegend ganz gewaltig „entwickelt“ werden,
mit Büros noch und noch und auch ein paar Wohnungen. Doch vielleicht werden
die neuen Bahnhöfen ja gar nicht gebaut. Die Finanznot der öffentlichen Hand,
mangelnde Möglichkeiten (oder mangelndes Geschick?) der Bahn bei der
Vermarktung der Flächen in den Bahnhöfe und um sie herum, ein andauerndes
Überangebot an Büroräumen und ein Ausbleiben der großspurig prognostizierten
Zuwachszahlen bei den Bahnfahrgästen (Prognose für 2010: rund fünfzig
Millionen im Fern-, 85 Millionen im Regionalverkehr) wie auch eine weniger
rosige Metropolenentwicklung Berlins, könnten die Pläne noch ganz zum Platzen
bringen. Das Abspecken hat schon begonnen, etwa bei den Planungen für die
Bahnhöfe Gesundbrunnen und Spandau. Auch scheint der Terminplan für Tunnel-
und Bahnhofsbau allen Dementis zum Trotz ins Rutschen geraten zu sein: Erst
war von einer Fertigstellung im Jahre 2000 die Rede, dann von 2002,
inzwischen geistert schon der Termin 2004 herum. Und wenn die Bahn, wie
gerüchteweise auch immer wieder zu hören ist, beispielsweise den ICE nur am
Lehrter Bahnhof halten ließe und nicht wenigstens auch in Papestraße, wäre
ersterer noch mehr zum wirklichen Zentralbahnhof geworden und die Bahnfahrt
dorthin würde sich von Süden aus ebenso umständlich gestalten wie es für die
nördlichen Bezirke beschrieben worden ist.
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Sehen wir zu schwarz? Mag sein, aber all die schönen, mit so großen Worten
und Prophezeiungen aus dem Boden gestampften Riesenprojekte früherer
Jahrzehnte - vom Steglitzer Kreisel über das Neue Kreuzberger Zentrum und
die Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße bis hin zur Neugestaltung von
Leipziger Straße und Alexanderplatz -, die dann mehr oder minder kläglich
gescheitert sind und heute als blasse Schatten dessen herumstehen, was sie
einmal sein sollten, haben eine gewisse Grundskepsis gegenüber derlei
wachsen lassen. Andererseits: Warum sollten künftige Generationen nicht
auch etwas haben, das sie über die absurden Vorstellungen und Pläne der
Vergangenheit den Kopf schütteln läßt?
Jan Gympel
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