International

Vernünftig mixen

Mobilität durch Fernbahn UND Fernbus sichern

Das Bundeskabinett hat am 3. August 2011 beschlossen, das Personenbeförderungsgesetz zu ändern und den Linienverkehr für Fernbusse künftig freizugeben, der seit 1931 in Deutschland verboten ist. Mit dem Verbot sollte das Monopol der staatlichen Eisenbahn im Fernverkehr gesichert werden. Nur die Fernbuslinien von West-Deutschland nach West-Berlin wurden davon später ausgenommen – und sind es auch heute noch –, weil die Zugverbindungen durch die von der DDR kontrollierte „Deutsche Reichsbahn“ betrieben wurden. Dass 80 Jahre nach Inkraftsetzung des Verbotes eine zeitgemäße Lösung gefunden werden muss, ist unbestritten. Der Teufel steckt aber im Detail.

Die Grünen unterstützen das Ziel, den Verkehr vom privaten Pkw auf den Fernbus zu verlagern. Gelingen kann das insbesondere dort, wo die Mobilität bisher nur durch das Auto gesichert ist. Das Angebot von Fernbussen darf aber nicht zu einer Reduzierung des Bahnangebotes führen. Wenn die Bahn z. B. auf die Sanierung der Strecke von Nürnberg nach Prag verzichten und auf die Alternative Fernbus verweisen würde, wäre das ökonomisch und ökologisch die falsche Entscheidung.

Geht es nur nach den Kosten, ist der Bus billiger, weil die Infrastruktur der Straße vom Steuerzahler übernommen wird, die der Schiene aber zu einem großen Teil vom Fahrgast bezahlt wird. Während Fernbusse von der Straßenmaut komplett befreit sind, muss jeder Zug in der EU auf jedem Streckenkilometer eine in der Höhe unbegrenzte Schienenmaut sowie Stationsentgelte für die Bahnhofsnutzung entrichten. Zusätzlich ist die Bahn über den Einkauf von Strom in den Emissionshandel eingebunden. Auf der Straße hingegen ist die Maut eine freiwillige Angelegenheit der EU-Staaten und in der Höhe begrenzt. In Deutschland etwa gilt sie nur für Lkw ab zwölf Tonnen und bisher nur auf Autobahnen. Dadurch wird die umweltfreundliche Schiene gravierend benachteiligt. Bei einem fairen Wettbewerb müssten Maut und Stationsentgelte für die Bahn aufgehoben werden oder gleichermaßen für die Busse gelten.

Der unfaire Wettbewerb wird letztendlich auf den Schultern der Fahrgäste ausgetragen. Der Komfort in Fernbussen ist geringer, die Reisezeiten sind länger. Zudem fehlt die Behindertengerechtigkeit. Diese ist in den Fernbussen etwa in den USA völlig selbstverständlich. Im Entwurf der Bundesregierung sucht man sie jedoch vergeblich. Nicht alle, aber die meisten Züge und viele Bahnhöfe sind demgegenüber in Deutschland behindertengerecht.

Ungleich sind auch die Fahrgastrechte. Die Kunden der Bahn bekommen im Fernverkehr bei Verspätungen von einer Stunde 25 Prozent, von zwei Stunden 50 Prozent des Fahrpreises erstattet. Busfahrgäste sind bis 250 Kilometer Fahrdistanz weitgehend rechtlos – dank der deutschen Bundesregierung, die im letzten Winter auf EU-Ebene verhindert hatte, dass im Fernbusverkehr dieselben Fahrgastrechte gelten wie bei der Bahn.

Auch die Fahrradmitnahme spielt im Gesetzentwurf keine Rolle. In allen Zügen der DB AG, mit Ausnahme des ICE, kann man das Fahrrad mitnehmen. In den USA haben fast alle Busse einen Gepäckträger an der Vorderfront für mindestens zwei Fahrräder. Demgegenüber wurde im Bundeskabinett über eine Regelung zur Fahrradmitnahme in den Fernbussen noch nicht einmal diskutiert.

Wir müssen den Klimawandel stoppen und Mobilität sichern. Das kann nur mit einem Mix der Verkehrsträger gelingen, wobei auch Fernbusse eine Rolle spielen können. Der vom Bundeskabinett vorgelegte Gesetzentwurf, dem Bundestag und Bundesrat noch zustimmen müssen, zementiert aber die unfairen Rahmenbedingungen und fördert statt eines notwendigen Umsteigens der Fahrgäste vom privaten Pkw auf den Fernbus eine Verlagerung von der umweltfreundlichen Eisenbahn zum Bus. Bleiben die Wettbewerbsverzerrungen zu Lasten der Schiene, muss die rot-grüne Mehrheit im Bundesrat dagegen stimmen.

Michael Cramer, MdEP
Verkehrspolitischer Sprecher der Fraktion Die Grünen/EFA im Europäischen Parlament

aus SIGNAL 4/2011 (Oktober 2011), Seite 23

 

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