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Grafik: Mathias Hiller |
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Beim Blick auf den Berlin-Brandenburger
Schnellbahn-Netzplan kommt einem nicht
gleich in den Sinn, dass der Ballungsraum
mit schienengebundenem Nahverkehr unterversorgt
sein könnte. Betrachtet man
jedoch die Bevölkerungsentwicklung und
das Angebot genauer, stellen sich in einigen
Bereichen gravierende Defizite heraus – mit
negativen Folgen für die Mobilität der Einwohner
und deren Umwelt.
Das SPNV-Angebot in der Region ist
zweigeteilt. Auf der einen Seite die Berliner
S-Bahn, deren Angebot überwiegend innerhalb
der Berliner Stadtgrenzen stattfindet
und die mit einer Beförderungsgeschwindigkeit
von 38,6 km/h (Mittelwert aller zur
Hauptverkehrszeit verkehrenden Zuggruppen)
eher für städtische Distanzen geeignet
ist. Auf der anderen Seite die schnelleren
Regionallinien, deren Schwerpunkt die Bedienung
eines riesigen Einzugsgebiets von
der Ostsee bis in die Lausitz ist und die daher,
sowohl was Takt als auch Verspätungsanfälligkeit
betrifft, keine gute Alternative
im Nahverkehr sind. Die Defizite treten an
der Nahtstelle – oder besser: in der Lücke –
zwischen diesen beiden Systemen auf: im
Berliner Umland.
Aufschlussreich:
der Sommerfahrplan 1939
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Fahrtenangebot 1939 auf Stammbahn und Wannseebanhn. Grafik: BI Stammbahn |
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Am deutlichsten wird dies im Korridor der
ehemaligen Stammbahn von Berlin nach
Potsdam, der ersten Preußischen Bahnstrecke.
Um zu erkennen, welches Potenzial der
Wiederaufbau dieser Strecke für Berlin und
Brandenburg bietet, lohnt ein Blick in den
Sommerfahrplan 1939.
Damals fuhren auf der Stammbahn von
dem am Potsdamer Platz gelegenen Potsdamer
Bahnhof dampfbetriebene Vorortzüge
mit Endbahnhof Werder und Zwischenhalten
in Zehlendorf, Kleinmachnow und vier
Halten in Potsdam. Sie benötigten für den
Abschnitt vom Potsdamer
Platz nach Zehlendorf gerade
einmal 12 Minuten,
bis Potsdam waren es 30
Minuten. Die Züge fuhren
in einem 30-Minuten-Grundtakt mit Verstärkungszügen
in der Hauptverkehrszeit, so dass in
der morgendlichen Spitzenstunde
von Wildpark (heute: Park Sanssouci)
ein 10-Minuten-Takt nach Berlin bestand. Darüber
hinaus fuhren in der Hauptverkehrszeit
elektrische Vorortzüge ab Wannsee, die in Zehlendorf
auf die Gleise der Stammbahn wechselten,
um ebenfalls ohne Halt in die Innenstadt zu fahren
(„Bankierszüge“).
Heute haben Werder und Potsdam zwar eine
schnelle Regionalzugverbindung zur Stadtbahn,
an der Mehrzahl der Haltestellen
reicht die Frequenz zur Hauptverkehrszeit
aber nicht an das frühere Niveau
heran. Eine Direktverbindung zum Potsdamer
Platz gibt es nicht mehr, entsprechend
hat sich die Reisezeit verlängert. Kleinmachnower
und Zehlendorfer sind heute auf die
Wannseebahn (S 1) angewiesen, deren Abschnitt
von Zehlendorf zum Potsdamer Platz
mit einer Beförderungsgeschwindigkeit von
32,5 km/h zu den langsamsten Strecken im
S-Bahn-Netz gehört; Grund ist der dichte
Haltestellenabstand. Inklusive der Zu- und
Abwege liegt die Tür-zu-Tür-Reisegeschwindigkeit
bei Nutzung der S-Bahn damit
schnell unter 20 km/h.
