Um diese wohl kurioseste (um nicht zu sagen chaotischste) Berliner
Schienenplanung zu verstehen, ist ein kurzer Rückblick geboten,
entnommen aus einer Stellungnahme des Tübinger Juristen Michael
Ronellenfitsch vom 6.12.94 für den Berliner Senat:
"Die - der Öffentlichkeit vorgestellte Planung der Verkehrsanlagen
im Zentralen Bereich von Berlin hatte ursprünglich auch eine neue
S-Bahn-Linie 21 zum Gegenstand. Aus finanziellen Erwägungen beschloß
der Senat von Berlin jedoch, auf den sofortigen Bau der 2l zu verzichten.
Der Senatsbeschluß vom 5. Oktober 1993 war allerdings noch von dem Wunsch
getragen, die Trasse, vorbehaltlich einer Prüfung der finanziellen
Auswirkungen, eine zu einem späteren Zeitpunkt zu bauende S-Bahn-Linie 21
freizuhalten.
Wegen der Weigerung des Bundes, sich an den hierbei entstehenden
Kosten in einer aus der Sicht des Landes als angemessen betrachteten
Weise zu beteiligen, beschloß der Senat dann aber am 30. November 1993,
auch keine Vorhaltungen für die Trasse einer S-Bahn-Linie von Yorckstraße
über Gleisdreieck, Potsdamer Platz, Bundesforum, Lehrter Bahnhof zum östlichen
Nordring (Bahnhof Wedding) - Arbeitstitel "S21" - zu treffen.
Die mit dem Beschluß vom 30. November 1993 eingetretene Beschlußlage ist
nicht eindeutig. Der Beschluß könnte als endgültiger Verzicht auf die
geplante S-Bahn-Linie 21 verstanden werden. Derart definitiv ist der
Beschluß aber nicht gefaßt. Abgesehen davon, daß sich im Beschluß
immerhin ein Hinweis auf die für die Realisierung der S-Bahn-Linie 2l ausreichende
Tiefenlage der geplanten U5 im Bereich des Brandenburger Tores findet,
hätte es nahe gelegen, die Öffentlichkeit darüber zu informieren, daß
ein gewiß nicht unerheblicher Teil der geplanten Verkehrsanlagen im
Zentralen Bereich aufgegeben wird. Dies ist aber nicht geschehen.
Der Beschluß vom 30. November 1993 läßt sich somit sinnvollerweise
nur als Bekräftigung der Entscheidung vom 5. Oktober 1993 verstehen,
die konkrete Planung der zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht weiterzubetreiben.
Folgerichtig wurde die S-Bahn-Linie 21 nicht mehr unter die Vorhaben
aufgenommen, die Gegenstand des am 28. April 1994 eingeleiteten
Planfeststellungsverfahrens für die Verkehrsanlagen im Zenralen Bereich
von Berlin im Planfeststellungsbereich... sind. lm Erläuterungsbericht
finden sich daher zur S-Bahn-Linie 21 nur wenige Ausssagen."
Anders ausgedrückt: Den Befürwortem der S21, hier der
Senatsverkehrsverwaltung, war es gelungen, zum einen am 30.1l.1994
einen ausreichend unpräzisen Senatsbeschluß gegen die S21 zu
formulieren und zum anderen durch wenige, scheinbar unbedeutende
Sätze die Trassenfreihaltung sogar in das
Planfeststellungsverfahrcn "einzuschmuggeln".
Einen weiteren Erfolg errangen die S21-Befürworter mit dem
Abgeordnetenhausbeschluß
zum Flächennutzungsplan vom 23.6.94, in dem es heißt: "Es ist zu überprüfen.
ob für eine zusätzliche S- bzw. Regionalbahnstrecke auf dem Abschnitt
zwischen Gleisdreieck und Lehrter Bahnhof eine Trasse freigehalten werden
kann." Gestützt auf diesen Beschluß und auf "wesentliche neue
Erkenntnisse" (Korrektur der Fahrgastprognosen für 2010 und zwingend
erforderliche Mehrleistungen zur Trassenfreihaltung südlich des
Potsdamer Platzes) unternahm die Senatsverkehrsverwaltung im
Herbst 1994 einen neuen Anlauf, um den
Senatsbeschluß vom 30.11.1993 zu revidieren. Dazu schreibt
Ronellenfitsch:
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Die Grafik im TAGESSPIEGEL vom 1.2.1995 zeigt die im Zentralen Bereich von Berlin geplanten S- und U-Bahn-Strecken S21, U5 und U3. Nachdem der Berliner Senat 1993 und 1994 gegen die S21 entschied, hat er nun 1995 doch eine Trassenfreihaltung beschlossen. |
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"Nach eingehender Aussprache [im Senat] wurde der Vorgang bis zur
Senatssitzung am 13. Dezember 1994 mit der Bitte zurückgestellt,
die möglichen Auswirkungen einer Trassenfreihaltung auf das
laufende Planfeststellungsverfahren durch einen externen Gutachter prüfen
zu lassen." Diesen Prüfauftrag erhielt dann Ronellenfitsch, der seine
Aufgabe so beschreibt: "Geprüft wird, ob die Trassenfreihaltung für eine
künftige S-Bahn-Linie 21 im Planfeststellungsbereich das laufende
Planfeststellungsverfahren für die Verkehrsanlagen im Zentralen Bereich
insbesondere in zeitlicher Hinsicht negativ beeinflußt."
