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In der im Januar abgeschlossenen Koalitionsvereinbarung von CDU und
SPD wurde festgelegt: "In dieser Legislaturperiode wird nur der
Tunnelstutzen zwischen Lehrter Bahnhof und Reichstag gebaut." Wer
diesen Sieg der Vernunft feiern will, sollte den nächsten Satz der
Koalitionsvereinbarung besser nicht lesen. Denn dort heißt es: "Die
eingesparten Mittel werden u.a. für den Ausbau der Straßenbahn
(ca. 150 Mio DM) und zum Teilausgleich des von Berlin zu finanzierenden
Defizits der BVG genutzt."
Eigentlich wollten wir die Berliner SPD ja loben. Endlich hatte sie sich
einmal in einer für den öffentlichen Nahverkehr wichtigen Frage zu dessen
Gunsten durchsetzen können. Schließlich stehen durch den Verzicht auf den
U5-Tunnel zwischen Alex und Brandenburger Tor immerhin rund eine Milliarde
DM zur Verfügung, mit der z.B. 20-mal mehr Straßenbahn- als U-Bahn-Kilometer
gebaut werden können. Auch wirtschaftliche Aspekte konnte die SPD anführen,
denn Straßenbahnbau ist arbeitsplatzintensiver und kann von klein- und
mittelständischen Firmen ausgeführt werden. Die Betriebskosten der Tram
sind hingegen weit geringer als bei der U-Bahn.
Doch das Lob blieb uns im Halse stecken, als wir den oben zitierten
zweiten Satz lasen. Um das besser zu verstehen, sei noch einmal daran
erinnert, wie sich die vom ehemaligen Verkehrssenator Herwig Haase für
die U5-Verlängerung geplante Milliarde zusammensetzte:
- 150 Mio DM aus den Geldern gemäß Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz
(GVFG) zuzüglich des Berliner Eigenanteils von 65 Mio DM und
- ca. 800 Mio DM aus den Berlin zustehenden Regionalisierungsmitteln,
die der Bund an die Länder zahlt, weil er seine Pflichten im S- und
Eisenbahnnahverkehr auf die Länder übertragen hat.
Schon die Entscheidung, 800 Mio DM aus den Regionalisierungsmitteln als
Verfügungsmasse zu betrachten, wirft Fragen auf. Deshalb hat der Berliner
Fahrgastverband mehrfach gefordert, der Senat möge offenlegen, wieviel
von den bisher für die U5-Verlängerung vorgesehenen Regionalisierungsgeldern
für die Aufrechterhaltung bzw. Einführung eines attraktiven S-Bahn- und
Regionalbahnverkehrs benötigt wird. Statt einer Antwort gab es mit der
Koalitionsvereinbarung nun eine Umverteilung der Mittel von der geplanten
U-Bahn-Investition weg und hin zum Betriebskostenzuschuß der BVG, zu
dessen Zahlung sich der Senat für einige Jahre vertraglich verpflichtet hat.
Der Erfolg der SPD besteht also darin, daß durch die Umverteilung von 800
Mio DM aus den Regionalisierungsmitteln nun beim Zuschuß an die BVG 800
Mio DM aus dem Berliner Landeshaushalt eingespart werden können, also
nicht mehr für ÖPNV-Investitionen bzw. attraktivere ÖPNV-Angebote zur
Verfügung stehen. Damit wird deutlich, daß die Koalitionsvereinbarung
nicht das Ergebnis verkehrspolitischer Vernunft, sondern finanzpolitischer
Not ist.
Zusätzlich relativiert wird der SPD-Erfolg durch die Vereinbarung,
nur ca. 150 Mio DM von den mit der U5-Zurückstellung eingesparten
Mitteln für die Straßenbahn auszugeben. Und wo sollen die als
GVFG-Landesanteil bereitzustellenden 65 Mio DM ausgegeben werden,
die, anders als die Regionalisierungsmittel, keinesfalls für den
Zuschußbedarf der BVG, sondern nur für ÖPNV-Investitionen verwendet
werden dürfen? Die Koalitionsvereinbarung enthält dazu keine Aussage.
