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In Berlin sind noch ein Fünftel der S-Bahnhöfe und sogar drei Fünftel der U-Bahnhöfe nicht barrierefrei erreichbar. Darauf wies Bündnis 90/Die Grünen 2006 mit einer Protestaktion an mehreren Bahnhöfen hin, hier am stark frequentierten S-Bahnhof Frankfurter Allee. Foto: Stephan von Dassel |
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Die schwarz-rote Bundesregierung will
4,3 Milliarden Euro für Verkehrswege und
1,4 Milliarden Euro für die Gebäudesanierung
ausgeben. Damit könnte eigentlich
auch die Opposition zufrieden sein. Lafontaine
fordert ein solches Programm schon
seit Jahren, die FDP als letzte Autofahrerpartei
in Europa freut sich über zusätzliche
Autobahnen. Und die Grünen? Sie erinnern
sich mit Wehmut, wie schwer es war, in harten
Koalitionsverhandlungen mit der SPD
eine Erhöhung der Gebäudesanierung von
300 auf 500 Millionen Euro durchzusetzen.
Sie müssen nun zur Kenntnis nehmen, dass
SPD und CDU sich sogar auf 1,4 Milliarden
geeinigt haben.
Die Frage ist jedoch, unter welchen
Bedingungen ein solches Programm zukunftsträchtig
ist. Denn wir befinden uns
nicht mehr in den 50er und 60er Jahren,
am Beginn der Automobilisierung in
Deutschland, mit stetig steigender Bevölkerungszahl
und immensen wirtschaftlichen
Wachstumsraten. Heute haben wir
einen Bevölkerungsrückgang, lässt sich die
Zahl der Autos kaum noch steigern, sind
die Probleme der Umwelt, der Energie
und die Beeinträchtigung der Lebensqualität
insbesondere in den Städten offensichtlich.
Ein Investitionsprogramm muss
– neben der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
– auch diese Schwierigkeiten und
Aufgaben lösen.
Bei den Verkehrsinvestitionen muss man
genau hinschauen. Der bloße Straßenbau
fördert, auch wenn viele das Gegenteil
behaupten, nicht den wirtschaftlichen
Aufschwung. Beim Autobahnbau – und
das gilt ebenso für Schienenwege durch
Tunnel oder über Brücken – ist der Arbeitsplatzeffekt
gering, denn der Neubau ist
kapital- und maschinenintensiv. Werden
Verkehrswege aber saniert, ist die Arbeitsplatzeffizienz
etwa viermal so hoch, profitiert
die mittelständische Wirtschaft der
Umgebung.
Mit dem Investitionsprogramm soll auch
die Verkehrsverlagerung von der Straße
auf die Schiene unterstützt werden. Aber
solange auch in Straßen investiert wird
– oft sogar parallel zu neuen Bahnstrecken
– wird sich nichts ändern.
Gerade angesichts der demographischen
Entwicklung in den Industriestaaten,
geprägt durch einen wachsenden Anteil
alter Menschen, müssen Alternativen zum
Auto gefördert werden. Denn Menschen
steigen mit zunehmendem Alter auf Bus
und Bahn um, weil sie sich im Auto zu unsicher
fühlen. In Deutschland sind nur 20 %
der Haushalte autofrei, die Rentnerhaushalte
aber zu 60 %.
Aber es genügt nicht, überhaupt öffentlichen
Verkehr anzubieten. Bahnen und Busse
müssen auch bestimmte Qualitätsstandards
bieten, denn von den Fahrgästen
sind etwa 30 % mobilitätsbehindert. Dazu
gehören neben Personen im Rollstuhl zum
Beispiel auch Eltern mit Kinderwagen und
kleinen Kindern.
Mütter wissen, wie lange es dauern kann,
mit zwei kleinen Kindern vom U-Bahnhof
zur Straße zu gelangen oder von einem
Bahnsteig zum anderen.
Vergessen dürfen wir auch nicht die vorübergehenden
Behinderungen,z. B. ein
Gipsbein nach einem Sportunfall. Denken
müssen wir auch an ältere Menschen, denen
das Treppensteigen schwer fällt und
denen die Benutzung der Rolltreppen
– wenn es überhaupt welche gibt – zu gefährlich
erscheint.
Eine behindertengerechte Ausstattung
des öffentlichen Lebens unterstützt die
Mobilität im Alter, bekämpft das kinderfeindliche
Image Deutschlands und schafft
Arbeitsplätze. Im Augsburger Hauptbahnhof,
ein Beispiel von vielen, sind weder
Rolltreppen noch öffentlich zugängliche
Aufzüge zu finden. Auch wenn auf Nachfrage
den Menschen im Rollstuhl geholfen
werden kann, trifft in dieser Stadt mit
275 000 Einwohnern die Klage zu: Behindert
ist man nicht, behindert wird man!
Bedacht werden muss auch, dass es
schon jetzt schwer ist, das Bestehende zu
erhalten. Wer die knappen Finanzmittel
heute für Neubauten aufwendet, trägt
dazu bei, dass Bestehendes morgen nicht
mehr erhalten werden kann, letztlich sogar
stillgelegt werden muss. Das gilt zum
Beispiel für Tausende von Brücken, die
in den nächsten Jahren erneuert werden
müssen.
Wird das Investitionsprogramm für die
Optimierung des bestehenden Gesamtsystems
und für die Behindertengerechtigkeit
verwendet, gehört die Diskriminierung
von Millionen in ihrer Mobilität
eingeschränkter Menschen bald der Vergangenheit
an. Das wäre nicht nur die angemessene
Antwort auf den demographischen
Wandel, sondern auch ein wesentlicher
Beitrag für 2007, dem Europäischen
Jahr der Antidiskriminierung. Michael Cramer, MdEP
Verkehrspolitischer Sprecher der Fraktion Grüne/EFA im Europäischen Parlament
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