Sein Ergebnis vom 6.12.94 entsprach den Hoffnungen des
Verkehrssenators: "Durch die vorgesehenen Maßnahmen zur Trassenfreihaltung
für eine S-Bahn-Linie 21 im Planfeststellungsbereich wird das laufende
Planfeststellungsverfahren für die Verkehrsanlagen im Zentralen Bereich
von Berlin in keiner Weise rechtlich negativ beeinflußt.
Verfahrensverzögerungen können ausgeschlossen werden. Die
Planrechtfertigung für die Gemeinschaftsvorhaben wird nicht
tangiert."
Einige Absätze zuvor schreibt Ronellenfitsch allerdings: "Die
Planrechtfertigung im laufenden Planfeststellungsverfahren geht davon
aus, daß auch ohne die S-Bahn-Linie 21 der vorhandene Verkehr bewältigt
werden kann. Die Begründung für die Trassenfreihaltung darf diese
Planrechtfertigung nicht in Frage stellen. Dies ist nicht der Fall
bei einer Begründung, die die geplanten Vorhaben als Minimallösung
zur Verkehrsbewältigung als ausreichend erklärt, aber gleichzeitig
zum Ausdruck bringt, daß sich der künftige Verkehr durch eine
S-Bahn-Linie 21 noch besser bewältigen lassen wird." Und weiter unten
heißt es: "Durch die Trassenfreihaltung als solche wird die
Planrechtfertigung für das laufende Planfeststellungsverfahren
folglich nicht gefährdet. Eine Gefährdung könnte allenfalls eintreten
durch eine unzutreffende ('dramatisierende') Begründung die
Trassenfreihaltung."
Genau diese "dramatisierende” Begründung wurde allerdings schon
bald für die S21-Befürworter erforderlich, um die Trassenfreihaltung im Senat
durchsetzen zu können. Denn trotz des Ronellenfitsch-Gutachtens
konnte Verkehrssenator Herwig Haase (CDU) sich in der Senatssitzung
am 13. Dezember nicht gegen Bausenator Wolfgang Nagel (SPD)
durchsetzen - der Senat lehnte die Trassenfreihaltung erneut ab.
Daraufhin wurde von den eine breite öffentliche Debatte initiiert,
in der Fachleute aus Politik, Verwaltung und Wirtschaft u.a. von
einer "katastrophalen Fehlentscheidung" (Berliner Morgenpost
vom 19.l2.94) sprachen.
Zwar verteidigte Bausenator Nagel seine Position hartnäckig und
zunehmend unsachlicher, so z.B. im Landespressedienst vom 16.1.95
(Bausenator bleibt dabei: S21 völlig überflüssig"), aber im Berliner
Parlament formierte sich eine parteiübergreifende Mehrheit gegen
den Senatsbeschluß. Als sich am 24. Januar selbst die SPD-Fraktion
gegen ihren Bausenator stellte und sich mehrheitlich für die
Trassenfreihaltung ausprach, war der Weg frei für eine große
parlamentarische Mehrheit
zugunsten der S21. Der Beschluß folgte schon am 26. Januar, ohne
die sonst übliche Vorab-Beratung in den zuständigen Ausschüssen
des Abgeordnetenhauses. Daraufhin mußte auch der Senat seine Entscheidung
vom 13. Dezember korrigieren, er tat dies bereits in seiner Sitzung
am 3l. Januar.
Das Ergebnis ist in der nun vierjährigen Amtszeit von Verkehrssenator
Haase sein erster nennenswerter Erfolg zugunsten eines ÖPNV-Projektes und
zulasten des Bausenators. Doch gebaut ist die S21 damit noch lange
nicht. Zwar müssen nun die Bauplanungen am Potsdamer Platz und
Lehrter Bahnhof korrigiert und Vorleistungen für die S21 erbracht
werden, aber in das Planfeststellungsverfahren für die Tunnel im
Zentralen Bereich wurde sie ja, um eine erneute Bürgerbeteiligung
zu umgehen, nur als Trassenfreihaltung aufgenommen, so daß vor dem
Bau der S21 ein neues Planfeststellungsverfahren erforderlich ist.
Hinzu kommt, daß die Trasse aus dem "Tunnelbündel" herausgenommen
wurde, so daß die jetzt zur Freihaltung vorgesehene Trasse
verkehrstechnisch schlechter und in der Realisierung teurer ist.
Nur wenn die Lage der S21-Trasse auf die alte Planung und die
S-Bahn auch realisiert wird, was durch Verzicht auf das überflüssige
Milliarden-Projekt der U5-Verlängerung möglich wäre, nur dann hätte sich der
Einsatz des Verkehrssenators und der vielen anderen für die S21
gelohnt. So aber ist zu fürchten, daß der Lehrter Zentralbahnhof,
wenn er denn kommen sollte, noch für lange Zeit von den meisten
Fahrgästen aus dem Norden und Süden Berlins nur auf Umwegen über
die Stadtbahn erreichbar ist. Das Kapitel S21 ist also noch lange
nicht abgeschlossen, das Poker-Spiel geht weiter.
IGEB
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