Bei näherer Betrachtung wird deutlich, daß CDU und SPD zur U5-Verlängerung
eine aus der Not geborene und mit heißer Nadel gestrickte Vereinbarung
trafen, die man nicht als Verhandlungserfolg bezeichnen kann, es sei
denn mit "Gänsefüßchen".
Der Berliner Fahrgastverband IGEB hält deshalb an der Forderung fest,
die mit der U5-Zurückstellung gewonnene Milliarde unbedingt für
Zukunftsinvestitionen in den ÖPNV zu nutzen und nicht zur Finanzierung
des laufenden Zuschußbedarfs der BVG. Das Schwergewicht sollte dabei
auf den Ausbau des Straßenbahnnetzes gelegt werden, weil die BVG dadurch
einerseits vorhandene Fahrgäste schneller und kostengünstiger als bisher
befördern kann und andererseits neue Fahrgäste gewinnt.
Um das Geld im Straßenbahnbau aber auch ausgeben zu können, besteht
dringender Planungsbedarf, selbst dann, wenn nur ein Teil der U5-Milliarde
für die Tram zur Verfügung stehen sollte. Denn der Berliner Senat hat seit
Jahren Planfeststellungsverfahren für die Straßenbahn verzögert, während
man am Planungsrecht für die Verlängerungen der U2-Nord und U5-West stetig
gearbeitet hat, um so Sachzwänge für den U-Bahn-Bau zu schaffen. Wie schon
in früheren Jahren wird der Senat dann darauf verweisen, daß die jährliche
Ausgabe aller Gelder nur durch U-Bahn-Bau zu gewährleisten sei, weil der
planerische Vorlauf für die Straßenbahn fehle.
Dieser Sachzwang tritt tatsächlich ein, wenn nicht sofort die Planungen
für weitere Straßenbahnverlängerungen begonnen werden. Für die in
allernächster Zeit auszugebenden Finanzmittel gibt es dennoch genügend
sinnvolle Projekte, für die bereits ausgearbeitete Pläne in den Schubladen
der Senatsverwaltungen liegen, so daß der komplette Mittelfluß 1996 auch
ohne U-Bahn-Bau gewährleistet werden kann. Bei folgenden Projekten sind
die Planungen weit vorangeschritten bzw. abgeschlossen und ein Baubeginn
kurzfristig möglich:
1. Verlängerung der Straßenbahnlinien 23 und 24 zum
Eckernförder Platz
Für die 2,7 km lange Verlängerungsstrecke zwischen Louise-Schroeder-Platz
und Eckernförder Platz wurde noch bis vor kurzem die Inbetriebnahme für
1996 verkündet. Wegen Mittelknappheit wurde der Baubeginn verzögert,
obwohl der Planfeststellungsbeschluß vorliegt. Hier kann also sofort
begonnen werden.
2. Verlängerung der Straßenbahn zum S- und U-Bf Friedrichstraße
Für die Verlängerung der Straßenbahnstrecke von der Weidendammer
Brücke bis zur Dorotheenstraße einschließlich der Anbindung der
Endstelle Am Kupfergraben lagen die Pläne zum Plan feststellungsverfahren
bereits im Frühjahr 1995 öffentlich aus, aber erst Ende Januar 1996
fand die Anhörung zu den Einwendungen statt. Ein sachlicher Grund für
dieses überaus langwierige Verfahren für eine äußerst kurze und völlig
unproblematische Strecke ist nicht erkennbar.
3. Straßenbahnverlängerung zum Alexanderplatz
Für diese besonders dringende Verlängerung konnten im Vorfeld des
Planfeststellungsverfahrens bereits im Februar 1995 bei einer von der
Senatsbauverwaltung durchgeführten Erörterungsveranstaltung mit allen
beteiligten Institutionen die wesentlichen Fragen des Trassenverlaufs
einvernehmlich geklärt werden. Die Eröffnung des Planfeststellungsverfahrens
wurde seitdem allerdings immer wieder verschleppt und muß nun endlich
erfolgen. 1996 kann jedoch in jedem Fall mit bauvorbereitenden Maßnahmen
begonnen werden.