Mit dem Auto ist man trotz gelegentlicher
Staus schneller, besonders wenn – wie im
Korridor der Stammbahn – ein Abschnitt als
Stadtautobahn ausgebaut ist. Zum Vergleich:
Eine moderne Stammbahn mit allen ehemaligen
Halten und zusätzlichen in Steglitz
und Schöneberg würde zwischen Potsdamer
Platz und Zehlendorf eine Beförderungsgeschwindigkeit
von 65 km/h erreichen; vom
Potsdamer Platz bis Werder wären es 61 km/h.
Sie wäre damit auch in der Tür-zu-Tür-Reisegeschwindigkeit
vom Auto kaum zu schlagen.
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Grafik: BI Stammbahn |
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Die Vorortzüge der Stammbahn bedienten
1939 ein Einzugsgebiet von Zehlendorf bis
nach Werder häufiger als dies heute der Fall
ist. Und sie waren schneller, vor allem – aber
nicht nur – zu Zielen in der Nähe des Potsdamer
Platzes, bei dem es sich immerhin um
eines der wichtigsten Zentren im gesamten
Ballungsraum handelt. Eklatant ist die Situation
für Zehlendorf: Die Anzahl der Abfahrten
von Vorortzügen der Stamm- und Wannseebahn
in der morgendlichen Spitzenstunde ist
gegenüber 1939 um 70 Prozent von 21 auf
6 zurückgegangen, die Fahrzeit zum Potsdamer
Platz hat sich in etwa verdoppelt.
Einwohnerzuwachs führt zu mehr Verkehr
Gleichzeitig wuchs die Bevölkerung im Einzugsgebiet
der Stammbahn. Wohnten 1939 in
den Städten bzw. Gemeinden Werder, (Groß-)
Potsdam, Kleinmachnow und dem Bezirk
Zehlendorf 249 000 Menschen, waren es 2014
rund 310 000. Und die allgemeine Bevölkerungsentwicklung
lässt eine weitere deutliche
Zunahme der Einwohnerzahl im Berliner Umland,
aber auch in den Berliner Außenbezirken
erwarten. Allein für Potsdam werden in den
kommenden 15 Jahren 30 000 zusätzliche Einwohner
prognostiziert. Eine deutliche Zunahme
der Bevölkerung im Berliner Umland und
eine damit einhergehende Zunahme der Pendelbeziehungen
mit Berlin treffen also auf ein
drastisch zurückgefahrenes SPNV-Angebot.
Die Folge ist eine enorme Verkehrsbelastung
in den Orten entlang des Weges: in
Zehlendorf, Steglitz und Schöneberg, wo
die Bundesstraße 1 jeweils mitten durch das
Zentrum führt. Der motorisierte Individualverkehr
muss als Ersatz für das unzureichende
SPNV-Angebot herhalten. Die Stadt wird
dabei mit Durchgangsverkehr aus dem Verflechtungsraum
in Richtung Berliner Innenstadt
belastet, mit allen bekannten daraus
folgenden Problemen, z. B. der Überschreitung
der Grenzwerte für Luftschadstoffe, um
nur eines herauszugreifen. Wollen wir den
mit der Bevölkerung wachsenden Verkehr
stadt- und menschenverträglich abwickeln,
muss der Durchgangsverkehr auf die Schiene.
Dafür ist ein attraktives SPNV-Angebot
für Berlin und sein Umland erforderlich, das
schneller ist, als die S-Bahn, und mit einem
S-Bahn-ähnlichem Takt aufwartet.
Stadtbahn schon jetzt überlastet
Eine Verdichtung des heutigen schnellen Regionalzugangebots
von Potsdam über die
Wetzlarer Bahn zur Stadtbahn scheidet als
Lösung für den Südwesten aus. Zum einen
kann die Stadtbahn gar keine zusätzlichen
Züge aufnehmen (siehe SIGNAL 1/2014).
Zum anderen fahren die Züge auf der Wetzlarer
Bahn an wichtigen Siedlungs-, Arbeitsund
Einzelhandelsschwerpunkten vorbei,
die nicht zufällig vor allem entlang der ältesten
Bahnstrecke der Region gewachsen
sind. Die Reaktivierung dieser Bahnstrecke,
der Stammbahn, ist die einzige zukunftsweisende
Alternative. (Simon Heller)
Infos zur BI Stammbahn:
www.stammbahn.de
BI Stammbahn
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