4. Vorrangschaltungen bei der Straßenbahn
Bis zu 50 Mio DM können auch in die Beschleunigung der Straßenbahn, z.B.
durch Vorrangschaltungen bei Ampeln, investiert werden. Dadurch könnte
der ÖPNV nicht nur wesentlich beschleunigt werden, sondern auch die Kosten
für den laufenden Betrieb würden erheblich reduziert werden. Als Faustregel
gilt: Je Vorrangschaltung werden bei den Betriebskosten pro Jahr 200.000 DM
eingespart.
5. Behindertengerechter Ausbau der U-Bahnhöfe
Für mehrere U-Bahnhöfe liegen fertige Pläne zum Einbau von Aufzügen
in den Schubladen oder können innerhalb weniger Monate abgeschlossen
werden. Hierfür können Mittelumschichtungen problemlos erfolgen.
6. Neue Zugänge zu U-Bahnhöfen
Fertig ausgearbeitet sind bereits die Pläne für einen direkten Zugang
vom Nordausgang des U9-Bahnsteiges am Bf Zoo zu den Fernbahnsteigen.
Dadurch würde eine nachhaltige Entlastung der viel zu engen
Fußgängerübergänge zwischen U- und S-Bahn erreicht. Im Zuge der für
1996 beabsichtigten Sanierung der U1-Hochbahnstrecke sollten darüber
hinaus die zur besseren Flächenerschließung sinnvollen zusätzlichen
Zugänge an den U-Bahnhöfen Prinzenstraße und Görlitzer Bahnhof
realisiert werden.
7. Bau des U-Bahnhofes Hafenplatz
Bei der Trassensanierung der U-Bahn-Linie 2 wurde zwischen den
Bahnhöfen Potsdamer Platz und Gleisdreieck auf Initiative der
Senatsverkehrsverwaltung der Bau eines U-Bahnhofes Hafenplatz
berücksichtigt, weil die geplante hohe Baudichte und das Umsteigen zum
Bus hier einen zusätzlichen Halt der Züge rechtfertigen
(vgl. SIGNAL 3/92 ). Im direkten Umfeld der künftigen Station werden
nun die ersten Bauten des neuen Stadtteiles zwischen Schöneberger Ufer
und Potsdamer Platz erstellt, so daß mit dem Bahnhof, dessen Pläne
bereits in den Schubladen liegen, eine wichtige Erschließungslücke
geschlossen werden könnte.
8. Fertigstellung der bereits eröffneten S-Bahn-Südring-Bahnhöfe
Als dem Berliner Senat 1993 das Geld für die Fertigstellung des Südringes
ausging, blieben viele S-Bahnhöfe in halbfertigem Zustand liegen.
Insbesondere fehlen an mehreren Bahnhöfen wichtige Zugänge, so daß
Fahrgäste unnötig lange Wege gehen müssen. Bekanntestes Beispiel ist der
begonnene und nicht vollendete S-Bahn-Zugang am ICC. Investitionen in die
Wiederinbetriebnahme stillgelegter S-Bahn-Strecken sollten demgegenüber
keinesfalls aus diesen Mitteln bezahlt werden, da die Bundesregierung
hier in der Pflicht ist, diese "Altlasten" aus anderen "Töpfen" zu
finanzieren.
Bauvorhaben ab 1997
Neben der Realisierung der vorgenannten Maßnahmen in 1996 muß sofort
mit den Planungen für Baumaßnahmen ab 1997 begonnen werden. Hierbei
muß die Straßenbahn Vorrang haben, weil mit der Ergänzung ihres Netzes
der mit Abstand größte Nutzen im Verhältnis zu den Investitionskosten
erzielbar ist.
Genauso wichtig wie die Westverlängerung der vielen Linien, die noch
immer dort enden, wo bis 1990 die Berliner Mauer stand, ist die
Direkterschließung der Ost-Berliner City (Alex, Friedrichstraße)
durch die Straßenbahn. Desweiteren sind die geplanten Neubaugebiete
anzuschließen und Netzoptimierungen im Ostteil durchzuführen.
Der Berliner Fahrgastverband IGEB schlägt daher ein Ausbaukonzept mit
ca. 90 km Straßenbahn-Neubaustrecken in zunächst zwei Dringlichkeitsstufen
vor, mit dem die Grundlagen für eine erhebliche Attraktivitätssteigerung
und Kostenreduzierung
des Berliner ÖPNV-Netzes gelegt werden können. Hierfür und für die
Sanierung des Netzes stehen neben den bis 2002 für die Tram
vorgesehenen 1,3 Mrd DM (einschließlich Streckensanierungen) auch
die U5-Gelder zur Verfügung.
1. Dringlichkeitsstufe (22,9 km)
- Louise-Schroeder-Platz - Eckernförder Platz
2,7 km
- Bf Friedrichstraße - Dorotheenstraße 0,5 km
- Mollstraße - Hans-Beimler-Straße - Alex - Karl-Liebknecht-Straße -
Hackescher Markt 1,6 km
- Prenzlauer Tor - Karl-Liebknecht-Straße -
Alex - Rathausstraße - Leipziger Straße - Potsdamer Platz 4,0 km
- Friedrichstraße (Leipziger Straße bis Dorotheenstraße) 0,9 km
- (Alex - Rathausstraße -) Französische Straße - (Bf)
Friedrichstraße (U5-Ersatz, 1. Etappe) 1,3 km
- Köpenick, Müggelheimer Straße 0,4 km
- Müggelheimer Damm - Salvador-Allende-Viertel - Müggelschlößchenweg 1,6 km
- Eberswalder Straße - Nordbahnhof 1,9 km
- Nord-Ost-Raum, 1. Etappe:
Heinersdorf Nord - Buchholz 5,0 km
- Johannisthal, Groß-Berliner-Damm 3,0 km
Auch 1. Dringlichkeitsstufe,
aber Trassenführungen z.T. noch zu klären
(11,7 km)
- Warschauer Straße - Hermannplatz 3,7 km
- Nord-Ost-Raum, 2. Etappe:
Rosenthaler Weg - S-Bf Blankenburg 8,0 km
2. Dringlichkeitsstufe (38,1 km)
- Bf Friedrichstraße - Reichstagsufer - Lehrter
Bf (U5-Ersatz, 2. Etappe) 1,5 km
- Invalidenstraße - Lehrter Bf - Alt-Moabit - Turmstraße - Bf
Jungfernheide (U5-Ersatz, 3. Etappe) 6,0 km
- Potsdamer Platz - Lützowstraße/Kurfürstenstraße - Zoo 3,1km
- Potsdamer Platz - Innsbrucker Platz 4,3 km
- Ostseestraße 1,3 km
- Landsberger Allee (Oderbruchstraße - Altenhofer Straße) 1,6 km
- Nord-Ost-Raum, 3. Etappe: Parkstadt 7,0 km
- Wollankstraße 1,8 km
- Adlershof - Altglienicke - Grünbergallee
5,0 km
- Stemdamm - Zwickauer Damm 3,0 km
- Rosenthal - Märkisches Viertel - Rathaus Reinickendorf 3,5 km
Auch 2. Dringlichkeitsstufe, aber Zeithorizont abhängig von
Realisierung des Entwicklungsgebietes (16,6 km)
- S-Bf Jungfernheide - Wasserstadt Oberhavel
16,6 km
- Insgesamt 89,3 km
So wäre innerhalb eines Jahrzehnts ein vorbildliches Straßenbahnnetz
mit großem verkehrlichem, umweit- und arbeitsmarktpolitischem Nutzen
bei relativ niedrigen Betriebskosten zu schaffen. Die 89,3 km
Netzerweiterung würden bei einem normalen Preisstand von 10 Mio DM je km
insgesamt ca. 900 Mio DM kosten. Zur Erinnerung: Für diesen Betrag
wären gerade einmal 2,5 km der U5-Verlängerung zu bauen.
IGEB
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